Donnerstag, 27. Dezember 2007

Abenteuer in Angola

Angolanische Abenteuer
Die Geschichte eines jungen Auswanderers
Horst Reidl und Ingeborg von Schüz
Herausgegeben von Helwig Reidl
Eichendorffweg 6
58642 Iserlohn
Telefon 02374 4131
E-Mail: H. Reidl@Basis-Schulung.de
2007
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 3
Karl May war schuld 3
Das Bad im Atlantik 7
Der wälderfressende Zug 9
Erste Erkundungsgänge 13
Zweiter Tag 16
Dritter Tag 20
Die alten Afrikaner 24
Der Eierdieb 29
Ich werde Medizinmann 32
Gefährlicher stiller Ort 38
Der Überfall des roten Heers 41
Chipekwe 43
Panther und seine Frau 51
Ohani 60
Die Generalin im Busch 67
Ruinen im Busch 72
Kater Scipio 77
Batuk 80
Das Buschtelegramm 86
Wilde Bienen 88
Das zweite Grab 91
Der Zauber am Fluss 94
Ich fange von vorne an 98
Einleitung
Ein abenteuerlustiger junger Deutscher, der schon als Bub einmal ausgekniffen ist, um die unbekannten, fremden Länder seiner Bilderbücher selbst zu entdecken, geht 1938 nach Westafrika. Mit seinem Freund zusammen will er eine Pflanzung übernehmen. Beide haben keine Ahnung von dem schwarzen Erdteil. Deutschland war ja in dieser Zeit von der übrigen Welt durch den ersten Weltkrieg und darauf folgende wirtschaftliche und politische Krisen ziemlich abgeschlossen. Es war schwer in Europa die richtigen Begriffe von tropischen Ländern und was sie dem weißen Glücksritter für Möglichkeiten boten, zu bekommen.
Der junge Mann entdeckt bald, dass seine Vorstellungen, die er in das neue Leben mitgebracht hat, verkehrt sind. Er muss alle romantischen Illusionen über Bord werfen und nüchtern Tatsachen hinnehmen. Das zweite, was er nicht gewußt hat, lernt er langsamer und widerstrebend: Weder persönlicher Mut, noch Tatkraft und Genügsamkeit genügen, um „drüben“ etwas zu werden. Ein Pflanzer braucht ganz andere Tugenden, die der junge Mann nicht hat: Geduld, Zähigkeit, Ruhe, ja, ein gewisses Phlegma.
Auch im tiefsten, wildesten Busch ist der Pflanzer kein Held oder Glücksritter, sondern in erster Linie ein Gärtner. Langsam, langsam muss sich der Held Erfahrungen erwerben, Rückschläge verkraften, sich Schritt für Schritt hocharbeiten, sozusagen Kaffeestaude für Kaffeestaude.
Es ist wie auf dem europäischen Kontinent: langsam, geduldig und sicher kommt man hoch – keine einzige Heldentat lässt hier eine Kaffeestaude schneller wachsen. Sie braucht eben ihre Zeit. Die Weltpreise und der Weltmarkt sind ihr ganz egal. Auch der schwarze Arbeiter braucht seine Zeit. Keine Macht der Welt kann ihn zu europäischem Arbeitstempo zwingen. Hier gibt es keine Akkordarbeit und keinen Ehrgeiz. Mit allen Fährnissen und Widrigkeiten des Buschlebens würde unser junger Pflanzer leicht fertig werden, aber das Pflanzerphlegma lernt er nicht.
„Junger Mann, fahren sie nur gleich wieder heim! Was wollen sie in diesem komischen Land, wo man nichts gewinnen und nichts werden kann? Gold- und Diamantenminen sind in festen Händen. Es gibt nichts für sie hier. Drüben aber, im alten Europa, da können sie noch etwas werden.“ So empfangen ihn die alten Pflanzer. Ihre Freundschaft und ihr Humor helfen dem jungen Mann über vieles hinweg. Auch die kleinen Buschentdeckungen und -abenteuer helfen gegen seine Sorgen.
Eines jedoch kann er nicht erlernen, die Tatenlosigkeit und die Einsamkeit zu ertragen. Hier darf der weiße Mann nur anordnen, nicht zupacken, wenn es ihn noch so sehr in den Fingern kribbelt. Er kann den Aufschwung seiner Pflanzung nicht selbst beschleunigen. Einer allein ist nichts in diesem fremden Erdteil, er wird auf geschluckt. Gleicht er sich nicht an, wird er von ihm abgestoßen. Der Drang vorwärts zu kommen, der den jungen Pflanzer aus dem alten Leben heraus getrieben hat, wird ärger, je länger es dauert.
Ihn packt die Unrast, als zu Beginn alles mit der Pflanzung rückwärts geht, weil die Barmittel fehlen. Seine Nerven versagen und die Malariaanfälle werden immer häufiger. Dazu kommt die Regenzeit, die eine schwere Belastung für das junge Gemüt darstellt. Sie erzwingt von allen ein halbes Jahr Haus- und Hofarrest. Es belastet ihn, sich mit niemand aussprechen zu können. Die Freunde gestehen sich gegenseitig nicht ein, einen verhängnisvollen Fehler gemacht zu haben. Alle suchen nach einem Ausweg.
Karl May war schuld
Als ich ein kleiner Junge war, war es meine Lieblingsbeschäftigung, in einer Bodenkammer unseres Hauses hinter der Dachluke zu hocken. Da wiegte ich mich sacht hin und her und sah hinaus über den Fluss, zu den fernen Hügelketten. Das war meine Art, auf meinem Schiff über den Ozean zu fahren und durch das Bullauge ferne, unentdeckte Küsten zu sichten.
Eines Tages kam in diese Kammer eine Kiste mit ererbten, alten Büchern, die so zerfleddert waren, dass niemand sie haben wollte. Ich kramte in der Kiste. Zuerst interessierten mich nur die Bilder, bald las ich aber auch den Text, die Zeilen mit dem Finger nach fahrend, denn meine Lesekünste waren noch nicht groß. Diese Bücher wurden mein geheimer Schatz, denn sie erzählten von den Ländern, zu denen ich mit dem Traumschiff immer schon hin segeln wollte. Zu den heißen Zonen und den süßen Früchten, die auf den Bäumen wachsen und wo man auf Schritt und Tritt Krokodilen und Löwen begegnet.
Livingstone, Stanley, Schweinfurth, Nachtigal. Wer hätte nicht ihre Berichte verschlungen? Wer hätte nicht ihre atemberaubenden Abenteuer miterlebt? Welcher Junge hätte nicht davon geträumt, sich einmal selbst so durch den Urwald zu kämpfen – mit Buschmesser, Büchse und Tropenhelm – und gefährliche Jagden auf bekanntes und unbekanntes Großwild zu machen.
In unserem Garten stand eine breitschultrige, alte Linde. Dort hatte ich meinen heimlichen Sitz zum Schmökern aufgeschlagen. Wie ein Affe im Affenbrotbaum hockte ich da und verschlang die geliebten Bücher über tropische Länder. Später kamen solche über die Arktis, über Tibet, über Sibirien und anderen fernen Ländern hinzu. Ich war unersättlich, alles Fremde zog mich magisch an. Mein Lieblingsschriftsteller aber war Karl May. In seine Werke war ich so ein gesponnen, dass ich schließlich am Rio de la Plata heimischer war, als an der Elbe, wo unser Haus lag.
Es war nicht leicht, mit einem dicken Buch unter dem Arm ungesehen am Stamm der Linde emporzuklimmen. Um so mehr fühlte ich mich als Buschmann. Droben angekommen war ich in einer anderen Welt, unsichtbar, unerreichbar für die im Haus. Es dauerte nicht lang, da war das Leben in der Linde mein wirkliches, das im Haus und in der Schule aber ein Art Traumleben, in dem ich mich abwesend und rein mechanisch bewegte.
Alles was ich las, nahm ich für bare Münze, alt oder neu, farbige Dichterfantasien, korrekte Forscheraufzeichnungen, tropisches Jägerlatein oder wissenschaftliche Tier- und Rassenstudien. Zehnpfennigromane mit Sensationsberichten. Mir erschienen Goldsucherfabeln, Piratenstreiche, Dschungelgräuel, Opium- und Mädchen­schmuggel­geschichten am lebensechtesten, weil sie frischer geschrieben waren, als die trockenen Forscher­berichte. Für mich war alles Wahrheit. Allmählich entstand in meinem Kopf ein Knäuel toller Vorstellungen von der Welt, das nicht mehr zu entwirren war. Doch selbst wenn es mir gelungen wäre, zwischen Dichtung und Wirklichkeit des Geschriebenen zu unterscheiden, ich hätte einen wesentlichen Punkt immer noch nicht gewußt: Dass sich die Welt in den letzten Jahrzehnten rascher gedreht hatte. Dafür hatte der (erste) Weltkrieg gesorgt, der noch nicht lange überstanden war. Die Großtaten der Forscher jedoch stammten noch aus dem letzten Jahrhundert. Berichte aus dem zwanzigsten Jahrhundert waren rasch überholt, da Technik und Zivilisation nach dem Krieg mit Siebenmeilenstiefeln fort­geschritten waren. Jungfräulicher Boden war zum allergrößten Teil längst erschlossen. Die unwissenden Naturvölker hatten den weißen Mann nicht nur kennen, sondern auch misstrauen gelernt.
Ich wusste gut, dass mein Vater ganz andere Pläne mit mir hatte. Und meine Mutter war eben nur eine Frau und zu „zimperlich“, um meine männliche Abenteuerlust zu verstehen. Ich war inzwischen vierzehn Jahre alt geworden. Aus Träumereien war ein Vorsatz, aus dem Vorsatz der Entschluss entstanden und Wirklichkeit.
Eines Nachts kniff ich aus. Ich wollte die Weltumseglung vom Hamburger Hafen aus, als Schiffsjunge, beginnen. Ich wanderte zu Fuß immer nordwärts, klimperte mit dem Inhalt meiner Sparbüchse in der Tasche und dachte nur ab und zu an meine Eltern, die sicher ruhig schliefen. Wegen meiner Mutter hatte ich ein bisschen Gewissensbisse, meinem Vater aber gönnte ich es, mich nun mal kennen zu lernen. Er wollte mich Tiefbauingenieur studieren lassen, weil ich seine Bergwerke erben sollte. Unter der Erde, im schwarzen Schacht sollte ich meine Zukunft fristen! Der Tiefbau erschien mir als das Ödeste und Scheußlichste, was man aus seinem Leben machen kann. Unsere Bergwerke flößten mir immer einen Schauder ein, wie ein Gefängnis, das einem mit der Bemerkung gezeigt wird: „Da wirst du hin eingesperrt, wenn du groß bist.“
Mein Vater ging ganz in seinen Geschäften auf. Ich verstand wohl, dass er es mir nie vergeben würde, wenn er seine Lebensarbeit einem Fremden überlassen müsste, anstatt sie seinem Sohn zu übergeben. Ich hatte also allen Grund, in dunkler Nacht zu verschwinden.
Nach langem Marsch und gelegentlichen Fahrten mit verständnisvollen Lastkraftwagenfahrern kam ich in Hamburg an. Nun war ich am Tor der Welt und brauchte mir nur einen von den schaukelnden Riesen auszusuchen, die im Hafen vertäut lagen. Das tat ich auch. Ich genierte mich auch gar nicht, bei jedem Schiff anzufragen, das die Laufplanke gerade unten hatte. Es war schwer, bis zum Steuermann oder gar Kapitän vorzudringen, aber man verhandelte gar nicht unsachlich mit mir, man war anscheinend abenteuerlustige Jungens gewöhnt, die sich auf diese Weise durchschlagen wollten. Vor dem Spott der Seebären hatte mir am meisten gebangt, denn in meinen Büchern spielte er eine ziemliche Rolle und ich war nicht wenig stolz, dass sie mich gar nicht so komisch fanden.
Endlich gelang es mir auch, einen Kapitän zu finden, der mich als Schiffsjungen an heuerte. Es war ein Spanienfahrer, ein schwerfälliger, schwärzlicher alter Kahn, der mir beinahe wie ein Piratenschiff erschien.
Am anderen Morgen sollten wir auslaufen. In einem Nebel von Stolz und Lampenfieber strolchte ich in Sankt Pauli herum, um das nötigste einzukaufen.
Da griff das Schicksal mit langem Arme ein, in Gestalt der Polizei, die von meinen Eltern alarmiert worden war. Man brachte mich kurzer Hand mit dem nächsten Zug nach Hause.
Beschämt und wütend kam ich wieder bei meiner alten Linde an, der ich so vergnügt Lebewohl gesagt hatte.
Mein Vater sagte nichts. Er sagte eine ganze Woche lang nichts und das war bei ihm das Allerschlimmste. Alle meine geliebten Bücher verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Ich musste wieder die Schulbank drücken und bei Indianer spielen und anderem kindischen Unsinn mitmachen. Aber das ging nicht lange gut. Ich hatte Blut geleckt, hatte die Sirene der ausfahrenden Ozeandampfer gehört und die Flüche der Matrosen in allen Sprachen der fünf Erdteile. Und den Geruch nach Tang, Teer und Fischen hatte ich immer in der Nase. Ich passte einfach nicht mehr ins Nest, nachdem ich es einmal verlassen hatte.
Es gab einen langen, schlimmen Kampf mit meinem Vater, der damit endete, dass er mir erklärte, ich könne machen was ich wolle. Aber sein Geldbeutel sei mir verschlossen. Er glaubte, dass der harte Zusammenstoß mit dem wirklichen Leben mich zur Vernunft bringen würde, aber ich kam nicht zur Vernunft. Ich verfolgte mein Ziel weiter, fasste die Sache nur anders an: ich ging zum Film.
Ich wollte Expeditionsfilme in unerforschten Ländern machen. Ich hatte inzwischen begriffen, dass vom kleinen Schiffsjungen zum großen Forschungsreisenden eine fast unerklimmbar lange Leiter führt. Ich wusste nun etwas von der Macht des Geldes. Da ich von meinem Vater keines erwarten konnte, musste ich dafür sorgen, dass mein großes Unternehmen vom Staat, oder anderen kapitalkräftigen Organisationen finanziert wurde.
Ich wusste wohl, dass man solche Aufträge nur sehr schwer bekommt, aber ich verließ mich auf meinen guten Stern. Wenn ich ein Ziel vor Augen hatte, bin ich auch immer mit großer Zähigkeit ans Werk gegangen. Ich kniete mich also in die Arbeit hinein. Auf ein bisschen Hungern und Frieren kam es mir nicht an, das tut der Forschungsreisende auch.
Ich lernte nicht nur alles, was zum Foto- und Filmberuf gehört. An den Abenden beschäftigte ich mich mit Geographie. Von all dem wusste ich bislang nichts. Auch Geschichte und Völkerkunde, sogar Kunstgeschichte und Architektur gehörten dazu. Unsere Berichterstattung heute, mit Radio und Film verschaffte uns ein rasches und lebendiges Bild von der Welt draußen. Damals war die Berichterstattung viel langsamer und durch politische und wirtschaftliche Wirren im Land sehr gehemmt.
Nach etwa zehn Jahren war ich so weit, dass ich glaubte einen guten Eindruck bei jedem Professor, der Forschungen unternehmen wollte, machen zu können. Ich ging nach Berlin, um die Fäden zu knüpfen, die man für solche Unternehmungen braucht. Freunde, die ähnliche Interessen hatten und sich für meine Projekt begeisterten, fand ich genug, es waren Künstler, Studenten und angehende Gelehrte. Aber Geldgeber waren es nicht.
Es war eine schlechte Zeit, um eine solche große Chance zu finden. Wo man hin kam, wurde von Geldnöten, politischen Wirren, Arbeitslosigkeit, Notverordnung und Wirtschaftskrise gesprochen. Die Kulturfilme von fremden Ländern, die man sehen konnte, waren von ausländischen Unternehmungen gemacht. Deutschland war das schlechteste Sprungbrett in die Welt, es war ein verschuldetes, verkrachtes Land, das in der Völkerfamilie kaum zählte.
Alles, was ich versuchte schlug fehl. Ich musste für eine Filmfirma arbeiten, denn das Warten in der Großstadt war kostspielig. Alles, was mir glückte, waren kleine Urlaubsreisen in benachbarte Länder, die mich nur noch gieriger auf die wirklich große Welt machten.
Dann kam ich in das trostlose Häusermeer Berlin zurück, in mein Zimmerherrndasein im Hinterhaus und lief jeden Morgen im letzten Moment zur Untergrundbahn, deren Schacht mich immer an unser Bergwerk daheim erinnerte. Alles war so eng, trübselig, ohne Großartigkeit und ohne Abenteuer. Es war, als ob man, bei allem was man in diesem engen Land unternahm, gegen eine Bretterwand renne.
Aber dann kam doch der Tag, als das Telefon für mich schrillte. Ich saß gerade bei Bückling und Schwarzbrot in meinem finsteren Berliner Zimmer und sah in den Hinterhof hinab. Mein Freund, ein Maler an der Akademie, genannt Nickel, rief an: „Hast Du Lust mit nach Angola zu gehen, Kaffeepflanzen und den Busch entdecken? Das ist da gleich unterm Äquator!“
Ich war zu fassungslos, um etwas Vernünftiges zu sagen. „Angola ist eine portugiesische Kolonie an der Westafrikanischen Küste.“, fuhr er in dozierendem Ton fort, „Es liegt zwischen dem fünften und achtzehnten Breitengrad, zwischen dem Kongo und dem Okawangofluss. Es ist dreimal so groß wie Deutschland, Ausfuhrland für Wachs und Gummi, hat überaus reiche Bodenschätze, die fast gar nicht ausgebeutet sind...“ „So lass mich doch mal zu Worte kommen,“ sagte ich, „liest du eigentlich aus dem Lexikon vor und meinst du es überhaupt im Ernst?“
„Blutiger Ernst. Ein deutscher Pflanzer, der nach Europa zurück will, bietet mir eben an, seine Pflanzung zu übernehmen. Du weißt doch, dass ich schon lange raus möchte. Dass meine Angolaweisheit aus dem Lexikon stammt, stimmt auch, denn woher sollte ich über das komische Land etwas wissen? Weißt Du vielleicht was?“ „Nee - aber ich gehe mit.“ „Das wusste ich! Komm gleich rüber.“
Außer einem langwierigen Papierkrieg stand unserem Auswandererplan nichts entgegen. Nickel fuhr mit seiner Frau voraus, ich musste noch fast ein halbes Jahr warten, bis ich den Kampf mit der Bürokratie ausgefochten hatte. Ich hatte also lange genug Zeit, mich auf das neue Leben vorzu­bereiten. Ich ließ mir eine Tropenausrüstung schneidern und fragte überall herum, um etwas über meine neue Heimat zu erfahren. Ich war ganz zufrieden mit dem, was ich hörte. Die meisten Pflanzer in Angola lebten von Kaffee- und Sisalanbau. Etwa vierhundert Deutsche, meist Pflanzer, wären im Lande verstreut. Das Land wäre dünn besiedelt, zum Teil Urwald, zum Teil Busch und hätte eine neue Eisenbahn. Das Klima sei im Hochland gesünder als an der Küste und in den Niederungen. Das war schon sehr viel, denn diese Hochebene war es, auf der wir ein Kreuz auf die Landkarte gezeichnet hatten, da lag, im entlegensten Busch, unsere Pflanzung.
In meiner Fantasie sah ich mich eine gewaltige Plantage aus dem Boden stampfen, hunderte von Afrikanern beschäftigen und Wagenladungen voll Kaffee exportieren. Nach der Ernte würde ich mit der Kamera Entdeckungsreisen durch den Urwald, die Flüsse hinauf und hinab, machen. Meine sensationellen Aufnahmen würden in der Weltpresse begehrt sein, ich würde rasch eine Namen haben und Aufträge für Expeditionsfilme bekommen. Wenn das Eine oder das Andere nicht gut in Schwung käme, hätte ich immer noch die Möglichkeit, Kupfer, Gold oder Diamanten zu schürfen.
Wagemut hatte ich ja genug, was sonst brauchte man in einem Land voll ungehobener Schätze? Ein bisschen Geld hatte ich gespart, Nickel hatte auch etwas. Die Erfahrungen würden wir schon sammeln. Nickel, der Maler, hatte mir, dem Filmmann nichts voraus. An Ahnungslosigkeit über den Pflanzerberuf hielten wir uns die Waage. Aber wir waren beide voller Begeisterung für das große Abenteuer. Um die Existenz, die wir hier aufgaben, war es uns beiden nicht weiter leid.
Endlich war es auch für mich so weit. Meine Kisten waren expediert, die Schiffskarte knisterte in meiner Tasche, alle zehn Minuten sah ich auf meine Tropenarmbanduhr, die ich in einem Spezialgeschäft gekauft hatte.
Plötzlich, auf dem Bahnsteig, als ich auf die Abfahrt meines Zuges wartete, überlief es mich kalt. Ist das alles auch Wirklichkeit? Sitze ich nicht in der Linde, wende bedruckte Seiten um und spinne mein Garn? So lange war die afrikanische Wirklichkeit, von der mich nun nur noch siebzehn Tage Seefahrt trennten, Gegenstand meines Sinnens und Trachtens gewesen, dass ich nun kaum daran glauben konnte.
Eine Weile war mir ganz mulmig zu Mute, wie jemanden, der auf schwankendem Sumpfboden steht und nicht weiß, wohin den nächsten Fuß setzen. Um keinen Preis hätte ich dieses Gefühl zugegeben.
Das Bad im Atlantik
Als ich in Antwerpen an Bord ging kam mir der Stolz zu Hilfe, meine Unruhe zu verdecken. Gelassen, wie es sich für einen Weltreisenden gehört, lehnte ich an der Reling des Promenaden­decks und sah den Abschiedsszenen ringsum zu, wie einer, der so was schon oft genug erlebt hat. Ich hielt es für unwürdig, für einen künftigen Urwaldbeherrscher, Abschiedswehmut zu zeigen. Es fiel mir auch nicht allzu schwer, weil niemand am Kai stand, von dem ich hätte Abschied nehmen müssen. Niemand, der mir ein vorletztes, ein letztes und ein allerletztes Mal mit feuchtem Auge zugewunken hätte. So hielt ich mich gut und sah die europäische Küste mit kühler Fassung schwinden. Jedenfalls glaubte ich, diesen Eindruck auf meine Mitreisenden zu machen.
Die „Elisabethville“, mit der ich fuhr, war ein eleganter Passagier­dampfer der belgischen Kongo­linie. Sie war bereits ein Stück schwimmendes, fremdes Land für mich. Ich verstand fast gar nichts von dem, was die anderen Passagiere redeten. Ein deutsches Wort war nicht darunter. Mein Schulfranzösisch, ja selbst das in der Schweiz aufgesammelte, lies mich völlig im Stich. Das Portu­giesisch, das ich schwarz auf weiß in meiner Hosentasche, in Gestalt eines Wörter­buches in Streich­holz­schachtelgröße bei mir trug, hatte ich noch nie gesprochen gehört. Aber das vergnügliche Bord­leben, das sich nun ent­wickelte, gab mir meine kurzzeitig geschwundene Balance wieder zurück. Ich jonglierte bald mit aufgeschnappten Brocken aller Weltsprachen, verwendete sie zum Teil an passender, zum Teil an nicht passender Stelle wieder. Decktennis, Fünfuhrtanz, Ping Pong und Shuffleboard gehen auch ohne Vokabeln. Ich war immer mitten drin. Ich lernte allerlei Nützliches. Zum Beispiel lernte ich, dass der Mann von Welt zum schneeweißen Dinnerjacket eine schwarze, beileibe keine weiße Kravattenschleife trägt. Dass er jeden Abend seine Leinenhosen zum Bügeln vor die Kabinentür hängt und dass er den Whisky beinahe pur trinkt.
Ich bekämpfte die Seekrankheit erfolgreich, in dem ich stets die ganze Speisekarte ab aß, die ungeheuer üppig war. Ich hatte unter den Stewards meine Freunde, die an meinem unangefochtenem Appetit Spaß hatten und mir noch von dem zukommen ließen, was die Seekranken nicht einmal sehen konnten. Am Äquator wurde ich mit allen Zeremonien von Neptun mit Seewasser getauft. In vorgerückter Stunde lege ich beide Beine auf den nächsten Stuhl, wie einer, der bereits ums Kap der Guten Hoffnung gesegelt ist. So sehr fühlte ich mich als alter Seebär.
Nach verschiedenen schmerzhaften Schälungen wurde ich endlich braun. Nun konnte ich mich auf dem Sonnendeck satt und faul auf dem Liegestuhl räkeln und dabei die Stewards bewundern, wie sie mit den Bargetränken zwischen den vielen ausgestreckten Beinen herum balancierten, konnte mich an den Haifischen erfreuen, deren dreieckige Finnen wie kleine Segel auf den Wellen des Atlantik trieben. Ab und zu schoss der Hai wie ein Torpedo seiner Beute nach setzend in scharfem Schwung davon. Ich erinnere mich des Fröstelns, das mir über den Rücken lief, als ich in der Lindenkrone von einem Schwimmer las, dem ein Hai das Bein glatt abbiss und an den armen Schiffsjungen, der bei der Äquatortaufe, beim Kielholen, unter dem Schiff durchgezogen wurde und dem Hai zum Opfer fiel. Gut, dass die Sitte der Äquatortaufe in diesem Jahrhundert nicht mehr Mode ist. Als Gast eines modernen Dampfers war ich über die Furcht vor Haien erhaben. Schließlich langweilten sie mich und ich sah lieber in mein portugiesisches Wörterbuch, das mir wichtiger erschien.
Nach der Landung in Lobito, dem einzigen großen Hafen Angolas, ging ich über die weichen Läufer des eleganten Hafenhotels „Wagonlit“. Dabei hatte ich noch immer das wohlige Gefühl, geborgen zu sein im Schoße der Zivilisation. Es war eigentlich wie in Europa, nur war die Zivilisation in diesem Land ungeheuer kostspielig. Ich rechnete diese Ausgabe aber unter „unumgängliche Reisespesen“ ab und machte mir keine Gedanken darüber. Ich war von der Atmosphäre auf dem internationalen Dampfer angesteckt. Ich hatte ja so viel Neues gelernt. Es war zwar nichts dabei, was mir im Busch nützen könnte und auch hier sah es nicht so aus, als ob ich etwas dergleichen erfahren würde. Ich hatte ganz einfach den Eindruck, dass der schwarze Erdteil gar nicht so schwarz sei, wie man drüben meine. Rings umher war ja alles blank und weiß poliert.
Außer diesem modernen Hotel, das einen großen Komplex einnahm, gab es noch ein paar Villen mit Palmengärten und Tennisplätzen, nicht anders als in Südeuropa. Auf einer in die See ragenden Landzunge lag eine Reihe blendend weißer, langer Gebäude, Lagerschuppen, Zollhäuser und Behördenstellen, die das harte Sonnenlicht besonders sauber erscheinen lies. Der Kai war frisch und ordentlich gemauert, mit modernen Verladeeinrichtungen. Nein, fremdartig und afrikanisch sah es eigentlich nicht aus.
Die Sonne aber schien doch afrikanisch heiß, deshalb beschloss ich, mich durch ein Bad im Atlantik abzukühlen, als ich kaum zwei Stunden auf dem schwarzen Erdteil stand. Ich wurde zwar gewarnt, es sei nicht üblich zu baden, so lange die Sonne hoch stünde. Aber warum sollte ich tun was üblich war? Das hätte ich auch zu Hause tun können! Ich setzte meinen Tropenhelm auf, zog die zweite, hellgraue Garnitur an, die mir passender für das neue Leben erschien, als die weiße, die ich an Bord getragen hatte. Dann nahm ich meinen Bademantel über. Nun war keine Gefahr, geschält hatte ich mich ja ohnedies genug. In meinen weißen Tennisschuhen wandelte ich aus dem dämmrigen Hotel hinaus, über blendenden Sand, der eine solche Hitze ausbrütete, dass ich sie durch die Schuhsohlen spürte. Am Wasser angelangt band ich das Kinnband meines Korkhutes noch sicherheitshalber fest, dann stieg ich ins Wasser. Kaum war ich einige Stöße hinaus geschwommen, als eine mächtige Welle mich mitsamt dem Hut untertauchte. Trotz seiner Korkseele musste der Hut mit hinab. Er hat sich von diesem ersten Bad nie mehr ganz erholt. Ebenso meine Spezialtropenuhr, die an diesem Tag für immer stehen blieb. Trotz der starken Brandung kam ich endlich vom Ufer los. Draußen ging es dann besser, wenn nur der dumme Hut, weich und schlapp herunter hängend, mich nicht am Sehen gehindert hätte!
Nach einer Weile wendete ich mich steifhalsig zum Strand zurück. Da sah ich, dass jemand aus dem Hotel gelaufen war, aufgeregt mit den Armen ruderte und mir etwas zu schrie. Ich sah es nur an dem kreisrunden Loch, das sein Mund dabei bildete, denn die Brandung verschluckte die Töne. Das konnte ihnen so passen, mir hier Vorschriften zu machen und Verbote zuzuschreien. Ich werde doch nicht so dusselig sein und gehorchen wie im preußischen Berlin! Ich war entschlossen, in Afrika zu tun und zu lassen was mir passte. Ich schwamm in langen Stößen weit hinaus, ohne den Schreier noch eines Blicks zu würdigen.
Die Wellen trugen mich wie auf breiten Armen, mir war ganz wohl zumute. Man konnte sich sanft wiegen und treiben lassen. Ich blinzelte faul gegen das im Wasser sich spiegelnde Sonnenlicht. Da kam etwas Dreieckiges in mein Blickfeld. Es sah aus wie ein kleines, graues Segel und war doch keines! Instinktiv warf ich mich herum, ehe noch die Augen zum Gehirn telegrafiert hatten. Ich schwamm, das unheimliche Ding im Rücken, immer klarer die Gefahr begreifend, mit allen Kräften zum Ufer hin. Die zurück laufenden Brandungswellen halfen mir. Nun bedurfte es keiner Warnungsrufe vom Strand her. Die Todesangst spornte mich genügend an. Wenn der Haifisch nicht gerade gedöst hätte, wäre ich sicher verloren gewesen. Er hatte mich wohl nicht erwartet, weil sogar den Haien bekannt ist, dass kein Hotelgast außerhalb des Hafens im Freien badet.
Als ich keuchend ans Ufer kam tat ich den ersten stillen Schwur auf dem neuen Kontinent: immer auf die Einheimischen zu hören! Dieser Schwur war gut. Aber ich sollte bald erfahren, dass meist niemand da ist, der einen vor Haien aller Arten warnt. Man muss selber aufpassen und gut überlegen. Vor allem aber, immer vorsichtig sein. Wagemut ist mehr für Bilderbücher als für die afrikanische Wirklichkeit.
Als ich in meinem kühlen Zimmer auf dem sanft duftenden, weißen Bettleinen lag, war mir schon wieder wohler. Immerhin hatte ich nun meine erste praktische Erfahrung weg und das angolanische Abenteuer konnte beginnen. Liebevoll sah ich meine kaputte Uhr und den mitgenommenen Tropenhelm an. Sie waren die Zeugen der ersten wirklichen Gefahr im neuen Leben. Nun fand ich, dass dies Afrika dem Afrika das ich aus meinen romantischen Büchern kannte, doch ähnlich sah. Dies erste Abenteuer war jedenfalls ganz in ihrem Stil. Sollte es so weitergehen? Mir sollte es recht sein.
Der wälderfressende Zug
In Lobito beginnt und endet die einzige Bahnstrecke der Kolonie, die das Land in seiner ganzen Breite durchquert und es mit dem „belgischen Kongo“ verbindet. Eigentlich aber verhält es sich so: vom Kongo, vom Kupfergebiet Haute Katanga, musste eine Bahn zum nächsten brauchbaren Hafen gebaut werden, um einen Weg durchs Land nach Europa zu schaffen. Dieser Hafen war zufällig Lobito, so musste eben Angola eine Eisenbahnlinie bekommen. Diesem glücklichen Zufall verdankt das angolanische Hochland die Möglichkeit, etwas stärker zu siedeln. Quer durch Angola mit dem Auto zu reisen, sei es mit einem unverwüstlichem Ford, gehört zu den halsbrecherischsten Unternehmungen die man lieber bleiben lässt. Ab und zu ist zwar mal eine Straßenstrecke ganz gut gehalten, aber nur ab und zu. Vor allem in der Regenzeit sind von den Wassermassen weggerissene Brücken, völlig verschlammte Straßenstrecken, Risse und Spalten wie auf einem Gletscher an der Tagesordnung.
Angola kann sich über die Kongobahnlinie freuen, denn vor gar nicht langer Zeit, alle älteren Leute im Lande erzählen noch davon, verkehrten hier weder Eisenbahn noch Lastwagen. Da war es der Ochsenwagen und vor allem die Trägerkolonne, die dem weißen Manne eine Fortbewegungs­möglichkeit bot.
Das war damals, zur Zeit der großen Gummigeschäfte. In wochenlangen, abenteuerlichen Märschen musste der Weg ins Innere des Landes erobert werden.
Heute aber kauft man sich eine Fahrkarte erster, zweiter oder dritter Klasse. Die Abteile erster und zweiter Klasse werden nachts in Schlafwagen verwandelt, denn die Reise ist lang. Man reist beinahe so bequem, wie auf einem Überseedampfer. So machte ich es auch. Dieser Zug fährt zweimal in der Woche vor Sonnenuntergang, genauere Zeitbezeichnungen sind hierzulande nicht nötig und nicht üblich - was ich bald erfahren sollte - in Lobito ab. Zwei Tage brauchte ich noch für meine Einreiseformalitäten, den auch hier gab es eine Bürokratie, wenn auch eine recht gemütliche. Dann konnte ich weiterfahren.
In diesem Zug war ich fast nur unter Europäern. Die Belgier, an deren hartes Französisch ich mich nun gewöhnt hatte, wirkten beinahe heimatlich auf mich, in dem neuen Land. Auf dem Schiff hatte es mir einen kleinen Ruck versetzt, als ich in der Passagierliste las. Dort standen hinter den Namen aller männlichen Reisenden, in der Sparte „Reisezweck“ klingende Namen der Schifffahrts-, der Minen- und der Verkehrsgesellschaften Belgiens oder internationaler Exportfirmen. Mein Name war der einzige, hinter dem das kleine verräterische Wörtchen „privat“ stand. Da wurde mir erst richtig klar, dass ich der einzige Abenteurer auf dem Dampfer war, der seine Reise selbst bezahlen und sich allein, auf eigene Faust, durchsetzen musste. Es war mir damals nicht so recht wohl bei dieser Entdeckung gewesen. Nun aber fühlte ich mich den biederen Geschäftsleuten mit Ledermappen und kleinen Bäuchen sogar ein bisschen überlegen. Sie alle hatten ja ihr Schicksal in andere Hände gegeben, ich aber hielt das meine in der Hand. Ich achtete darauf, ob sie es mir wohl ansahen, dass ich ein Glücksritter war.
Ich wandte keinen Blick vom Fenster, so begierig war ich alles zu sehen. Erst war ich ein bisschen enttäuscht, dass die Landstraßen, Telegrafenleitungen und das Gras im Graben nicht ein bisschen anders aussah als bei uns. Aber dann kamen Zuckerrohrfelder und Bananenkulturen und ich fühlte mich schon heimischer. Der schmale, fruchtbare Küstenstreifen war bald durchquert. Wir kamen am Fuß des Gebirgszuges an und ich wollte die Bergriesen erst richtig betrachten, da war plötzlich die Tropennacht hereingebrochen. Man konnte nicht mehr recht sehen, aber man spürte die Anstrengung der Lokomotive steil aufwärts zu keuchen, bis zu zweitausend Meter Höhe.
Ich schaute weiter hartnäckig hinaus, damit mir nichts entgehen könne und allmählich sah ich auch etwas. Zerklüftete Felswände, Baumriesen mit hochgereckten Armen und Gestrüpp, das wie kauerndes, unbekanntes Getier wirkte. Darüber einen grünlichen Himmel.
Vor der stärksten Steigung gab es einen Aufenthalt, denn eine Maschine mit Zahnradeinrichtung-musste vor die unsere gespannt werden. Nun fuhr man wie in einer Schlucht zwischen den steilen Felswänden. Ein rasselndes Echo erfüllte die Dunkelheit. Es wurde ganz finster draußen. Nur mit verrenktem Hals konnte ich eine handbreit Himmel mit blassen Sternen entdecken. Ab und zu wurde die finstere Felsgasse in magisches, rotes Licht getaucht und mit Garben glühender Funken über streut. In regelmäßigen Abständen flog ein heller Schein über die wilde Steinwelt. Die mit Holz geheizte Maschine riss ihr Maul auf, um neue Holzscheite zu schlucken. Die Maschine sah ich nicht, aber im zuckenden Licht und Schattenspiel konnte ich fast jeden einzelnen Kloben erkennen, der ins offene Feuerloch flog. Dann schnaufte das Ungetüm befriedigt und schleppte uns weiter hinauf. Es hatte etwas Lebendiges, dieses unsichtbare Maschinenungeheuer mit seinem gierigen, roten Schlund. Man spürte alle seine Lebensäußerungen. Es war, als würden wir von einem blutdürstigen Raubtier durchs dunkle Afrika gezogen.
Nun weitete sich der Gebirgskessel. Ich erkannte mächtige Kakteensilhouetten, Agaven mit aufzeigendem spitzen Finger und die runden Buckel dichten Buschwerks. Dazwischen sah ich deutlich glosende, grüne Katzenaugen. Aber meine Reisegefährten schüttelten zu dieser Beobachtung lächelnd die Köpfe. In dieser Felswildnis ist es Löwen, Leoparden und Schakalen zu kalt und unbequem. Höchstens ein Panther klettert mal hier herauf, aber er geht bald wieder, denn er liebt die Nähe der menschlichen Wohnungen und ihre sanften Haustiere.
Die Fahrt wurde immer langsamer. Man fühlte, wie die Masse der Wagen schwer an der Zahnstange hing, wie das Material auf das Äußerste belastet wurde, wie die Maschine ihr Letztes her gab und wie doch die Steigung immer noch steiler wurde.
Man atmete schon etwas rascher in der immer dünner werdenden Luft. Ich wanderte von einem Fenster zum anderen, sicher zur stillen Verzweiflung meiner Fahrtgenossen. Am liebsten hätte ich hüben und drüben gleichzeitig hinaus geschaut. Die Nacht war so voller gespenstischer im huschenden Licht tanzender Geheimnisse. Ich wurde das Gefühl nicht los, eines der Verbindungsglieder zwischen unseren Wagen könne reißen und der Rest des Zuges zurück bis ins Meer hin abrollen. Der Bericht von einem Unglück, das hier, genau an dieser Stelle, geschehen war, folgte alsbald, wie eine Antwort auf meine stillen Phantasien. Wahrscheinlich wurde er jedem Neuling in jedem Zug aufgetischt, nur immer mit anderen Ausschmückungen. Aber er tat seine Schuldigkeit. Mir gruselte. Aber es war eigentlich eine angenehme Art von Schauder, ein prickelnder Genuss. Dies hier war etwas afrikanisches, fremder, unheimlicher Boden voller Fährnisse. So sollte es nur bleiben!
Es geschah nichts und man gewöhnte sich an die abenteuerliche Strecke. Aber es war doch der Eindruck einer gewaltigen Natur, die nur mühsam von der modernen Technik bezwungen wurde und sich ab und zu rächt, indem sie eine Schwelle sich lockern lässt, einen Baumstamm oder einen Felsbrocken auf die Schienen wirft.
Wieder eine Art von Station. Die Maschine mit den Zahnrädern wurde abgehängt: Es wehte sehr kühle Luft herein; der Kamm des Gebirges musste erreicht sein. Nun rollten die Achsen unter uns leichter, der Funkenregen war sanfter geworden. Wir waren auf der angolanischen Hochebene angelangt. Es musste Mitternacht sein, die längst aufgedeckten Schlafwagenbetten lockten, aber ich war viel aufgeregt, um an Schlafen zu denken. Mit aufgestützten Ellenbogen lag ich auf dem Bauch, die Nase am Fenster. Nichts entging mir.
Da hält der Zug schon wieder, ein ohrenbetäubendes Gebrüll schallt von draußen herein. Ich versuche auf dem von einer kleinen Lampe erleuchteten Bahnsteig etwas zu erkennen: Da sind schreiende, gestikulierende Neger1. Ein ganzer Haufen. Ist ein Aufstand ausgebrochen? Hat ein Häuptling den Sturm auf den Zug befohlen? Buschmesser und Flinte hatte ich noch nicht bei mir. Die Negeraufstände in meinen Büchern aber hatten sehr blutig ausgesehen. Die „alten Afrikaner“ im Abteil, soweit sie nicht schnarchten, lachten über meine Unruhe. „So lange dieser Zug fährt,“, erklären sie mir, „begrüßen die Schwarzen ihn mit dieses Gebrüll. Das ist ein Ovation für unsere Technik. Die in der Nähe wohnenden Neger finden sich extra zwei Mal wöchentlich zu dieser Huldigung ein. Sowohl bei Ankunft, als bei Abfahrt wird in äußerster Lautstärke geschrien und aus Leibeskräften gewinkt. Ob Tag oder Nacht, das spielt dabei keine Rolle.“ Und wirklich, auf jeder Station, die nun rasch aufeinander folgten, wurden wir so von den Negern empfangen. Man gewöhnte sich daran. Man kam sich vor, wie ein reisender Landesfürst und hatte Lust jedes Mal lässig den Hut zu lüften.
Die Stationen folgten einander ziemlich genau jede halbe Stunde, ohne dass man aber im Umkreis irgend welche größeren Siedlungen entdecken konnte. Ich kam dahinter, dass die Stationen überhaupt nicht für Ortschaften eingerichtet zu sein schienen, sondern für den Hunger der gierigen Lokomotive, die alle halbe Stunde mit Holz gefüttert wurde.
Bei dieser ersten Fahrt lernte ich diese Strecke auf dem Gebirgskamm nur bei Nacht kennen. Ihr wahres Gesicht sah ich erst, als ich einmal in entgegengesetzter Richtung fuhr. Gerade bei Sonnenaufgang kamen wir hier herauf. Da sahen wir über ein Meer von Wolken unter uns, wie in einem Flieger. Die weiten, grünen Talkessel liegen unter dieser wattigen Wolkendecke, nur hie und da stechen Bergspitzen durch sie hindurch. Man glaubte bei Tageslicht in einen riesigen Mondkrater zu sehen. Der Himmel aber war tief dunkelblau, eine Sonnenkugel hing unwahrscheinlich plastisch und greifbar über dem Wattemeer und wechselte sichtbar die Farben. Erst war sie rot, dann apfelsinenfarben, dann gelb. Es war ein unirdischer Eindruck, wie wenn man hinter die Kulissen der Weltschöpfung sähe. Wir fuhren in Schlangenwindungen am Gebirgskamm entlang, immer über dem Wolkenmeer.
Aber das war erst Jahre später. Dieses Mal sah ich nichts, als endlose Striche von Berglinien am Horizont, die in den helleren Nachthimmel untertauchten, hörte das pünktliche Negergebrüll und sah das aufgerissene Maul der Lokomotive im Widerspiel des roten Lichts. Schließlich schläferte mich dieses beruhigende Gleichmaß der Dinge ein und ich verpasste weitere Aufregungen.
Am anderen Tage rollten wir immer noch durch die endlose Hochebene. Ich fand, dass die Ebene in Afrika genau so langweilig sein kann, wie Mitteldeutschland kurz vor Leipzig. Die Savanne sah unfrisch und öde aus. Wenn ab und zu dünne Stangenbuschflecken und einzelne Baumgruppen im Gras auftauchten, sah es wie ein verwahrloster Park aus. Nicht ein bisschen wild oder romantisch. Ich betrachtete das Gras eingehend und zog im Geiste eine Viehzucht im großen Stil darauf heran, mit Hirten zu Pferde, Riesenkraalen, nächtlichen Feuern als Raubtierschutz. Ich sah alles bis in jede Einzelheit vor mir. Aber meine Mitreisenden versicherten mir, im gewichtigen Ton des geschulten Geschäftsmannes, dass man hier zwar sehr viel Geld mit solchen Unternehmungen verlieren könne, aber nur schwer auch nur ein bisschen gewinnen. Die großen Grasflächen seien unbrauchbar, das Gras sauer. Wolle man Weide haben, so müsse der Boden umgebrochen und süßes Gras ausgesät werden. So würde die Savanne erst Unsummen an Geld schlucken, bevor man überhaupt an den Kauf von Vieh denken könne. Ich mochte ihnen nicht so ganz glauben, immerhin waren es Belgier aus dem Kongo. Was wussten sie über mein angolanisches Land? Wenn es noch Portugiesen gewesen wären, die hierher gehörten!
Ich hatte nur ganz wenig Portugiesen zu Gesicht bekommen, sie erschienen mir kleiner, rundlicher, freundlicher, gleichsam familiärer als die größer gewachsenen, langsamer sprechenden Belgier. Es lag aber wohl auch daran, dass die Belgier in diesem heißen Land Weiß trugen, die Portugiesen aber, wie alle Südländer, Schwarz bevorzugten, was ihnen etwas familienväterliches oder bräutigamähnliches für uns gibt.
Alles, was ich an bebautem Land entdecken konnte, waren kleine Maisfelder, unordentlich in die Grasflächen hinein gestreut. Die wenigen Siedlungen, die ich erspähen konnte, waren winzig klein. Kultiviertes Land, so wie wir es verstehen, sah ich gar nicht. Wo waren nur die großen Plantagen? Ich hatte doch gehört, dass die Hochebene in Bahnnähe am dichtesten besiedelt sei und am intensivsten bebaut. Was wusste ich von dem ungeheureren, weiten Landes und davon, was man hier „dicht besiedelt“ nennt? Ich, der ich aus dem engen Europa kam! Man fährt durch unberührt scheinende Wildnis und ist tatsächlich im bevölkertesten Teil Angolas. Das bestätigten mir die Belgier, die aus einem noch engeren Lande kamen als ich.
Mittags hatten wir einen größeren Aufenthalt bei einer Station, wahrscheinlich musste unsere Maschine ein kleineres Wäldchen zum Verspeisen kriegen. Auch die Fahrgäste konnten hier etwas essen. Im Speisewagen aßen eigentlich nur die wohl bezahlten Beamten des belgischen Kupfergebietes. Alle anderen aßen hier ein caldo verde, wie der Portugiese sagt, wörtlich: „warmes Grün“. Wir nannten es dann, im Buschjargon Capi-Suppe, „Grassuppe“. Hier hätte ich sehen können, wie knapp bares Geld in der Kolonie ist, weil so viele Fahrgäste heraus strömten, um billige „Grassuppe“ zu erstehen. Aber auf so etwas achtete ich nicht, ich war noch ganz hingenommen, von Erwartung auf die herrlichen Urwaldfrüchte, die ich hier kennen lernen würde. Man hatte mir von dieser Station erzählt, dass Früchte feil gehalten würden. Mein hungriger Magen wartete schon lange drauf. Richtig, es gab Früchte, aber was für welche? Äpfel und Erdbeeren! Wieder einmal war die Wirklichkeit ganz anders, als meine Erwartungen. Die Station genießt einen besonderen Ruf wegen dieser Äpfel und Erdbeeren, aber ich war ernüchtert; sie erschienen mir schaler als daheim. Die Äpfel waren sogar holzig und geschmacklos. Wo aber waren die Orangen, Mandarinen, Mangos, Avocados? Wo Papeias, Ananas, Bananen, Kokosnüsse oder Affenbrotbaumfrüchte? Es gehört zu den Enttäuschungen für jeden Neuling auf afrikanischem Boden, dass Früchte nicht überall zu haben sind. Im Busch wächst nicht eine einzige Frucht wild, die für uns genießbar ist. Gegen den Busch ist der deutsche Wald ein Schlaraffenland. Alles muss hier erst gesät oder gepflanzt, gejätet und gepflegt werden.
Wo war überhaupt der dichte Busch? Auch von den mageren Stangenbuschflecken, die ich am Anfang gesehen hatte, war nichts mehr zu sehen. Die kahlen Flächen rechts und links der Bahn wurden immer größer. Wald und Busch soll der holzfressenden Lokomotive zum Opfer gefallen sein. Die Bahn hat die angolanischen Wälder verschlungen. Die Eisenbahnverwaltung hat schon geboten, an allen Stationen und Streckenhäusern die rasch wachsenden Eukalyptusbäume anzupflanzen. Nun sieht man überall, anstatt des Busches, diese seltsamen, kulissenartigen Bäume stehen. Kein Baum wächst so kerzengerade und steif in die Höhe, wie der Eukalyptusbaum. Er ist zum Wahrzeichen der Zivilisation geworden, weil überall, wo die Wälder im Raubbau abgeschlagen worden sind, ihre Kronen aufragen. Sie machen das parkartige im Landschaftsbild aus. Wo am Horizont eine solche dunkle Baumkulisse auftaucht, kann man sicher sein, dass dort die Siedlung oder Plantage eines weißen Mannes ist.
Nach vierundzwanzig Stunden Fahrt war ich an der Station, die mein Freund Nickel mir in das Notizbuch notiert hatte, angelangt. Als ich aus stieg, empfing mich das Gebrüll der Neger, das ich kaum noch hörte; so afrikanisch war ich schon. Wieder war gerade die Sonne untergegangen, als ich unbedingt etwas sehen wollte. Fast war es schon Nacht. Ich sah, dass es eine kleine Station war, mit gestaltlosen Gebäuden, wie alle anderen vorher. Der Lagerschuppen neben dem Stationshaus war größer als dieses, sehr bezeichnend in einem Land, wo viel mehr Waren als Menschen reisen. Das Dorf hinter der Station lag an einer langen Straße, wohl ein paar hundert Seelen in Gras- und wellblechgedeckten Lehmbauten, keineswegs ein idyllischer Anblick. Soweit ich erkennen konnte, hatten die Bewohner mehr dunkle als weiße Hautfarbe und auch die Gesichtstypen - portugiesisch oder negroid - schienen zu verschmelzen. Die Häuser der portugiesischen Händler waren entlang der Hauptstraße mit Wellblechdach und fensterlosen Vorratsraum für den flinken Handel, nicht für das häusliche Behagen gebaut. Es gab zwei Gasthäuser und große Stores, Läden, in denen man alles bekommt, wenn man es sich nur leisten kann. Kolonisation und Pflanzerwirtschaft liegt dem Portugiesen nicht. Sein Lebenselement ist der Handel.
Nun hatte ich noch zwanzig Kilometer Fahrt in den Busch vor mir. Ein Lastwagen, den meine Freunde bestellt hatten, ein vorsintflutliches Ungetüm, stand schon bereit. Der Fahrer war ein Mulatte, soviel ich in der einfallenden Finsternis sehen konnte. Erst wurde mein Gepäck, die Tropenkiste aus Zink, auf die ich sehr stolz war und die mit bunten Hotelzetteln beklebten Kabinenkoffer hinauf gewuchtet. Dann kam ich selber dran; meine reisesteifen Knochen gehorchten nicht recht.
Es war schwarze Nacht geworden, als wir starteten. Ich saß hinter dem Fahrer, ab und zu konnte ich unter dem Wollkopf sein Gesicht von der Seite mit der flacher Stirn, tiefer Nasenwurzel und aufgeworfenem Mund sehen. Er war mir nicht ganz geheuer, wie er mit mir und meinen klappernden Sachen über die löchrige Straße fegte. Ich hatte alle Not mich festzuhalten. Das Wagenungeheuer ächzte und schüttelte. So begierig ich auch meine Augen ins Dunkel bohrte, wo der Busch sein musste, war nicht als Rabenschwärze, rechts und links. Nur ab und zu holte der eine trübselige Scheinwerfer, der nur allein brannte, etwas Strauchwerk, dünne, verbogene Stämmchen aus dem Dunkel. Wir ratterten und knatterten, dass sicher alle Löwen die Flucht ergriffen hätten, wenn welche da gewesen wären. Der Fahrer fuhr, als ob er den großen Preis für Geländefahrten bekommen wolle. Ihn konnte man kein Wort fragen, er hatte Mühe genug, das bei den Stößen mitspringende Steuerrad festzuhalten.
Wenn der schwarze Kerl mich nun einfach ins tiefste Dickicht fährt, mich hinaus wirft und mit meinen Sachen wieder abbraust, wer fragt danach? Ich kannte ja weder Weg noch Steg, hatte keine Ahnung, ob er in entgegengesetzter Richtung führe, als er sollte. Wir kamen auch an keinem einzigen Licht oder sonst einem Anzeichen menschlicher Siedlung vorbei. Jedenfalls hatte ich noch nie so schwarze Nächte gesehen. Jetzt hätten mich funkelnde, grüne Augen aus dem Busch geradezu angeheimelt. Aber nur einmal erhob sich ein großer Schatten, mächtige Schwingen entfaltend, vor uns in die Luft, irgend ein unbekannter Nachtvogel. Strauchwerk streifte ab und zu den Wagen, als wollte es uns hindern noch weiter vorzudringen. Ich musste mich bücken, um es nicht ins Gesicht zu kriegen.
Plötzlich überwältigte mich das Gefühl einer unbekannten Gefahr, die irgendwo lauerte. Es war so stark, wie ich es auf der ganzen Reise noch nicht empfunden hatte. Der Mulatte würde mein buchstabiertes Portugiesisch nicht verstehen, wenn ich ihm jetzt zu brüllte, er solle umdrehen. Wahrscheinlich hätte er nur mit seinem breiten Grinsen noch mehr auf den Gashebel getreten. Die Fahrt kam mir viel zu lange vor. Es dauerte wohl schon eine Stunde. Ich wurde immer nervöser. Zum Überfluss war mein Feuerzeug zwischen die hüpfenden Gepäckstücken auf den Wagenboden geglitten, so konnte ich mich nicht einmal mit einer Zigarette aufrichten und trösten.
Als ich schon Schlachtpläne zur Überwältigung meines Fahrers zu spinnen begann, schleuderten wir in Höllentempo um eine Kurve voller Schlaglöcher und bremsten dann mit halsbrecherischem Ruck. Ein schüchterner Lichtschein fiel aus einem niederen Haus. Wir waren da. Benommen und sicherlich ein bisschen blöde stand ich in der Tür meines neuen Heimes und blinzelte in das Licht einer Petroleumlampe. Meine Freunde schüttelten mir die Hand, zogen mir den Mantel ab und fragten alles durcheinander. Sie sahen so fremd und hohlwangig aus, in dem trübseligen Licht. Ich antwortete geistesabwesend und wendete mich immer wieder nach draußen. Der Mulatte war doch allein mit meinem Gepäck, konnte er nicht einfach damit davon knattern? Die Reste meines anderen Lebens in Europa waren mir plötzlich unentbehrlich; die vertrauten, alten Dinge würden mir mehr Sicherheit auf dem neuen Boden geben. Ich wurde ausgelacht und zurückgehalten. „Schweres Gepäck fasst der weiße Mann doch nicht an! Das machen unsere Schwarzen ganz allein, da kümmern wir uns nicht darum. Komm rein!“ Widerstrebend ließ ich die letzten Reste meiner Habe im Stich.
Mein erster Eindruck drinnen war der von etwas Provisorischem: halb Krankenzimmer, halb Sommerfrischwohnung. Es roch noch nach feuchtem Kalkbewurf, Wände und Boden wirkten kahl. Die Schilfrohrdecke sah aus, als hätte sie der Maurer vergessen zu bewerfen. Die Möbel waren dünnbeinig und mager. Die blakende Lampe, die von Raum zu Raum mitgetragen wurde, ließ die Ecken im Dunkel liegen. Meine Freunde aber waren ganz stolz auf unser Heim. Sie mussten froh sein, eine alte, schon eingerichtete Pflanzung mit, für hiesige Verhältnisse, gut möblierten Räumen bekommen zu haben und sie waren wie elektrisiert von der Freude, einen Europäer in ihrer Mitte zu haben. Denn nun war ich nicht bloß Freund und Kumpan wie sonst, sondern einer von drüben. Anstatt Buschneuigkeiten und Abenteuer zu erzählen, die ich so gerne hören wollte, fragten sie mich aus, wie der letzte Film heiße, den ich gesehen hätte, ob ich noch gute Bücher bekommen hätte, ob das Rennen in Karlshorst und das große Konzert der Philharmoniker schon vorüber sei, ob ich nette, deutsche Reisebekanntschaften gemacht hätte und ähnliches. Ich musste antworten wie ein Lexikon, dabei war ich wie betrunken vor Müdigkeit.
Nein, ganz wohl fühlte ich mich nicht in meiner Haut, als ich in meinem Bett unter dem fest zugezogenen Moskitonetz lag. Ich schlief noch unruhiger als auf der Reise und der Petroleumgeruch der Lampe begleitete mich in meine Träume.
Erste Erkundungsgänge
Meinen ersten Tag im Busch verschlief ich fast ganz. Erst nachmittags kroch ich unter dem Moskitonetz hervor. Meine Freunde holten mich auf die Veranda, die in der brütenden Hitze der beste Aufenthaltsort war. Sie fuhren fort, mich auszupressen wie eine Zitrone, nach Ereignissen von „drüben“.
Ich gab mir alle Mühe bei der Sache zu sein und vernünftige Antworten zu geben, aber es wollte nicht recht gelingen. Ich reckte den Hals, um durch das Rankwerk der Blattpflanzen hinaus zusehen. Ich spitzte die Ohren, schnüffelte, ja ich schmeckte Afrika in dem unverfälschten Orangensaft, von unseren eigenen Bäumen, den wir tranken. Ab und zu schlenderte eine schwarze Silhouette über die Gartenwege, auf denen die Hitze flirrte. Im Hintergrund entdeckte ich Beete auf denen wie bei uns Bohnen und Tomaten wuchsen.
Es war eine gewisse Beruhigung für mich, richtige Orangenbäume, die Früchte und Blüten zugleich trugen, dicht vor der Nase zu haben. Da alles im Hause einen provisorischen Charakter trug, hatte ich nicht geglaubt, dass man sich Zeit genommen habe, solide Fruchtbäume zu kultivieren.
Von meinem Liegestuhl aus sah die Welt draußen ganz zivilisiert aus. Hübsche kleine Phoenixpalmen und Hibiskussträucher mit großen, funkelnd roten Blütenglocken sahen vor der schwarzen Kulissenwand der Eukalypten sehr dekorativ aus.
Durch den Garten zog sich ein Wassergraben, breit und tief, der einem das Gefühl gab, auf einer Burg zu sitzen. Er heimelte mich an, denn er erinnerte mich an verschiedene Krebsfänge in unserem Graben an der Gartenmauer daheim.
„Großartig, dass Ihr sogar Wasser im Garten habt, schade dass Krebse hier wohl nicht existieren können, sonst würde ich gleich welche aussetzen.“ Nickel und seine Frau lachten herzlich! „Der hat seinen bestimmten Zweck. Krebse brauchst du nicht auszusetzen, die sind schon drin. Aber ihretwegen ist nicht extra das Wasser von den Höhen über uns hergeleitet worden, sondern zur Bewässerung, erstens für den Kaffee, dann für den Garten und endlich für das Häuschen dahinten, das neben dem Baum mit den hängenden, gelben Früchten steht“.
„Das Gartenhäuschen?“, fragte ich erstaunt.
„Komm mit, es wird Zeit, dass du es kennen lernst.“, sagte Nickel schmunzelnd.
Ich war froh, endlich von etwas Anderem als Europa zu reden und mich richtig umsehen zu können. Wir wanderten durch den Garten, wobei ich entdeckte, dass Schmetterlinge, Bienen und herumkrabbelnde Käfer gar nicht besonders afrikanisch aussahen. Im Graben ruderten wirklich Taschenkrebse herum. Ich hatte eher Schlangen erwartet. Alles, was mir heute nacht wild und primitiv erschienen war, kam mir bei Tage zahm und heimatlich vor.
„So,“, sagte Nickel, vor dem Häuschen stehen bleibend, „hier darfst du ausnahmsweise deinen Hut absetzen und an diesen Aststumpf hängen, bevor du in dieses Tempelchen gehst.“ Ich gehorchte und sagte: „Das ist aber eine zeremoniöse Angelegenheit.“
„Hausgesetz! An dem Hut sieht man von weitem, dass einer drinnen ist, so macht man den Weg nicht umsonst.“
Hineingehen ließ er mich allein. Als ich herauskam, lobte ich den afrikanischen Komfort: „Besser als manches WC bei uns.“, sagte ich, „Ich dachte, man schlägt sich hier einfach in den Busch.“ „Das lässt du hübsch bleiben, wenn Dich einmal ein Skorpion, eine Schlange oder ein Haufen Ameisen in irgendwelche Körperteile gebissen hat. Der Busch ist kein idyllischer deutscher Wald. Du wirst alles, was da beißt und sticht, noch früh genug kennen lernen.“
Nun machten wir einen Haus- und Hofrundgang. Es ging mir wieder wie bei meiner Ankunft. Alles kam mir etwas kahl, armselig und nicht behaglich vor. Es war keine romantische Art von Kahlheit und Unordnung, wie man sie von einem wilden Leben erwartet: Dachziegel hatten sich gelockert, ein löchriges Grasdach wäre malerisch gewesen. Aber ein modernes Ziegeldach wirkt ernüchternd, wenn es nicht mehr heil ist. Ich war nur froh, dass kein einziges unserer Gebäude diese trostlosen Wellblechdächer trug, die auf allen Bahnstationen meiner Reise zu sehen waren. Vom Haus hatte sich Verputz gelöst, hinter dem die braunen, ungebrannten Lehmziegel wie nackt hervorlugten. Die Fußböden waren, ein großer Luxus im Busch, aus Backsteinen. Mir wäre gestampfter Lehm lieber gewesen, denn so kam ich mir vor wie in einer Waschküche. Die Wände hatten in der unteren Hälfte große, feuchte Flecken und irgendwelche Spuren von krabbelndem Getier und hie und da Moskitoleichen.
„Dieses fatale kleine Geziefer, diese Spinnen und Tausendfüßler und die kleinen Silberfischchen, die alles zerfressen!“, seufzte die Hausfrau. „Rings um die Siedlung sind alle schönen, großen Bäume weggeschlagen, wegen der Moskitos und die, die kein Fieber bringen, sind mir genau so verhasst. Wehe, wenn man in einen Schrank, eine Kiste oder eine Schachtel greift, ohne vorher hinzusehen, gleich hat man so ein vielbeiniges Biest in der Hand. Ich bekämpfe alles aus Leibeskräften, aber in Afrika käme man selbst mit Giftgas nicht gegen diese unglaubliche Fruchtbarkeit der Natur nicht an!“
„Ja, die Hausfrauen haben allerhand Kummer,“, sagte Nickel und nahm tröstend ihren Arm, „obwohl sie hier gar nicht zu arbeiten brauchen.“ Ich sah auf die gelbliches Bettwäsche und dachte mir, sie schiene wirklich nicht viel zu tun. Sofort hatte sie meinen Blick aufgefangen.
„Ja, der schwarzen Wäscher.“, seufzte sie, „Er hat keine andere Funktion, als dies Eine und er ist auch ganz brav, aber er kocht alles zusammen in einem Topf, weil das Wasser so rar ist. Das Grabenwasser ist nur zum Spülen zu gebrauchen, alles gute Wasser muss unten im Tal an der Quelle geschöpft und, Eimer für Eimer, herauf geschleppt werden. Es ist ja gesund, so auf der Höhe zu liegen, aber es hat schlimme Nachteile.
Der Hof gefiel mir. Er war wie eine kleine Siedlung für sich, zwischen Bäumen und Sträuchern, große und kleine Häuschen zerstreut. Nur wucherte auch hier überall das Unkraut, unordentliche Reisighaufen lagen herum und alte Petroleumkanister standen in den Ecken.
„Ja, Ordnung halten ist hier zu teuer,“, sagte Nickel, „schwarze Sklaven in Hülle und Fülle, wie man es sich drüben denkt, haben wir nicht. Auch wenn wir sie neben den vielen Kaffeearbeitern bezahlen könnten; wir kriegten gar keine für solche Arbeiten. So bleiben eben die kleinen Arbeiten liegen.
„Und selbst zupacken darf die Hausfrau ja nicht, jedenfalls nicht in unserem Sinne!“.
„Ihr habt ja ein halbes Dutzend Häuser auf dem Hof.“, sagte ich ablenkend, denn ich hatte das Gefühl, an einen wunden Punkt geraten zu sein. „Am besten gefällt mir das Kleine dort, das aussieht, wie ein Negerhäuschen mit seinem Grasdach. Wozu hat es die riesige Esse?“
„Weil es unser Küchenhaus, ist. Fernandos Reich.“, antwortet die Hausfrau.
„Fernando, unser schwarzer Koch, ist getauft.“, fuhr Nickel fort, „Er hat sich von seinen schwarzen Stammesgenossen abgesondert, trägt ganze Hosen, Sonntags spitze Lackschuhe und singt beim Kartoffelschälen manchmal fromme Lieder. Er ist brav, wir haben ihn gern, aber er ist ein bisschen schwermütig. Ich glaube, seine gehobene Stellung, auf die er stolz ist, macht ihn doch nicht glücklich. Er lacht nie so übermütig und ausgelassen wie seine Dorfgenossen. Er gehört in keine Gemeinschaft mehr, weder zu den Weißen noch zu den Schwarzen.“
Wir sahen Fernando durch das Fenster zu. Er stand, rot beleuchtet, vor dem offenen Loch der Feuerstelle und knetete Brotteig in einer mächtigen Wanne. Seine schwarzen Arme tauchten in dem weißen Teig auf und nieder. Seine Nase glänzte von Schweiß. Er summte einen monotonen Singsang vor sich hin. Es wirkte gar nicht fromm, sondern eher, wie wenn ein Hexenmeister bei seinem Geschäft ist. Der Gedanke, dass ich nun immer Brot essen würde, das mit kohlschwarzen Fingern und, sicherlich mit schwarzen Schweißtropfen gebacken sei, machte mir eine leichte Bewegung in der Magengrube, die nicht mal die Stürme in der Biskaya verursacht hatten.
„Wir haben also auch einen Backofen?“, fragte ich und wandte mich rasch vom Küchenhaus ab und tat, als suchte ich den Hof mit den Augen danach ab.
„Wir haben alles, was man braucht,“, sagte Nickel, mit dem ganzen Stolz des jungen Besitzers. „Nur das Brotmehl lassen wir in der Mühle holen, einen kleinen Tagesspaziergang weit. Auf unseren kleinen Feldern ernten wir nur Mais und Süßkartoffeln. Unsere Schwarzen sind zum Glück gute Läufer, wir schreiben ihnen die Botschaft auf einen Zettel, den sie in einen geschlitzten langen Stock stecken und vor sich her tragen, wie ein Zepter. Sie haben ja in ihren Tuchfetzen keine Tasche. Die Last trägt der Schwarze so auf dem Kopf, wie die Dona2, die dort kommt.“ Eine muskulöse Negerin bog eben in den Hof ein, sie war in einen bunten Lappen von der Brust bis zu den Knien gewickelt und trug Huckepack mit einem Tuch ihr Baby, von dem nur der runde Kopf herauslugte. Ihr Kopf war von kleinen schwarzen Lockenkringeln wie beklebt. Auf dem Scheitel hatte sie einen geflochtenen Grasring, darauf balancierte sie einen großen, runden Korb. Sie kam gerade auf uns zu, über das ganze Gesicht grinsend. „Wir haben Eier Dir zu Ehren bestellt, das Geschäft wird im Store abgemacht!“, sagte Nickel und führte uns in das größte Gebäude, das wie eine moderne Scheune aussah. Er schloss mit einem der Schlüssel aus seinem großen Bund auf, der schon meine Neugier erregt hatte. Ich hatte daheim Nickel niemals seine Schränke oder Türen abschließen sehen. Der Store war ein abgeteilter Raum des Vorrats­hauses, in dem es Kisten mit allem möglichen Kram, eine Waage und eine Art Ladentisch gab. Es war ein richtiger kleiner Kaufladen, wo der Handel von der Hausfrau mit vor zählen an den Fingern abgeschlossen wurde.
Ich war sehr erstaunt zu sehen, dass sie für den ganzen Korb voll Eier fünf Angolar und eine Hand voll Salz gab und dazu stöhnte, dass es teurer geworden sei. Sonst habe sie fünfzig Eier für diesen Preis bekommen und heute seinen es knapp vierzig. In aller Geschwindigkeit hatte ich den Preis umgerechnet, wie ich es auf der Reise gelernt hatte und war auf fünfzig Pfennige gekommen. Ich musste mich auf einen Petroleumkanister setzen, so begeistert war ich.
„Das ist das Land meiner Träume!“, rief ich, „einen Fünfziger und ein bisschen Salz für den ganzen Segen. Mensch, Nickel! Hier bleiben wir bis an unser Lebensende.“
„Na, na,“, sagte Nickel, „Salz kostet Bargeld, Bargeld ist knapp und wir brauchen verdammt viel davon, denn wir zahlen meistens damit. Außerdem müssen wir ja viele Waren für unseren Laden hier vorrätig haben.“ Und er wies auf den „Kram“, den ich schon bemerkt hatte.
„Handeln wir also auch richtig? Das finde ich großartig!“. Ich zog Warenproben in Gestalt von Messern, Stoff, Kämmen, Spiegeln, Ketten, Angelhaken hervor. „Jeder Pflanzer muss seinen Store haben, denn wenn wir von den Negern etwas gebracht haben wollen, müssen wir ihnen auch die Tauschartikel bieten können, auf die sie gerade aus sind. Manchmal haben sie die lächerlichsten Wünsche, denn sie wissen nichts vom Geldwert, da sie nicht, wie wir stets Geld verdienen und Rechnen müssen.“
Ich wurde noch überall herumgeführt, auch in dem Kuhstall, der leer war, denn das Vieh war auf der Weide. Am meisten Eindruck machte mir das Räucherhaus, in dem einige, allerdings recht kleine Schinken hingen. Ich freute mich schon darauf, beim nächsten Schlachten mitzumachen.
Als ich alles gesehen hatte, war ich im Stillen zu der Überzeugung gekommen, dass wir im Schlaraffenlande lebten.
Als wir wieder auf der Veranda saßen, sagte ich aus tiefster Brust: „Diese Sommerfrische gefällt mir! Ich weiß gar nicht, warum ich erst so enttäuscht war.“
Meine Freunde meinten, ganz so lustig, wie ich dächte, sei es nicht und ihre Miene war so sorgenvoll, wie ich es von daheim eigentlich nicht gekannt hatte. Ich sagte mir, das müsse von der Malaria kommen. Beide hatten sie diese schon durchgemacht.
Zum Sonnenuntergang gingen wir in den Garten hinaus. Von dort hatte man einen weiten Blick über das Tal und die Hügelketten. Die Sonne ging rascher unter als bei uns, aber es war ein Schauspiel, wie von einem der alten großen Meister gemalt und doch noch feuriger, farbiger und duftiger.
Ich war begeistert von all den Herrlichkeiten meiner neuen Heimat. Ich wollte gar nicht mit ins Haus, als es jäh dunkelte, als ein kalter Wind auf kam, als es in den Sträuchern von Moskitos zu surren begann und als in allen Gräben die Grillen ein so lautes Konzert begannen, dass die Luft ganz davon erfüllt war. Dieses Grillengeigen im Fortissimo, dazu die kräftigen Froschchöre, die Schreie der Nachtvögel und unbekannter Raubtiere im Busch sollte mir die ersten Nächte noch Kummer genug bereiten, denn ich konnte nicht einschlafen, weil ich so stark das Gefühl hatte, mitten zwischen dem Urwaldgetier im ungeschützten Dickicht zu kampieren.
Zweiter Tag
In aller Frühe, als die Sonne noch nicht über die hohen Eukalyptus gekommen war, schlug Fernando die Gunga. Es gab einen nerven zerreißenden Ton, der mir in der ersten Zeit immer das Gefühl gab, in einem Eisenwalzwerk zu erwachen. Meine Buschromantik litt etwas unter dieser Ohrenmarter. Von einem Gong hatte die Gunga auch nur den Namen. Es war eine sinnreiche Konstruktion unseres Vorgängers: Ein Stück rostiger Eisenbahnschiene, die mit einer Eisenstange bearbeitet wurde. Sie hing an einer Art Galgen. Das Ganze stand oben auf einem Termitenhügel und machte den Eindruck einer Guillotine auf einem kegelförmigem Bunker. Nein, stilvoll war es nicht. Wie manches auf der Pflanzung trug es den Charakter des Vorläufigen, als ob es sich nicht gelohnt hätte, es richtig einzurichten. Zweckmäßig war das Ding, denn sein schrilles Getöse drang bis zum Kimbu, dem Negerdorf, das ungefähr eine halbe Stunde von der Fazenda3 entfernt lag.
Nickel und ich, wir hatten nun gute Zeit uns anzuziehen. Ich schlüpfte in meine Reisehosen, weil ich zu ungeduldig war, meine Kisten erst auszupacken. Ich war zu neugierig auf das neue Leben.
Durchs Fenster beobachtete ich, wie unsere Arbeiter fröstelnd und mit eingezogenen Schultern über den Kahlschlag herankamen. Sie schienen mir einander zu gleichen, wie auf einem Bilderbogen. Die schwarzen Wollköpfe sahen alle wie frisch geschoren aus. Die langzipfligen Lendentücher waren ausgefranst und wippten um die langen Beine. Die Einheimischen waren gut gewachsen und breitschultrig. Sie hatten kein Gramm Fett am Leib. Die Gesichter waren flach und die Stirn niedrig.
„Wo hast du deinen Tropenhelm?“, fragte Nickel tadelnd, „ohne ihn geht man keinen Schritt vor die Tür!“
Ich holte ihn gehorsam, obwohl ich es völlig überflüssig fand, in aller Frühe damit herum zu laufen. Wir standen im Hausflur. Nickel hatte eine lange Liste auf der die Namen unserer Kontaktarbeiter standen. Wir wollten die morgentliche Kontrolllesung, die Forma4, machen.
„Wenn ihr immer so ungern in die Sonne geht“, sagte ich meinen Helm zurecht rückend ein bisschen ärgerlich, „warum lasst ihr dann die Neger nicht herein treten zur Kontrolle?“
„Ausgeschlossen“, antwortete Nickel, „sie würden alle Arten von schlimmen Krankheiten herein schleppen. Du brauchst dir bloß die Zehen der armen Kerle anzusehen. Geschwollen, eitrig, verkrüppelt, voller Wunden und Schmutz, sie haben Sandflöhe5, die würden sie ins Haus bringen. Man kann sich so schon kaum vor Ungeziefer retten. In allem und jedem was mit den Schwarzen zu tun hat, ist der Hof unser Büro.“
Während ich diese Belehrung empfing, gingen wir hinaus und ich erinnerte mich, die kranken Füße der Schwarzen betrachtend, eines merkwürdigen Jucken im Nagel des großen Zehs, das mich nachts geplagt hatte. Am liebsten hätte ich auf der Stelle Schuh und Strümpfe ausgezogen, aber ich wusste schon genug von der Würde des weißen Mannes. Also bezwang ich mich und schaute mit in die Arbeiterliste.
„Was, das sind ja hundert Arbeiter, können wir denn so viele bezahlen?“. Ich wusste, wie viel wir in unserer gemeinsamen Kasse hatten, es war nicht viel.
„Das geht schon.“, bekam ich zur Antwort, „Erstens sind die Löhne niedrig und zweitens – du wirst schon sehen.“
Was würde ich sehen? Ich betrachtete unsere Eingeborenen, die inzwischen zu einem stattlichen Haufen angewachsen waren. Schwatzend standen sie im Hof herum. Wir selbst hatten unter einem schönen, breitastigem Häuptlingsbaum vor dem Haus Aufstellung genommen. Ich merkte, dass sich die Neger für mich interessierten, tuschelten und einander auf mich aufmerksam machten. Ich versuchte ein recht würdiges Gesicht zu machen und ganz unbefangen vor dem schwarzen Publikum zu stehen.
Die Namen, die Nickel aufrief, klangen teils fremdartig mit ihren vielen Vokalen, teils christlich und vertraut. „Warum haben nur einige richtige Umbundu6-Namen?“, fragte ich in einer Pause, die entstand, weil einer der Aufgerufenen sich nicht meldete. Umbundu war der Stamm der Eingeborenen in unserer Gegend.
„Getaufte und Ungetaufte“, sagte Nickel, „vor langer Zeit gab es hier eine Mission.“
Ich versuchte einen Unterschied zwischen Heiden und Christen festzustellen, es gelang mir nicht. Manche hatten zwar ganze Hemden und Hosen an, anstatt der Lendentücher, das schien aber eher mit Wohlhabenheit als mit Christentum zu tun zu haben, denn es trat auch ein braver Christopho vor, mit löchrigem Lendentuch, durch das die schwarze Haut lugte. Er hatte das selbe Trinkgefäß, die Kalebasse, am Gurt hängen und grinste genauso pfiffig, wie der wilde Batucca neben ihm.
Ich bemerkte, dass auf die Aufrufe immer öfters, anstatt dass der Betreffende vor trat, ein allgemeines Gemurmel aus dem Haufen kam: „Este doente“. Mein portugiesisches Taschenwörterbuch übersetzte mir das mit „ist krank“. Nickel machte dann immer ein Kreuz an den Namen des Fehlenden. Es kam vor, dass drei Aufrufe nacheinander diese lakonische Antwort kam. Am Ende hatte die Liste so viele Kreuze, dass über ein Drittel der Arbeiter ausfiel. Niemand schien sich darüber zu wundern. Mir fiel ein, was mir die Belgier im Zug über furchtbare Seuchen unter den Schwarzen erzählt hatten.
Als die Forma beendet war schlenderte der schwarze Haufen in lockerer Schwarmlinie in den Busch und ich sah durch das dünne Stangenholz, wie sie sich bückten und etwas vom Boden auflasen.
„Unser Kamin- und Küchenholz“, sagte Nickel.
„Kannst du denn nicht richtiges Holz schlagen lassen?“, fragte ich, „Das kommt mir vor wie in einer europäischen Revue, dass jeder mit einem einzigen Holzstück auf der Schulter daher spaziert kommt.“ Ich sah kopfschüttelnd zu, wie etwa fünfzig Mann ihr gesammeltes Stück auf einen Haufen schmissen.
Nickel lachte: „Du bist wohl jetzt schon nervös? Das ist schwarzes Arbeitstempo. Du musst bedenken, dass dies bisschen Sammelholz uns nichts weiter kostet. Das machen die Arbeiter täglich vor dem Kaffeehacken. Zum Schlagen müsste ich extra Arbeiter anwerben, sie verpflegen und zahlen.
„Aber hör mal“, begann ich, „wie ist das überhaupt mit unseren Arbeitern? Beinahe die Hälfte sind ja gar nicht gekommen, habt ihr eine Seuche in Kimbu?“
„Die meisten machen wohl bloß blau.“, antwortete Nickel, „Viele mögen auch krank sein, das weiß man nie so genau. Gut dass unser kluger Vorgänger mir gleich geraten hat, täglich mindestens hundert zu bestellen, wenn ich fünfzig brauche. Mit Ausfällen muss man immer rechnen: mit Fieberkranken, dazu kommen die, die gerade große Lust auf die Jagd, auf einen guten Fischfang oder auf wilden Honig haben und zuletzt die, die gerade zu einem Palaver oder einem Frauenkauf ausgezogen sind.“
Meine Illusionen vom diensteifrigen Negervolk, das dem weißen Manne gehorsam ist, bekam einen gelinden Stoß. Dass es hier in der Wildnis auch eine Arbeiterfrage gäbe, das wäre das letzte gewesen, auf das ich gekommen wäre.
„Also merk dir, wenn du jetzt immer die Forma machst: Bloß nicht ärgern! Man gewöhnt sich an die Unzuverlässigkeit der Schwarzen.“
„Ja, aber eigentlich müsste man da“, begann ich...“Ja, die Kolonialpolitik reformieren“, fiel mir Nickel ins Wort.
„Immer diese Schlagworte“, sagte ich, „wie daheim! Wir haben die Nase voll genug von Problemen, die nicht gelöst werden können. Ich dachte, hier sind wir im Urwald!“
„Das ist es ja gerade“, rief Nickel, nun auch hitzig, „Arbeitersorgen hat man hier mehr als drüben. Ich habe auch gedacht wie du, als ich kam“.
Nach einem ausgiebigen Frühstück schlenderten wir zusammen zu den Kaffeekulturen, um unsere Arbeiter zu inspizieren. Wir kamen durch ein kleines, kühles Bananenwäldchen, wo dicke, grüne Fruchtbündel an den Stauden reiften. Der Anblick tat mir wohl.
„Schade, dass es so wenig Bananenbäumchen sind,“, sagte ich, „das müsste doch ein Geschäft sein!“
„Von wegen, Bananen gedeihen hier schlecht. Es fehlt der richtige Humusboden und dann wird man sie nicht recht los. Sie faulen auf dem langen Weg bis zur Küste.“, antwortete Nickel. Dann, einen ungläubigen Blick von mir auffangend, setzte er hinzu: „Das hat unser Vorgänger nämlich schon ausprobiert.“
„Immer, wenn du so antwortest, habe ich den Eindruck, als hätte unser kluger Vorgänger das hier aufgegeben, weil er genau wusste, dass hier nicht mehr viel los war.“, sagte ich lachend, aber ich meinte es ernst.
„Nein, nein,“, sagte Nickel rasch tröstend, „du weißt doch, er hat aufgegeben, weil seine Frau an Schwarzwasserfieber gestorben ist. Nach drei Tagen war sie tot. Ihr Grab liegt ganz hinten im Garten.“
Wir schwiegen, bis wir am Kaffee ankamen. Hier überfiel uns blendende Sonne. Sie brütete heiß über den Strauchreihen, die kaum Schatten spendeten, weil sie so niedrig waren. Die Luft zitterte und flirrte über den Kulturen. Ich hatte mir den Kaffee interessanter vorgestellt. Dies sah aus, wie eine europäische Baumschule im Großen, eine fast unübersehbare Fläche mit regelmäßigen Bäumchenreihen, zwischen denen Gras, dessen Samen immer wieder vom Busch herüber flogen, in dicken Büscheln hervorschoss.
Die Schwarzen schienen eifrig bei der Arbeit. Sie lockerten das Erdreich rings um die Bäumchen und säuberten die ganze Baumzeile. Auch ohne was davon zu verstehen, konnte ich sehen, dass mehr als hundert Arbeiter nötig gewesen wären, um diese Pflanzung von Unkraut frei zu halten. Die kleinen grünen Bohnen saßen dicht am Ast und verschwanden fast in dem dichten Blattwerk. Eine Fülle von Reichtum, aber eine erdrückende Fülle von Arbeit dazu. Auf den gebückten, braunen Rücken glänzte die heiße Sonne.
„Na, ich glaube ich machte auch manchmal blau, wenn ich in dieser Hitze den ganzen Tag hacken sollte...“, sagte ich.
„...wenn noch dazu die Regierung das Geld dafür kriegt.“
„An die bezahlen wir?“, fragte ich, „Wieso?“ Das Leben in der freien Wildnis kam mir immer komplizierter vor; ich war schon ganz benommen von den vielen Neuigkeiten über das Buschleben.
Nickel musste über meine Verblüffung lachen.
„Genau so ein ungläubiges Gesicht habe ich auch gemacht. Ja, die armen Kerls sind in der Zwickmühle, die man eigens für sie ausgeknobelt hat, um sie zum Arbeiten zu bringen. Von allein würden sie wohl nichts für Geld tun, aber sie sind verschuldet. Kopfsteuern, weißt du, die müssen sie abarbeiten. Wir haben einen Kontrakt mit der Regierung. Wir bezahlen sozusagen ihre rückständigen Steuern für ihre Arbeit im Kaffee. Dass ihnen das Schuften da keinen Spaß macht, darüber wundert man sich wenig. Für ein Paar Lackschuhe oder ein grell buntes Tuch, das ihnen ins Auge sticht, würden sie vielleicht arbeiten, aber für etwas so unverständliches wie Steuern, das können sie schwer einsehen.“
„Aber ich habe doch gehört, dass alle Neger arbeiten, eben weil sie so versessen aufs Kaufen sind. Sie sollen doch einen Vierteljahreslohn unbedenklich für so ein Paar Lackschuhe, Schnaps oder Glasperlenketten hingeben!“
„Du vergisst, wie groß Afrika ist. Bei uns leben Bantus, die alte Herrenrasse, die sehr freiheitsliebend ist. Sie hängen am Althergebrachten und keine Mission, keine portugiesischen Händler haben ihnen die Gewohnheiten der zivilisierten Welt beibringen können. Ihre Bedürfnislosigkeit ist ihre Stärke und das Geheimnis ihrer Freiheit, die sie sich so ziemlich erhalten haben. Wenn sie ihre Kopfsteuer bezahlt haben, hat auch die Regierung keine Handhabe, sie zur Arbeit heranzuziehen. Dann gehen sie fischen, jagen, Holz holen, bauen ein bisschen Mais an, halten halb wilde Ziegen und feiern drei- bis fünftägige Feste. Sie leben in einfachen Lehmhütten wie vor tausend Jahren – wozu brauchen sie Geld?“
Ich sah nachdenklich auf die vielen gebeugten Rücken. „Du weißt schon viel über die Schwarzen in dieser kurzen Zeit.“
„Ja, über die Schwarzen, dafür bin ich Künstler.“ Und er lachte: „Man kann sie nicht malen, ohne sie kennenzulernen. Aber was den Kaffee betrifft, den Export und die Kasse, darüber habe ich verdammt wenig gelernt und es fällt mir verflixt schwer, den Aufseher zu spielen. Man muss aber ab und zu nachsehen, sonst halten sie einen für dumm und feiern einfach. Manche Pflanzer wollen mit allen möglichen Mitteln mehr Arbeitstempo erzielen, aber diese Strafen widern mich an. Auf Dauer erreichen sie dann doch nichts. Die Leute werden einfach in Scharen „krank“. Ich bin froh, wenn du das Beaufsichtigen übernimmst.
Sicher waren Nickels volkskundliche Studien sehr nützlich und belehrend für mich. Aber ich brachte es nicht fertig, richtig zuzuhören. Erst später fielen mir sein Vortrag an diesem ersten Tag wieder ein, als ich am eigenen Leib erfuhr, wie richtig er war. Diesmal aber war ich anderweitig beschäftigt. Ich hatte uns zu einem kleinen Umweg verlockt und sah rechts und links ins Dickicht. Ich fühlte eine seltsame Erregung, beinahe wie ein Kind, das durch einen Türspalt ins verschlossene Weihnachtszimmer lugt. Mich lockte der Busch, der Sumpf, die Savanne. Alles das Unbekannte, das auf mich wartete. Ich sah nichts als dünne Bäumchen, ähnlich unseren Erlen, mit dichtem Gestrüpp und Geschlinge dazwischen, hohes, wucherndes Gras und huschende Insekten und Vögel. Ich witterte unbekannte Pflanzen gefährliches Getier, dunkle, abenteuerliche Pfade. Ich konnte es gar nicht erwarten, endlich auf Entdeckungsreisen tief in das Dunkel zu dringen, das hinter den schmalen Pfaden lockte. Meine Gedanken waren weit weg von sozialen Problemen und von der langweiligen Eintönigkeit der Kaffeebaumschule.
„Was siehst du denn da drin, alter Waldläufer?“ rief Nickel, als er merkte, dass er alle Weisheit in den Wind sprach. „Pass auf, der Afrikaner guckt nie weiter als zwei Schritte vor sich, die aber untersucht er eindringlich mit dem Blick, denn da kann immer eine Schlange im Gras schlafen, auf die er sonst tritt!“
Ich beeilte mich, mich buschgerechter zu benehmen und kam etwas mühsam zu den Dingen zurück, derentwegen ich ja hergekommen war.
„Es gefällt mir alles großartig! Pflanzer zu sein scheint mir eine wunderbar wenig aufregende Sache.“, sagte ich, „Nach allem, was ich in den Kulturen gesehen habe, habe ich den Eindruck, wir werden so was wie ein Obergärtner. Pflanzer zu sein, ist tatsächlich wie ein Gärtner im großen Stil. Was man hier zu tun hat, ist eine riesige Baumschule zu pflegen und zuzusehen, wie sie wächst. Nicht sehr abenteuerlich. Immer Kaffee, Kaffee und nochmal Kaffee, soweit Auge blickt!“
Nickel nickte: „Stimmt, es ist eine Art Gärtnerberuf, nur dass man gar nichts selber machen kann und ganz auf die schwarzen Arbeiter angewiesen ist. Es gehört Geduld dazu. Hinzu kommt, dass in Europa ein Gärtner seinen Kohl einfach ins nächste Marktstädtchen bringt und sein Geld einnimmt. Unser Kaffee aber hat außer dem langen Weg bis zur Küste noch eine Reise über die Meere zu machen. Auf die Preise haben wir im Grunde keinen Einfluss, denn sie werden irgendwo drüben, am grünen Tisch von Leuten ausgeknobelt, mit denen wir gar keine Verbindung haben. Sind die Preise schlecht und wird der Transport zu teuer, so müssen wir es eben aushalten, denn wir haben ja nichts als den Kaffee.“
Er seufzte: „Setz Dich auch mal mit über die Bücher, die sind mein Kummer. Manchmal denke ich, wir sind reich, manchmal denk ich, wir sind arme Schlucker, vielleicht wirst Du besser daraus klug.“
„Sicherlich“, sagte ich leicht hin. Ich hatte eine Wildtaube in den Baumkronen entdeckt, ich konnte mir beim besten Willen keine Sorgen machen, ich sah doch, dass wir mitten im Überfluss saßen.
Dritter Tag
Bevor ich meine Entdeckungsgänge in den Busch aufnahm, musste ich zuerst meine Kisten auspacken, wozu hatte ich mir eigens einen Tropenanzug für die Äquatorzone machen lassen, wenn ich ihn nicht anzog? Eigentlich sollte ich mir vom schwarzen Zimmerboy helfen lassen, aber ich bückte mich lieber selbst. „Lass nur nichts herumliegen,“, hatte Nickel gesagt, „unsere Schwarzen sind sonst ganz ehrlich, würden das aber als eine Aufforderung betrachten, etwas mitzunehmen. Du musst immer zuschließen.“
Nun verstand ich auch, warum mein Freund immer mit einem imposanten Schlüsselbund herum lief, wie ein Gefängniswärter. Ich tat also alles gehorsam in den schmalen Schrank, obwohl ich sehr gern einiges im Zimmer aufgestellt hätte, damit es seinen Krankenstubencharakter verlöre.
Ich breitete die schimmernde Pracht des Tropenhauses aus. Einen ganzen Stapel blütenweißer Leinenanzüge. Ich suchte mir das aus, was ich für passend hielt. Ich erinnerte mich an den Vortrag eines Reisegenossen über die „sonnen abstoßende“ Wirkung von Weiß, das auch gefährliche Insekten nicht schätzen. Die weiße Pracht erinnerte mich an das Bordleben mit seinen lustigen Gesellschaftsspielen und es machte mir Spaß, mich wieder als Gentleman zu sehen. Ich nahm weiße Shorts vom Stapel (alles war halb dutzendweise angefertigt worden), ein ebensolches kurzärmliges Leinenhemd mit vielen hübschen Taschen, weiße Socken, weißen Helm, schmucke gelbe Halbschuhe. In dem halb blinden Spiegel sah ich, vor dem Moskitonetz des Bettes, wie ein Operettentenor aus – ich gefiel mir aber. Die Sonne würde geblendet sein, die Schwarzen würden staunen.
Nur das Buschmesser, die Katana7, die auch mitgeliefert worden war, wog ich unschlüssig in der Hand. Es war ein fast unterarmlanges Messer mit solidem Griff. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ein Tennisraket passe besser zu meinem Aufzug, als dies Mordinstrument. Am meisten Vergnügen machten mir die vielen Taschen und Täschchen, die mit zwiefachen Nähten aufgesetzt waren. Alle zum Zuknöpfen. Ein kleines Extratäschchen für Kompass und Uhr war am Gurt angebracht. Die vielen Taschen würden mir eine Botanisiertrommel ersetzen können, wenn ich interessante afrikanische Krabbeltiere heim tragen und sammeln würde.
Während dieser Anprobe versuchte ich mir ein Bild von den kommenden Buscherlebnissen zu machen. Am gespanntesten war ich auf fremdartige Tiere. Ich wusste zwar, dass Löwen, Pumas und Schakale, ebenso Flusspferde und Affen das Hochland nicht schätzen und den Urwald an den Flüssen vorziehen. Was aber Leoparden, Panther und Elefanten betraf, so wusste ich nicht, ob ich nicht welchen begegnen würde. Was Schlangen betraf, so war ich darüber im Bilde, dass sowohl große Pythons als auch die gefährliche kleine Kobra meinen Weg kreuzen könnten.
Ich hatte mir jedoch nicht überlegt, was Ameisen, Skorpione und Schlangen zu meinen nackten Beinen sagen würden. Jedenfalls haben sich auf diesem meinem ersten Spaziergang – dank dem Tropenhaus – die afrikanischen Tiere beim Anblick von weißen Shorts und Tennissöckchen sicher gefürchtet, denn ich sah kein einziges, nicht mal eine hübsche Eidechse. Von einem Streifzug durchs Dickicht konnte keine Rede sein. Nach einigen zwanzig Schritten auf dem Pad musste ich wieder zurückgehen. Es blieb mir nichts, als auf dem begangenen Weg zu bleiben, um meinen Anzug und meine Haut zu schonen. Und doch war ich nach Kurzem von Sonnenbrand, schneidendem Schilf, dornigem Strauchwerk, Bienen und Mücken und anderem gierigem Getier so übel zugerichtet, dass ich, in mich hinein fluchend wieder heim spazierte.
Von da an verzichtete ich darauf nach Vorschrift des Tropenhauses im Busch her umzuwandeln. Es wurde mir klar, dass diese „vorschriftsmäßige“ Ausrüstung für reiche Pflanzer oder Kolonialangestellte gedacht war, die sich außerhalb ihres Hofes nur zu Pferde, zu Wagen oder zu Auto bewegten. Von roter Lehmerde, die sich in allen Taschen setzte und den ganzen Herren rosig überhauchte, hatte es bestimmt noch nichts gehört. Wir aber hatten solche Erde, die durch die Trockenheit überall herum stäubte und alle Gegenstände bepuderte.
Kurz und gut, das weiße Gentlemenzeug verschwand im Schrank, ich legte es ab, wie manche verkehrte Vorstellung, die ich mir vom schwarzen Erdteil gemacht hatte. Ganz unten aus dem Schrank holte ich mir eine lange, grüne Schilfleinenhose mit Windjacke dazu heraus, die ich nur für große Jagden zurückgelegt hatte: Dazu ein grünes Hemd, lange Wollstrümpfe und feste Schmierstiefel, die ich von Wanderungen im Erzgebirge her hatte. Auch die schönen gelben Halbschuhe sahen den Busch nicht wieder, den sie ließen Sumpfwasser, Sandflöhe und Ameisen durch.
Bei meinem nächsten Inspektionsgang in den Kaffee nahm ich mir ein paar Schwarze vor, um sie nach ihrer heimischen Tierwelt auszufragen. Ich hatte noch gar nichts interessantes entdecken können. Sie legten bereitwillig ihre Hacken hin, sie schätzen ausgiebige Gespräche. Sie lauschten aufmerksam auf meine Fragen, aber meine portugiesischen Brocken brachten sie zur Verzweiflung. Sie verstanden schon das notwendigste, das Schlimme aber war, dass sie ihr portugiesisch nach dem Ohr erlernt hatten, ich aber nach dem Wörterbuch. So hatten wir recht unterschiedliche Betonungen. Aber als ich Mimik und Gesten zu Hilfe nahm, kamen wir uns gegenseitig näher.
Ich hörte von großen, gefährlichen Schlangen, die einen Menschen töten könnten, von Wildkatzen, die junge Hühner und Zicklein schlügen und ihr Blut aus tränken und von Panthern, die, von Zeit zu Zeit, ein ganzes Dorf in Schrecken versetzten.
Ich erfuhr auch, dass Elefanten in die Gegend kämen. Gewiss doch, große, wilde Elefanten! Sie wanderten von Süden her zu, nur um von einem Baum, dessen Früchte sie liebten, zu naschen. Aber sie kämen nur zu der Zeit, da die Früchte reif wären.“Wirklich, Patrão, die Elefanten sind klug; sie kennen diese Zeit genau und irren sich nicht.“ Ich wurde ganz aufgeregt. Wo diese Bäume wüchsen, fragte ich. Dort musste ich hin.
„Oh, nicht weit Patrão, nur zehn Tage weit zu gehen“. Zehn gespreizte, schwarze Finger wurden mir zum Abzählen vorgehalten, „Muinto longo“, sagte ich. Das fand ich „zu lange“. „Ha ka“, riefen sie, ganz überrascht. Ich sah, dass wir ganz verschiedene Entfernungsbegriffe hatten. Ich sollte dieses „ha ka“ , ihren Ausdruck für Verwunderung noch oft hören, denn wir hatten gegenseitig viel Gelegenheit, uns über unsere auseinander gehenden Begriffe von Zeit, Geschmack und Bedürfnissen zu wundern.
Beim Abendessen berichtete ich vom Ergebnis meiner Forschung. Wir hatten gerade einen Handelsvertreter aus St. Paole de Loanda zu Gast, der seit einem Jahrzehnt das Land bereiste. „Für die Schwarzen sind zehn Tage eine nette Ausflugszeit.“, erklärte er. „Sie müssen wissen, dass sie große Reisende sind. Entfernungen spielen keine große Rolle bei ihnen, obwohl sie stets zu Fuß gehen. Der Neger läuft halbe Tage ganz ohne Pause, ohne für Hunger und Durst zu sorgen. Seine Wandersehnsucht ist groß. Lockt ihn ein bestimmtes Ziel, so wandert er auch Monate lang. Sein ganzes Marschgepäck ist ein winziges Bündel in einer Hand. Er geht barfuss, wie immer, trägt nichts als seinen Tuchfetzen am Leibe, aus dem hie und da die blanke Haut guckt. Tagsüber wandert er auf den Pads, die, schmal wie Wildwechsel kreuz und quer durch den Busch laufen. Nachts kriecht er in irgendeinem Kimbu unter, wo er alle Gastfreundschaft genießt, auch wenn er niemanden kennt. Wenn er von irgendwo weit her ein Tamtam schlagen hört, folgt er dem Ton und feiert das mehrtägige Fest mit, das dort im Gange ist.
„Schade,“, sagte ich, „dass wir es nicht auch so machen können. Wenn man immer auf seiner Pflanzung sitzt, kann man Land und Leute doch nicht richtig kennen lernen. Den Elefantenbaum und seine Besucher möchte ich zu gerne sehen.“
„Versuchen Sie das mal,“, antwortete der Fremde, „zehn Tage im Busch! Ich bin so lange im Lande, ich habe versucht auf diesen Pads eine größere Wanderung zu unternehmen, aber ich habe nie gelernt, mich darauf zu orientieren. Dies verwirrende Durcheinander von sich schlängelnden Wildwegen, einer dem anderen aufs Haar gleichend, jeder ohne Bezeichnung und das Dickicht ringsum immer dasselbe. Das macht einen ganz konfus. Man kann sie nur benutzen, wenn man instinktiv, wie ein Tier zu seinem Ziel findet. Haben sie nicht schon auf ihren ersten Wanderungen im Busch gespürt, wie hilflos der Weiße in der reinen Wildnis ist? Alles, was der Neger erbeutet, ist für den Weißen zu schwer zu kriegen: der wilde Honig in den Bäumen, die Wildtauben, die Fische in den Moorteichen. Und, was der Negermagen verträgt! Wurzeln, Kräuter oder Schlangenfleisch. Haben sie mal versucht, im Busch zu übernachten?“
„Nein,“, rief ich lachend, „ich hab bloß versucht, mich hinzusetzen und auszuruhen, das hat mir schon gelangt.“
„Na also, Ausflüge von mehr als einem Tage kann man nämlich nur mit einer Trägerkolonne von Einheimischen machen. Mit einer Reihe von Mundvorräten, Kochgeschirr, Tragmatten, Zelt, Decken und Waffen. Will man aber unterwegs sein Wild selbst erlegen, so muss man eine hohe Abschussgebühr bezahlen. Kommen sie nicht auf die Idee, draußen einfach los zuknallen. Die Regierung versteht keinen Spaß auf diesem Gebiet.“
„Schließlich könnte man in einer Baumgabel übernachten, aber vor dem schlimmsten Getier ist man da auch nicht sicher. Bei Nacht kommen die ärgsten Feinde des Menschen: die Moskitos, die tagsüber auf der Unterseite des Blattwerks schlafen. Man spürt ihren Stich nicht einmal, aber nach einer Woche ist einem die Malaria ziemlich sicher, selbst wenn man nur einen einzigen Stich abbekommen hat. Aber auch Panther und Leopard kommen oft aus den Niederungen in die Hochebene hinaus. Wenn sie auch eine aufrecht gehendenen, hochgewachsenen Mann scheuen, an einen Schlafenden wagen sie sich heran, wenn sie nur hungrig genug sind. Auf Bäume klettern sie jedenfalls ohne weiteres.
„Gut, dass Sie es ihm sagen.“, warf Nickel ein. „Mein Freund ist immer noch der Ansicht, niemand in diesem Lande kümmere sich darum.“
„Weit gefehlt,“, rief unser Gast, „der Busch hat tausend Augen. Je dünner ein Landstrich besiedelt ist - sie gehören wohl zum menschenleersten Teil der Hochebene - desto mehr fällt ein Weißer darin auf. Der Schwarze ist neugierig. Alles Fremde ist eine Sensation für ihn. Auch die portugiesischen Beamten sind sehr neugierig, weil sie Steuern, Strafgebühren, Abgaben einheimsen wollen. Eine Kolonie zu erhalten kostet viel Geld. Sie können sich drauf verlassen, wenn heute im tiefsten Buschdickicht ein Schuss fällt, morgen weiß es der Postenchef des Distriktes bereits. Mit dem freien Zigeunerleben, mit dem Beschaffen der Verpflegung im Busch, das ist also nichts.“
Die Ausführungen des Handelsreisenden waren sicher sehr interessant, aber ich nahm sie nicht all zu wichtig Ich hatte ja täglich Gelegenheit, meine Erfahrungen selbstständig zu sammeln. Ich lief mir schon selber die Buschhörner ab.
Gleich nach dem Abhalten der Forma zog ich mir, von Kopf bis Zeh, solides Schilfleinen an, steckte den Kompass und die Leica in die Tasche und nahm die Katana zum Wegbahnen in die Hand. Natürlich hatte ich meine festesten Stiefel an. Der „Spaziergang“ im Busch bestand nämlich nur zum kleinen Teil aus richtigem Marschieren. Oft musste man, an den sumpfigen Stellen, die sehr häufig waren, von Grasbüschel zu Grasbüschel springen. In der Savanne gab es Distelfelder und Kakteen, wo man sich wie ein Aal hindurch winden musste, auf Karst- und Geröllhängen war rutschen, klettern manchmal sogar kriechen die Fortbewegungsart. Und selbst auf den Pads hatte man oft genug zu Hüpfen oder zu Kriechen, denn Strauchwerk hielt einen am Ärmel fest, tote Baumstämme lagen quer über den Weg, der Fuß hakte sich in einer unsichtbaren Astgabel unter dem Gras fest, unversehens klebten einem riesige Spinnnetze das Gesicht mit ihren zähen Fäden zu. Ab und zu krachte ein Baumstumpf, den man vertrauensvoll erklomm, um Ausschau zu halten, mit dumpfem Knall unter einem zusammen und man versank in einem Erdloch, aus dem eine Wolke von Mulm stäubte. Man konnte von Glück sagen, wenn man bei solch einer Gelegenheit nicht in ein tiefes Sumpfloch hinein sackte, das einen bis an die Achseln verschlucken konnte. Wenn man mit unendlicher Mühe und Anstrengung heraus gekrabbelt war, musste man noch froh sein, wenn weder eine Schlange, noch ein Skorpion auf dem Grunde des Loches gehaust hatte.
Abenteuer gab es also genug und die afrikanische Wildnis war auch so „wild“, wie ich gedacht hatte. Aber dass ich nicht zum Buschzigeuner wurde, dafür war gesorgt. Zwei Dinge hinderten mich daran: das krabbelnde Getier und mein Magen.
Länger als höchsten einen halben Tag konnte ich nicht herum strolchen, ohne zwischendurch richtig auszuruhen. Da ich aber nicht, wie die Schwarzen, mich auf meinen Fersen hockend in aller Gemütlichkeit ausruhen konnte, musste ich eben auf den Beinen bleiben. Ich habe es nicht mehr als einmal versucht, meine Sitzfläche einem trügerischen Graspolster, einem dürren Ast, einem mürben Baumstumpf oder gar einem Laubhaufen anzuvertrauen. Immer haust irgend ein Tier darunter und zwar immer eines das beißt.
Wenn ich mir vorgestellt hatte, dass ich in dieser „Sommerfrischenhitze“ auf grünem Graspolster unter wilden Gladiolen sanft ruhen und träumen könnte, so hatte ich keine Ahnung von der afrikanischen Fauna gehabt. Die Wildnis ist so überreich an kribbelndem, krabbelndem Geziefer, dass weder an Hinsetzen noch an Ausstrecken zu denken ist.
Ebenso war ich ganz auf dem Holzwege gewesen, wenn ich geglaubt hatte, im Busch mein Magenknurren beruhigen zu können. Es war nicht das geringste Essbare in dieser üppigen Vegetation zu finden. Nicht die armseligste Beere oder gar eine Bucheckern oder eine Haselnuss. Von Früchten gar nicht zu reden. Auch das Wasser aus den Quellen konnte man nicht einfach trinken. Ungekocht oder zumindest ungefiltert verwendet man es nicht, wegen der Bakterien, die-darin leben.
Zumeist war ich recht erschöpft und aus gehungert, wenn der Ton unserer Gunga mich zum Essen heim rief. Manchmal ging ich erst am Spätnachmittag fort, um den Sonnenuntergang draußen in der Wildnis zu erleben. Aber wenn dann die Dämmerung einbrach musste ich schleunigst heim laufen, um das schützende Dach zu erreichen. Nichts ist gefährlicher für den weißen Mann, als draußen von der Nacht überrascht zu werden. Das kann ihm leicht passieren, denn die Tropennacht fällt so rasch ein, dass sie unmittelbar auf Sonnenuntergang folgt. Dann ist es gleich so finster, dass man weder Weg noch Steg im Busch finden kann. Und wenn man auch in der Nähe einer menschlichen Siedlung ist und sich im Kimbu unter ein Dach retten kann, man mag nicht gern auf der Schilfmatte einer ganzen Negerfamilie, direkt auf dem Lehmboden, ohne Moskitonetz und ohne Fenster nächtigen.
Also mit meinen Entdeckungsreisen durch die Wildnis war es nicht weit her. Nun wunderte ich mich auch nicht mehr über meine Freunde, da sie schon so lange hier waren, und doch nichts von der Landschaft jenseits unseres Höhenzuges wussten. Ich sah ja nun, wie weit man zu Fuß kam. Wir hatten aber weder Pferd- noch Ochsenwagen, vom Auto ganz zu schweigen. Ja, Livingstone und Nachtigal hatten es gut gehabt, nur ein Forschungsreisender kann eben richtig in Afrika herum kommen. Man müsste eben ein Abgesandter einer Mission, einer Regierungsstelle, eines wissen­schaftlichen Instituts oder einer großen Handelsgesellschaft sein, die die Streifzüge finanziert. Entdeckungsreisen sind für einen Mann zu teuer, der auf sich selbst gestellt ist. Da hilft keine Leidenschaft, ein großer Geldbeutel muss hinzukommen. Trägerkolonnen, Fahrzeuge oder teure Eisenbahnfahrten kann man sich in diesen ungeheuren Weiten nicht leisten.
Ich war froh, dass sich in dieser ersten Zeit ein portugiesischer Kaufmann meiner erbarmte, und mich ein Stück weit mit seinem Wagen hinausfuhr. Nun konnte ich endlich mehr sehen. Aber meine Neugierde war bald gestillt und machte einer gewissen Ermüdung Platz. Dass sich die Natur so ins Unendliche wiederholen könnte, über eine ganze Tagesstrecke mit dem Auto hinweg, hatte ich mir nicht vorstellen können. Aber Busch ist eben Busch. Immer abwechselnd undurchdringliches Dickicht von dünnen, krummen Bäumchen, von unordentlichem Gestrüpp durchzogen, dann weite Sumpfflächen, ähnlich unserem Erlenbruch, nur dass das Gras von trügerischem Saftgrün ist, endlich Savanne, sonnen versengtes, totes Steppengras, verkarstete Hänge, ab und zu vertrocknete Sträucher und Büsche. So konnte man Stunden und Stunden immer das gleiche Bild sehen. Alles leeres, wildes Land.
Einmal duselte ich eine Weile ein, dann blinzelte ich wieder hinaus und meinte, wir seien im Kreis herum gefahren, so wenig wechselte die Landschaft. Erst als wir tiefer hinunter zum Flusstal kamen, änderte sich das Bild. Alles wurde dichter, fetter, grüner. Der Busch ging in den Urwald über.
Als ich von der ersten größeren Ausfahrt nach Hause kam, wurde mir auf einmal klar, wie verraten und verkauft wir eigentlich auf unserer abgelegenen Pflanzung saßen. Wann wir uns einmal ein Auto leisten könnten, das war noch gar nicht aus zurechnen. Meine Entdeckungsstreifzüge würden auf unabsehbare Zeit hinaus die Strecke, die ich in einem halben Tag durchwandern konnte, nicht übersteigen. Noch war alles in der Wildnis ringsum neu und geheimnisvoll für mich und doch hatte ich jetzt schon geheime Angst vor dem Tag, an dem ich jedes Fleckchen Erde unserer Gegend so gut wie meine Tasche kannte. Was würde ich mit meiner Unruhe anfangen? Ich war ausgezogen um die Freiheit zu suchen, dann aber hatte ich meine Freiheit an ein Stück Boden verkauft. Ich hatte mein Geld in unsere gemeinsame Pflanzungskasse gesteckt, aus der nun laufend große Ausgaben zur Erhaltung der Kaffeekulturen gedeckt wurden. Es war nicht daran zu denken, dass ich meine Freunde im Stich lassen könnte, denn unter der Voraussetzung des gemeinsamen Risikos hatten wir uns ja in das große Abenteuer gestürzt. Immer wieder musste ich bei meinen Wanderungen einen Abstecher in den Kaffee machen, musste zusehen, wie die kostbaren Stauden umgehackt, gesäubert und hochgepäppelt wurden.
Ich war nie Landwirt gewesen und nie Gärtner, hatte Geduld und Ausdauer, erste Voraussetzungen für das Heranziehen einer Pflanzung, nie gelernt.
Darüber, dass ich hier, zweihundert Kilometer von der nächsten Stadt entfernt mit Foto- und Filmaufträgen reich werden würde, hatte ich mir von vorn herein wenig Illusionen gemacht. Aber ich hatte immerhin geglaubt, ich würde ein ganz passabler Pflanzer werden. Im Hinterkopf hatte ich den Plan, falls sich das Pflanzerdasein doch nicht als so attraktiv herausstellen würde, mich um Kontakte zu den Kupfer-, Gold- oder Diamantenminen kümmern könne. Ich hatte nicht gewusst, dass all diese Bodenschätze zwar im Land, aber doch unerreichbar für mich sein sollten. Das Kupfer war von großen Minengesellschaften mit Beschlag belegt. In den Diamantendistrikt ließ die Regierung seit einiger Zeit überhaupt keinen Privatmann hinein. Die Goldwäscherei aber lohnte nicht mehr recht. Außerdem war sie für Weiße, wegen des ungesunden Klimas an den Flüssen, zu hart. Ich hatte also gar keine Möglichkeit auszubrechen, selbst wenn ich es fertig gebracht hätte, meine Freunde so vor den Kopf zu stoßen.
Es blieb mir also nichts, als das zu tun, was jeder Pflanzer tut: pflanzen, jäten, ernten, abwarten und noch einmal abwarten, immer von einer Kaffeeernte zur anderen, bis dabei einmal doch so viel heraus schaute, dass neues Land dazu gerodet, neue Pflanzen dazu gesetzt und so ein Schritt aufwärts gemacht werden konnte.
Die alten Afrikaner
Als ich einigermaßen buschfest war, das heißt, nachdem ich mich durch den Sonnenstand mit Hilfe des Kompasses in einer angegeben Richtung auf einem Negerpfad, einem Pad8, bewegen konnte, machte ich in der Nachbarschaft Besuche. Ich wollte von den „alten Afrikanern“, den deutschen Nachbarn, die schon viele Jahre, oft auch Jahrzehnte, Kaffee pflanzten, etwas lernen. Ich war sehr gespannt, ob sie auch so aussähen, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Und ich war auch ein bisschen unsicher. Machte ich schon einen buschgerechten Eindruck? Oder sah man mir das Greenhorn noch an? Ich hatte mich nicht in Besuchsdress geworfen, hatte nicht die Schilfhosen aufbügeln lassen, um so afrikanisch wie möglich zu wirken. Mein weißes Gentlemenzeug hätte am Ende die Spottlust der alten Buschraubeine erregt. Ich bedachte nicht, dass die alten Pflanzer nicht auf meine Hosen gucken brauchten, um meine Vertrautheit mit dem harten Buschleben abzuschätzen. Sie lasen es ohne weiteres von meinem unbeschriebenem Gesicht ab, dass ich neu im Lande war.
Meine ersten Eindrücke von den „alten Afrikanern“ waren etwas enttäuschend, denn immer noch spukten mir die Bilderbücher von einst im Kopf herum. Die Pflanzer hatte ich mir in düsterer waffen- und maskenbehangener Halle gedacht, mit dröhnendem Schritt und knorrigem Handstock einher schreitend, fließend Umbundu-Befehle von sich gebend. Dazu die Schwarzen in einer Art Habtachtstellung, die Hand an der kaffeebraunen Schenkelhaut. Sie lauschten seinen Befehlen. Unwillkürlich hatte ich mir vorgestellt, dass ein großer Pflanzer, wie unser nächster Nachbar mit fünfzigtausend Kaffeebäumen, einigen zwanzig Stück Rindvieh, vielen Schweinen und Hühnern, mit wohl gepflegtem Bananenhain und großem Obst- und Gemüsegarten, zumindest in büffel­ledernen Reithosen geht, wenn er nicht gar zu Roß oder auf seinem Ochsengespann sitzt. Ich hatte ihn mir mit dem kantigen Kinn des Willensmenschen, mit falkenhaft wachsamem Auge und dick qualmender Pfeife oder Zigarre gedacht, Whisky pur herunter gießend, so selbstverständlich wie der Säugling seine Flasche. Abends wollte ich am Kaminfeuer seinen atemberaubenden Berichten von Großwildjagden, Mulattenaufständen, Steppenbränden und Heuschreckenüberfällen lauschen.
Noch ehe ich die Siedlung des Nachbars erblicken konnte, kam ich an seinen Kaffeekulturen vorbei. In schnurgeraden Reihen, wie ein Regiment zur Parade aufmarschiert und alle gleichmäßig mannshoch, wie die Borsten einer gewaltigen Kleiderbürste, standen die Baumreihen. Es war geradezu schwer, sich vorzustellen, dass diese Kaffeestauden selber so gewachsen waren und nicht, wie von der Hand eines Kerzenziehers so hochgezogen waren. Diese Ordnung setzte sich Zeile für Zeile bis zum Horizont fort. Ich stand und staunte. Überall wo ich hinblickte, nur Kaffee, Kaffee und nochmals Kaffee. Diese Bäumchen hatten seinen Besitzer ein Jahrzehnt Arbeit gekostet, wie ich erfahren hatte.
Der Hof war größer als unserer, die Gebäude besser erhalten. Aber Zeichen von Reichtum oder Luxus waren nirgends zu finden. Die schwarzen Boys, die hie und da bei ihren Hantierungen herum schlenderten, schienen auch nicht auf ein flotteres Arbeitstempo gedrillt. Das Holz, das auf dem Hof lag, war genauso spirreliges Sammelholz wie das unsere. Der Hausherr kam mir ganz ohne Gefolge von schwarzen Bediensteten entgegen und sah in seinem etwas knautschigen Leinenanzug nicht besonders imposant aus. Sein Haus, das von außen ganz herrschaftlich aussah, wie wir es nennen würden, sah drinnen fast nüchtern und saisonwohnhaft aus, wie unseres auch. Die Wände der Halle waren nicht mit Tiger- oder Löwenfellen behängt, es gab keine tiefen Ledersessel und Mahagonitische, keine kostbaren alten Waffen und Maskenantiquitäten. Alles fehlte, was wir gewöhnt sind, als Attribute von Gediegenheit und Wohlhabenheit zu betrachten. Mein erster Gedanke hier war der gleiche, wie in unserem Pflanzung, dass sich hier einer sein Heim eingerichtet hat, mit dem Gedanken: Wenn du hier weggehen kannst, baust du dir ein wirkliches Heim in Europa.
Ich saß bei dem üblichen Fruchtsaft und selbst gedrehten Zigaretten in einem dünnbeinigen Korbsessel und überlegte, weshalb in diesen Landhäusern das rechte Behagen nicht aufkommen will. Als ich durch die niedrigen Fenster hinaus auf den Kahlschlag sah, kam ich darauf. Es war das grünliche Licht, das die alten Bäume rings ums Haus bei uns in allen Zimmern verbreiten, darin man sich so geborgen und gemütlich fühlt. Hier lässt das harte Sonnenlicht alles doppelt nüchtern und kahl erscheinen.
Es gab Korbmöbel mit Baumwoll- oder Cretonnebezügen, Schilf- und Grasmatten, Schlangenhäute, Bücherkisten und über das einzige Löwenfell, das schüchtern in der Kaminecke hing, sagte der Hausherr: „Das stammt noch aus den Zeiten, als man Geld hatte Grosswildjagden auszurüsten, ein Wunder, dass die Motten noch nicht drin sind.“
Die Wirklichkeit sah anders aus. Auch die großen Pflanzer rauchten bloß selbst gedrehte Zigaretten, und die nur sparsam, weil Tabak Bargeld kostet. Auch Whisky gab es nicht, weil er Bargeld kostet. Man trank das was einem zuwuchs: Fruchtsaft. Dem „alten Afrikaner“ ist der Alkohol zu kostbar als Durstlöscher, er ist ihm hauptsächlich Medizin, bei vielen Arten von Krankheiten.
Was mich aber bei meinen ersten Besuchen wirklich enttäuschte, war die unglaubliche Rede- und Fragelust der „alten Afrikaner“.
Kaum hatte der Gastgeber mich auf einen Stuhl gedrückt, so überfiel er mich mit einer Sturzflut von Fragen. Ich konnte nicht umhin, diese kindliche Neugier wenig männlich und würdig zu finden. Nach den banalsten Dingen fragte er mich aus. Was kostet drüben eigentlich eine Wohnung? Was bezahlt man noch extra für Licht, Gas, Wasser, Müll? Alle diese komischen Dinge!
In welchen Berufen hat man noch Aussicht? Was verdient so ein Durchschnittsangestellter? Ist es sehr kostspielig einen großen Garten zu haben? Was kostet eigentlich Brot? Fleisch? Milch? Kann man sich Kino und Theater jede Woche leisten? Ist ein Auto unerschwinglich? Muss man eigentlich Steuern für das bloße Leben bezahlen? Und die Bürokratie, mischt die sich wirklich in alles hinein? Und so fort. Ich hatte zu Hause erst eine zeit lang Wirtschaftslehre studieren müssen, wenn ich alles richtig hätte beantworten sollen.
Sind das Probleme für den Besitzer vieler hundert Morgen jungfräulichen Bodens? Für den Herrn über eine kleine Fak­torei, über hundert und mehr schwarze Seelen? Er fragte wie ein Spießer nach lauter Alltagskram. Und schließlich will man doch auch einmal zu Wort kommen und etwas über Afrika hören.
Gewiss, ich bekam auch allerlei aus dem Busch zu hören, aber es kam mir vor, als wären es alles nur endlose Tratschgeschichten über andere Pflanzer. Besonders, wenn außer mir noch ein „alter Afrikaner“ zu Besuch da war, dann war des Schwätzens kein Ende, als ob man die Schleusen eines lang angestauten Stromes geöffnet hätte. Ganz heimlich fand ich die Pflanzer ein bisschen unmännlich. Ein Mann, der im Kampf mit dem Urwald, mit Fieber, Schlangen, Raubtieren, mit Naturereignissen und fremden schwarzen Völkern ergraut ist, der .Entbehrungen aller Art kennt und dem Tod oft genug ins Auge geschaut hat, der sollte männlich schweigen oder aber von Helden­taten reden. Ich wollte nicht den letzten Rest von Romantik aufgeben, der mir noch immer im tiefsten Herzenswinkel steckte.
Nun aber fragte man mich ganz einfach, was ich eigentlich in diesem komischen Lande wolle. Eine Frage, die mich aus der Fassung brachte. Die Antwort sollte dieses Land selbst geben und die „alten Afrikaner“ sollten mir helfen, diese Antwort zu finden. Sie sollten mich ihr Land richtig erkennen, lieben und bezwingen lehren. Das wagte ich aber nicht recht zu sagen.
Ich glaube, ich wurde sogar rot und ich antwortete vorsichtig, dass ich vielleicht, trotz allem, noch ein Pflanzer werden könne. Es kam mir so vor, als sähe mich mein Gastgeber etwas mitleidig an. Welche Ungeheuer waren es nur, die im Hintergrund auf mich lauerten, die sie kannten, ich aber noch nicht. Nach verschiedenen solchen Besuchen, bei denen ich immer schärfer zuhörte, dämmerte es mir, welches Ungeheuer es war, das den weißen Mann zu verschlingen drohte. Es war dasselbe Gespenst, mit klappernden Knochen, das mich und meinen Freund aus Europa verjagt hatte. Die wirtschaftliche Not! Sie trat mir auf diesen neuen Erdteil unter den Weißen noch nackter ent­gegen, als daheim. Hier saßen die Pflanzer, mitten im Überfluss wie es schien, aber ohne bares Geld. Aus den Familien und Schicksalsgeschichten der Nachbarn, die ich bei mir mit „Tratsch“ bezeichnet hatte, hörte ich es heraus, was alle „alten Afrikaner“ gleich bewegt: Wirtschaftliche Not hatte sie aus der alten Welt heraus getrieben. Sie waren gekommen, um ihr Glück zu machen. Das gefundene Glück aber, auf diesem heißen Boden war so karg, dass sie alle längst nach Europa zurückgekehrt wären, um dort wieder anzufangen, wenn sie nur den Mut und das nötige Bargeld hätten aufbringen können.
Soviel sie auch hier aufgebaut hatten, ihre Gedanken und Träume kreisten stets um „drüben“. Aber ich wollte diese Sorgen einfach nicht zu ernst nehmen. Ich wollte vorwärts schauen und nicht zurück ins alte Land, das ich mit so viel Schwierigkeiten endlich verlassen hatte. Ich versuchte also um jeden Preis, endlich etwas wirklich „aus dem Busch“ zu erfahren. Es gelang mir auch ver­schiedene Abenteuergeschichten aus der Wildnis zu hören, aber diese Erzählungen hatten meistens einen Stich ins Humoristische oder gar Selbstbespöttelnde, der mich heimlich ärgerte.
Konnten meine Nachbarn denn nichts recht ernst nehmen? Ich wollte dramatische Berichte hören. Womöglich mit tragischem Ausgang. Ich wollte mich ein bisschen gruseln. Es langweilte mich, wenn ich von einem Pflanzer hörte, der umgekommen war und es war etwas so alltägliches wie Fieber oder ein Leberleiden gewesen, das an seinem Tode schuld war. Ich hörte von keinem „alten Afrikaner“, der von Löwen oder Leoparden gefressen oder nur umgebracht worden wäre. Nur von einem einzigen Pflanzer in der Gegend wusste man, dass er durch einen Panther zu Tode gekommen war. Aber er war ganz in der Stille, in seinem Bett einer Blutvergiftung erlegen. Der Prankenhieb des Panthers allein war nicht die Ursache, sondern nur seine schmutzigen Krallen.
Ich bekam gar nichts von Meuchelmord mit giftigen Pantherhaaren im Essen zu hören und gerade dies Thema beschäftigte meine Fantasie. Hatte ich es doch als wahr und verbürgt erst kürzlich gelesen, dass das heute noch vorkommen sollte. Schließlich fragte ich doch einen Pflanzernachbaren danach: „Nee, nee. So was kommt bei uns nicht vor. Zum Glück haben wir solche Kerls nicht!“, war die Antwort, nach vergnügtem Kopfschütteln. „Die bleiben nicht, wenn sie sich mal her verirren.“, rief nun ein anderer Nachbar. „Die reisen bald wieder ab“.
„Wieso?“; fragte ich erstaunt, „Sie reisen wieder ab, diese Schwarzen? Wohin?“ Dröhnendes Gelächter - nun hörte ich einmal richtiges raues Buschmanngelächter.
„Die Weißen, Junge, die Weißen!“ Nämlich so war es gemeint: Wenn unsere Schwarzen wirklich einmal zu diesem infamen Mittel greifen, um einen Pflanzer loszuwerden, so ist dieser Weiße sicherlich ein ganz übler Kunde, der seine Macht missbraucht oder sich taktlos in geheime, überlieferte Religionsbräuche der Eingeborenen eingeschlichen hat. Wer seine Neger vernünftig behandelt kann nachts ruhig schlafen und das Essen, das der schwarze Koch bereitet, hinunterschlucken. „Ein gut Gewissen, ein sanftes Ruhekissen“, das ist hier genauso wie drüben in Europa.
Ich schwieg. Es war nicht das erste Mal, dass ich unter Pflanzern das Gefühl hatte, eins aufs Dach zu kriegen. Das war schlimm für mich, aber ich lernte dabei. Ich fragte nur noch sehr wenig, hörte aber fleißig zu. Hier konnte ich lernen Afrika richtig zu sehen.
Wenn ich von solchen Besuchen wieder heim kam, in den gemütlichen Schlendrian auf unserer bescheidenen kleinen Pflanzung, sah ich vieles, was mir bisher entgangen war. Ich hatte auch schon begriffen, welches die beiden Kardinalfehler waren, die mein Freund und ich begangen hatten, als wir auswanderten: Erstens hätten wir nicht so romantisch sein sollen, in den aller entlegensten Busch zu gehen, wo das Land fast unberührt ist und die Schwarzen noch richtige Naturkinder sind. Das Wichtigste für den Pflanzer, seine Lebensadern, sind kurze und gute Wege zum nächsten Umschlag­hafen, zumindest in der Nähe einer Handelsstadt, zu der er keine langen Transporte bezahlen braucht. Zweitens hätten wir in Europa soviel Geduld haben sollen und noch etwas sparen oder aber einen größeren Kredit zu beschaffen, ehe wir ausreisten.
Das Geld hätten wir vor allem in unsere Pflanzung hineinstecken müssen. Wo man nichts rein gesteckt hat, kann man sich nicht viel herausholen. Das gilt für Afrika wie für Europa. Wir hätten roden, neue Kulturen anlegen, junge Fruchtbäume setzen, noch mehr Vieh anschaffen, mit einem Wort, die vernachlässigte Pflanzung wieder auf die Beine bringen müssen.
So, wie wir es gemacht hatten, standen wir, von vorne herein, vor einem Berg von Schwierigkeiten, die erst in einem Jahrzehnt vielleicht, allmählich überwunden werden könnten.
Das sah ich nun alles ein. Mein Freund Nickel, obwohl er es nicht so deutlich aussprach, war sich auch darüber klar geworden. Aber, was half es? Es war sinnlos, sich darüber zu grämen, man musste eben irgendwie durchkommen.
Es begann mir klar zu werden, dass ich niemals ein rechter Pflanzer werden würde. Regenurwald
Eines Tages machte ich mich auf und marschierte sechs Stunden weit durch dem Busch, um meinen Nachbarpflanzer, Stenglin aus Niedersachsen. Er war, trotz zwölf schweren Jahren im Busch jung geblieben.
Ich fragte ihn um seinen Rat: „Meine Schwarzen sind oft so albern“, beklagte ich mich, „Sie kichern wie die Schulmädels. Soll ich es ihnen verbieten? Ich komme mir ganz blöde dabei vor.“ Mein Nachbar schmunzelte. „Ach wo – verbieten! Bloß keine Kleinlichkeiten. Lassen sie ihre Schwarzen albern, dann richten sie sonst nichts an. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn die Neger erst mal mit saurer Miene arbeiten, bleiben sie in den nächsten Tagen ganz von der Arbeit weg. Und was wollen sie ohne Arbeiter tun, in dem mörderischen Klima? Weder sie noch ich können Unkraut hacken bei vierzig Grad im Schatten. Lassen sie sie nur, wie sie sind. Aber vor einem hüten sie sich: Blamieren sie sich nicht vor ihren Schwarzen, sonst lachen sie über ihren weißen Herren. Ich hab' mich mal schön dumm benommen; da hatten sie Grund zu kichern!“ „Erzählen sie“, rief ich: Ich konnte nie genug von den Erlebnissen meiner im Busch ergrauten Nachbarn hören, sie waren die reinsten wandelnden Geschichtenbücher.
„Als ich herkam“, begann er, „war noch alles unberührt: Mitten im Regenurwald hatte ich eine Pflanzung zu errichten. Mit mehreren Dutzend schwarzen Arbeitern zog ich hinaus und beaufsichtigte das Auslichten des Waldes. Diese Arbeit genoss ich, denn ich fühlte mich als Herr des Urwalds, als „weißer Gott“ über schwarze Kreaturen und über alles Getier, das da kreuchte und fleuchte. Ich sollte Verwalter auf der neu zu errichtenden Pflanzung werden und „fühlte“ mich entsprechend – ich war eben noch jung. Ich war stets mit Flinte, Messer, Fangnetz und Zeissglas ausgerüstet, denn mein Traum war es, ein unbekanntes Tier lebend zu erbeuten, zu Hagenbeck zu schicken und in alle Zeitungen oder gar in die Wochenschau, die damals noch ganz neu war, zu kommen. Das vertrug sich zwar schlecht mit meiner Arbeit, denn ich war damals noch Volontär, später Verwalter auf einer deutschen Pflanzung.
An einem heißen Tag nun hatte ich wieder mal meine Jägeraugen überall in den Baumwipfeln oben, anstatt bei meinen rodenden Arbeitern. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen – da bewegte sich ein Tier, das ich noch niemals, nicht einmal im Naturkundeatlas gesehen hatte! Das musste ich haben. Ich bedeutete meinen Negern durch Zeichen ganz still zu sein und pirschte mich an. Es war weder Affe noch Marder, noch Baumechse, noch Wildkatze, aber allen ähnlich. Lautlos hüpfte es von Baumkrone zu Baumkrone, von dichten Blättern gedeckt. Ich schlich hinterher, atemlos vor Jagdeifer. Sicher war es irgendein übrig gebliebenes Urwelttier, das noch keines Menschen Auge erspäht hatte. Ich geriet so weit ins Dickicht, dass ich fürchten musste, die kostbare Beute aus den Augen zu verlieren. So brachte ich meine flinken Neger durch Zeichen dazu, einen Halbkreis zu bilden und als Treiber zu helfen. Chipeta, mein bester Neger, musste auf einen Baum klettern, auf dem das Tier gerade gelandet war, um es zu ergreifen. Aber nachdem es den Verfolger ruhig ganz nah heran gelassen hatte, schnellte es auf den nächsten Baum. Wir unten hörten nur das Klatschen der Blätter und sahen einen Schimmer seines dunklen Fells. Nun mussten meine Schwarzen es mit Schreien, Hände klatschen und an den Baum schlagen von einem Baum zum anderen scheuchen und zwar so, dass es zu der Lichtung hin gedrängt wurde, die wir frei geschlagen hatten. Es war eine schweißtreibende, aufregende Jagd. Das unbekannte Tier oben war stark im Vorteil, denn es stolperte nicht wie wir über Äste, Stümpfe, hakte sich nicht im Strauchwerk und Lianen fest, geriet nicht in Sumpflöcher und hohle Stämme, die Mulm auspuffend den Fuß verschluckten! Aber ich ließ nicht locker und feuerte meine Helfer immer wieder an, ihnen eine extra Hand voll Salz als Lohn versprechend. Schließlich hatten wir es erreicht, dass das Tier auf die Lichtung hinaus musste. Es hüpfte in unbeholfenen Sätzen über den Kahlschlag und war im Nu auf dem einzigen Baum weit und breit, einem schönen Affenbrotbaum, gelandet. Wir hatten ihn stehen lassen, weil er das Haus beschatten sollte.
Das war genau das, was ich vorausberechnet hatte! Auf diesem Baum konnten wir es stellen. Ich war rasch hinterher gerannt, stand unter dem Affenbrotbaum, wandte keinen Blick von oben und rief dabei meine Leute zusammen, die sich im Kreis um mich versammeln mussten, dicht bei­einander stehend, dass das Tier nicht entwischen könne. Chipeta wurde nach einer großen Axt geschickt, mich selbst stellte ich nun außerhalb des schwarzen Kreises, mit dem Fangnetz in der Hand. Als Chipeta zurück kam, befahl ich ihm den Baum unverzüglich zu schlagen. Das kostbare Tier war sicher einen Affenbrotbaum wert. Davon gab es ja Tausende ringsum.
Ich spürte mehr als dass ich es sah, wie Chipeta zögerte, wie alle anderen Schwarzen sich Blicke zuwarfen und schmunzelten, als gäbe es ein heimliches Vergnügen. Aber ich beachtete es nicht. Sollten die albernen Kindsköpfe ruhig grinsen. Der weiße Herr wusste was er wollte! Das Tier saß unter Palmwedeln versteckt in der Krone und schien sich völlig sicher zu fühlen. „Los, Chipeta, schlag' fest zu!“ rief ich, „und wehe Euch andern wenn ihr es entwischen lasst! Passt alle auf, wenn es aus dem gestürzten Baum hervor kommt. Ihr könnt es leicht greifen!“ Grinsend nickten meine Neger und Chipeta schlug hart zu. Der Affen­brotbaum bebte. Das seltsame Tier oben verhielt sich ganz still. Der Affenbrotbaum ächzte, wankte. Nach oben starrend wichen alle zurück. Als der Stamm aber an der Schlagstelle auf knirschte, da hob sich etwas sanft aus seiner Krone und glitt hoch oben über unseren Köpfen im eleganten Segel­flug davon. Ich war vor Verblüffung nicht mal im Stande zur Flinte zu greifen. In sicherer Ent­fernung setzte das Tier unten auf und nun, unerreichbar für uns, hüpfte es in langen Sätzen ins Gestrüpp. Ehe ich mich gefasst hatte war es im Urwald untergetaucht. Dass meine Schwarzen nun kicherten wie die Backfische brauche ich ihnen wohl nicht versichern. Ich muss gestehen, dass ich sie an schrie, völlig humorlos.
Es hat lang, sehr lange gedauert, bis ich in der Lage war über meine Heldentat zu lachen.“
„Aber was war es denn für ein Tier, das sie so an der Nase herumgeführt hat?“ fragte ich, „Wenn es richtig hätte fliegen können, dann wäre es doch gleich entwischt und hätte sich nicht so lange jagen lassen!“
„Es war ein fliegendes Eichhörnchen, die können nur segeln und zwar nur von oben mit ihren Fallschirmhäuten.“, erklärte er. „Wenn ich Esel es nicht erst mühsam auf einen Baum gejagt hätte, der frei stand, hätte es seine Flughäute gar nicht gebrauchen können! Im Dickicht war es nur ein guter Springer. Die Schwarzen kannten das Biest natürlich – sie sind ja gute Tierkenner. Aber ich war viel zu überzeugt von meiner Würde, um auf die Idee zu kommen, sie um Rat zu fragen. Ich befahl einfach und hatte dafür eine Niederlage.
Also lassen sie sie albern, nur hüten sie sich, ihnen Grund zu geben über sie zu lachen. Das fliegende Eichhörnchen hat mich gelehrt vorsichtig zu sein.“
Der Eierdieb
Ich selbst hatte vorläufig kein Glück mit großen und kleinen Buschungeheuern; es begegneten mir einfach keine. Vielleicht gerade, weil ich auf sie so neugierig war. Auf den Pflanzungen rings um tauchten in dieser Zeit aber immer wieder geheimnisvolle Buschtiere auf, mit denen meine Nachbarn die seltsamsten Abenteuer erlebten. Graf X war so ein Nachbar, bei dem immer etwas geschah. Ihn schienen die Abenteuer geradezu aufzusuchen.
Ich kannte ihn wohl, er war langnasig und unschön, aber nicht unsympathisch. Ein seltsamer Kauz von einem Junggesellen, wie sie eben das Buschleben hervorbringt. Er hatte früher sehr viel Geld vertan und war wegen einer romantischen Geschichte, dunkel wie ein Hintertreppenroman, aus der alten Welt in ein neues Leben herüber gewechselt. Er war tüchtig und hielt seine Pflanzung gut im Schuss. Er war ein vollkommener Buschmann geworden, der vom europäischen Leben nichts mehr wissen wollte. Ein paar liebe alte Gewohnheiten aus seinem anderen Leben als märkischer Gutsbesitzer mochte er nicht ablegen. So hielt er darauf, den Tag mit einem schwer beladenen Frühstückstisch zu beginnen, die anderen Mahlzeiten waren ihm nicht so wichtig. Vom ausgiebigen Frühstück hing seine gute Laune ab.
Sein schwarzer Koch kannte seinen Herrn wohl und bereitete ihm stets einen für Buschverhältnisse geradezu luxuriösen Morgenimbiss. Besonders durfte eine Eierspeise, nach streng gehütetem französischem Rezept, niemals fehlen. Es war eine Art Rührei mit eigentümlichen Gewürzen, Pfifferlingen oder Fischen. Die Zusammensetzung verschob sich ein wenig, je nach der Saison. Niemals aber durfte die Grundlage, drei Eier, fehlen. War der Graf aber Tags zuvor auf der Jagd gewesen, so musste diese Grundlage auf das Doppelte erhöht werden. Der Graf konnte sich das leisten, er hatte ein Dutzend wohl gehaltener, viel bewunderter Zuchtenten in seinem Stall.
Eines Morgens nun, als die Orangenblätter draußen vor Frische glänzten, als es summte und brummte von Bienen, als die Schwarzen in den nahen Kaffeekulturen schwätzten und kicherten, dass man es bis herüber hörte, setzte sich der Graf in strahlender Laune an seinen Frühstücktisch und stand mit finsteren Wetterwolken auf der Stirn wieder auf, obwohl der Tisch voll von guten Sachen war. Als der Patrão9 aus dem Hause kam, verschwand der Koch geschwind in seinem Küchenhaus. Das Gewitter ging noch einmal vorüber, der Herr sagte nichts.
Am nächsten Morgen, wieder ein frischer Morgen und ein wohl gelaunter Graf, der sich an den vollen Tisch setzte und ein übel gelaunter, der davon wieder aufstand. Diesmal konnte der Koch nicht entwischen. Der Graf brüllte mit Donnerstimme ins Küchenhaus hinein: „Ossenge!“. Ossenge strich die weiße Schürze glatt und kam zögernd herbei.
„Ich kann nichts dafür, Patrão, wahrhaftig nicht! Kein Ei im Stall, seit zweimal die Sonne unterging, kein einziges. Ich musste die Speise ohne Eier machen, Patrão.“
Der Graf schwieg und zeigte auf den Entenstall, in den eben eine behäbige, wohlgenährte Ente ins Türchen hinein watschelte.
„Was meinst du, was sie drinnen tut?“, sagte er trocken, „Sie hätte doch die anderen nicht allein zum Teich vorausgehen lassen, wenn sie nicht ein wichtiges Geschäft drinnen hätte!“
„Legen wird sie.“, antwortete Ossenge.
„Mittags gehst du hin und schaust nach, ich will wissen ob sie legen oder nicht!“.
Anstatt zum Kaffee, ging der Graf ins Bananenwäldchen und Ossenge hörte, wie er laut befahl, eine Bananenstaude um zuschlagen. Er holte das verschmähte Frühstück nach.
Als der Graf mittags auf den Hof trat, kam Ossenge ihm entgegen, stolz ein Ei in der erhobenen Hand. „Es ist noch warm, Patrão,“, sagte er grinsend. Stumm nahm ihm der Patrão das Ei aus der Hand, klopfte es gegen die Mauerkante und trank es aus.
„Morgen Rührei von sechs Eiern.“, befahl er, „Seid nur nicht so faul und sucht abends richtig im Stall.“
Am nächsten Morgen aber spielte sich dasselbe ab, wie schon zwei Mal zuvor. Der Pflanzer sprang wütend vom Tisch auf, der Koch beteuerte es sei kein einziges Ei im Stall gewesen. Seit vier Tagen schon.
„Es muss ein Zauber sein, Patrão.“ Der Pflanzer brüllte nicht, er sagte nur ganz kurz: „Ich muss einen andern in die Küche nehmen und dich zum Hacken auf das Kaffeefeld schicken. Ich brauche einen ehrlichen Koch.“ „Nie, nie habe ich nur ein einziges Ei genommen, Patrão“, schrie der Koch verzweifelt, „tut mir das nicht an. Werft mich nicht raus wie einen Dieb. Ich bin ehrlich, Patrão“. Er schlug sich an die Brust.
„Wo bleiben dann die Eier? Es müssen sechs bis acht täglich sein.“
Ossenge kam näher, verdrehte die Augen und flüsterte leise: „Die große Zauberschlange, Patrão, sie wird die Eier aufessen.“
„Ausreden! Ihr mit eurem Zauber. Denk dir einen anderen Unsinn aus.“, rief der Pflanzer, „Schlangen fressen keine Eier, wer hätte so einen Unsinn je gehört. Noch dazu ein halbes Dutzend täglich.“
Der Koch sah den Herrn mit komischer Verzweiflung an und sagte nichts mehr. Er schlich sich in seine Küche und sein brauner, von Schweiß glänzender Rücken sah beleidigt aus. Sein Herr sah ihm sinnend nach. Im Grunde seines Herzens hielt er den Koch für ehrlich.
Noch zwei weitere Tage frühstückte der Graf ohne Ei und die tiefen Falten in seiner von der Sonne gegerbten Gesichtshaut wurden fast zusehends noch tiefer.
Am dritten Tag, als seine schwarzen Arbeiter zum Essen holen auf den Hof kamen, ließ er nur den Mais austeilen, die Zukost aber, kleine Flussfische, hielt er noch zurück.
„Wer von euch weiß, wohin alle meine Enteneier verschwinden?“, rief er in die versammelte Menge hinein. Die Schwarzen schüttelten schweigend die Köpfe; keiner wusste etwas.
„Es muss ein Dieb auf dem Hof sein, wer von euch hat ihn gesehen?“, ging das Examen weiter. Wieder betretenes Kopfschütteln.
Aber dann trat ein kecker, junger Bursche vor und sagte, er wisse wohl, wer es sei. Er kam näher und dämpfte unter lebhaftem Augenrollen die Stimme:
„Die große Schlange wird sie holen! Sie kommt herbei, wenn die Sonne sinkt.“
„Schlangen fressen keine Eier!“, rief der Graf im tiefsten Bass seiner ganzen Autorität, „Das sind Ausflüchte. Sicher hat der Dieb zwei Arme und zwei Beine wie ihr. Eine Schlange, die jeden Tag über eineinhalb Dutzend Eier frisst, das müsste ja eine Elefantenschlange sein. Wer hat sie denn gesehen?“
Es stellte sich heraus, dass keiner die Schlange mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Graf lächelte spöttisch. Er kannte doch seine Schwarzen und wusste genau, in welch große Aufregung sie gerieten, wenn sie eine Schlange sahen. Manche rannten schreiend davon, manche gingen zornig mit Stöcken auf sie los und versuchten ihr das Rückgrat zu zerschmettern. Hass und Angst malten sich stets auf ihren Zügen. Gleichgültig einer Schlange gegenüber blieb ein Schwarzer niemals. Er betrachtet die Schlange als Erbfeind.
Also bitte, woher wollten sie wissen, dass es eine Schlange sei, die die Eier fräße, wenn sie sie nicht gesehen hätten?
Sie hätten sie eben bemerkt, war die merkwürdige Antwort.
Der Graf seufzte in sich hinein. Das war wieder so eine verfluchte Kaffern10auskunft. Da soll der Teufel daraus klug werden! Der Graf wusste aus mancherlei Erfahrung, dass die Neger mit solchen eigentümlichen Behauptungen meistens recht behielten, besonders, wenn es sich um die Gewohnheiten irgendwelcher Buschgeschöpfe handelte. Aber was sollte man mit solchen dunklen Auskünften? Er konnte sich nur an Tatsachen halten und die waren bitter: Die Eier waren weg.
Dies Mal kam ihm auch die Behauptung der Schwarzen allzu märchenhaft und billig vor. Die Vermutung lag nahe, dass man ihn an der Nase herumführte. Der geringe Wortschatz der Umbundu-Sprache kam noch als Hilfe dazu, wenn sie Ausflüchte machen wollten. Man verstand sie ja sowieso nur zur Hälfte. Das war zwischen schwarz und weiß nun einmal so.
Er musste die Leute heimgehen lassen, es kam nichts bei der Sache heraus. Sie blieb dunkel.
Der Graf war nicht umsonst ein alter Buschmann. Die eigentümliche Gelassenheit, die sich jeden Pflanzers mit der Zeit bemächtigt, half ihm über sein Pech hinweg. Er frühstückte nun immer ohne Ei, holte sich hinterher sein Büschel Bananen und ließ alles gehen, wie es eben ging. Er fügte sich in sein Verhängnis, wie man sich in alle Unbegreiflichkeiten dieses Landes fügt.
Nach fast einer Woche, als der Graf sich an eierlose Kost gewöhnt hatte, wie an Sandflöhe oder Moskitos, kam eines Tages, als die Sonne eben unterging, Ossenge ins Haus gelaufen, noch zwei aufgeregte Schwarze mit ihm.
„Patrão, Patrão, die große Schlange ist im Stall!“, rief er durch alle Räume, „Sie isst die Eier auf.“
Der Graf sprang auf, dass sein Stuhl umkippte, nahm sein Terzerol11 vom Haken an der Wand, riss fluchend alle Schubladen auf, um Munition zu suchen, dann lud er die schwerfällige, widerspenstige Waffe. Die aufgeregten Schwarzen sahen respektvoll seinem langen Hantieren zu.
„So lauft doch, Dummköpfe, und passt auf, dass sie nicht entwischt. Ich muss die Kanaille kriegen!“ rief er in zorniger Nervosität.
Der Entenstall war weiter nichts als ein schmaler, niedriger Anbau am Vorratshaus. Er wurde sorgsam umzingelt, die Ausschlupfe geschlossen. Die Enten, die sich still und bang an die Hauswand drückten, ohne sich in Stallnähe zu wagen, begannen leise zu wispern, als die Schwarzen nun auf Befehl des Patrão begannen, das Strohdach vorsichtig abzudecken. Der Graf stand da, das Terzerol im Anschlag und lauerte. Kaum kippte das Dach in die Höhe, da sah er den mächtigen Leib einer großen Schlange glänzen. Sie sah unheimlich aus. Ihr Körper war aufgebläht von dicken Beulen, die oberste davon saß nicht weit hinter dem Kopf.
Der Schuss krachte. Der Graf hatte auf den Kopf gezielt. Er glaubte auch getroffen zu haben, aber die gelben Spritzer, die heraus quollen, zeigten ihm, dass er eins der verschluckten Eier erwischt hatte. Bei dem Fluchtversuch, den das Tier jetzt machte, kam er wieder zum Schuss. Diesmal zerschmetterte die Kugel den Schädel. Die Schwarzen erhoben ein Triumpfgeheul, als ob er einen Löwen erlegt hätte. Der Patrão warf die rauchende Pistole beiseite und besah sich die seltsame „Strecke“. Da stellte er fest, dass die Schlange noch weitere fünf Eier im Leib hatte. Sie hatte das ganze Nest leer gefressen und die Speise noch nicht einmal verdaut.
Ossenge durfte den Leib seiner Feindin aufschneiden, die ihn fast um seine Ehre gebracht hätte. Er brachte alle fünf Eier heil zum Vorschein und sein Herr verzehrte sie mit Hochgenuss zum Abendbrot. Der Balg der Schlange wurde mit Asche behandelt und im Esszimmer an die Wand gehängt.
Jeden Morgen, beim Frühstück, konnten sowohl der weiße Herr, als auch der schwarze Koch sie mit Genugtuung betrachten.
Der Graf revidierte seine zoologischen Kenntnisse und merkte sich, dass Schlangen Enteneier nicht verachten. Wenn das auch in keinem Tierbuch steht, im Busch ist eben vieles möglich. Buschschlangen richten sich nicht nach europäischen Fachbüchern. Jedenfalls verdächtigte der Graf seine Schwarzen nicht wieder einer Lüge, ehe er einer Sache richtig auf den Grund gegangen war.
Ich werde Medizinmann
„In den Tropen muss man sein eigener Arzt sein.“ Dies hatte ich daheim in den Büchern gelesen, hatte es aber, da ich es nebensächlich fand, bald wieder vergessen. Ich war nicht auf die Idee gekommen, vor der Auswanderung etwa ein Kurs in Erster Hilfe durchzumachen oder mich sonst irgendwie auf medizinische Aufgaben vorzubereiten. Alles was ich von Erster Hilfe verstand, war, wie ich einen beim Tennis verstauchten Fuß mit kalten Umschlägen behandeln musste. Ich konnte eine Kater oder Halsweh mit Aspirin kurieren und Schnitt- oder Schürfwunden mit Jod bepinseln, wie ich es in meiner Lausbubenzeit erfahren hatte. Vor Blut fürchtete ich mich also nicht gerade, das war aber auch das Einzige, was mich zum Arzt tauglich machte.
Als ich im Busch ankam, fand ich von unserem Vorgänger ein zerlesenes Buch: „Ratgeber für Tropenreisen“ vor. Hieraus bekam ich meinen ersten Anschauungsunterricht über Klima, Bakterien, Tiere in der Wildnis und andere Gefahren, die den weißen Mann bedrohen. Ich lernte allerlei praktische Weisheiten. Dass sich Pflanzer die Zähne selber ziehen können, wenn nur eine Zahnzange zur Hand ist, dass man auf einer einsamen Pflanzung nicht ohne Morphium sein darf, denn alle Arten von Schmerzen können den Einsamen überfallen. Dass man veraltetes Chinin11 mit größter Vorsicht benutzen sollte, weil Lebervergiftungen auftreten können. Dass man einen Menschen, der von der Kobra gebissen wurde, unentwegt umher jagen müsse, um ihn am Einschlafen zu hindern, und so weiter...
So kam es, dass ich also als angehender Angolaner eine nebulösen Wust von allerlei dräuenden Gefahren in meinem Kopf hatte. Eins wurde mir klar, nachdem ich dieses aufschlussreiche Buch gelesen hatte, wenn man nicht an gelbem, schwarzem oder Schlaffieber einging, so ging man eben an Fleckfieber, Wundstarrkrampf, Tollwut, Schlangenbiss, Blutvergiftung, Amöbenruhr oder am Hakenwurm ein. Sofern einem nicht Pantherhaare ins Essen gemischt wurden. Das nette zivilisierte Hafenstädtchen Lobito hatte den düsteren Namen „the grave of the white man“ - das Grab des weißen Mannes. Ich merkte nicht gleich, dass es ein ehrwürdiges Buch aus dem Anfang dieses Jahrhunderts war und dass viele dieser schauerlichen Krankheiten heute halb so schlimm sind.
Mein Freund Nickel, der das kluge Buch nach einem kurzen Einblick als zu „unappetitlich“ sowohl innerlich als auch äußerlich wieder weggelegt hatte, beobachtete mit stillem Interesse, mit welcher Inbrunst ich darin las. Eines Tages kam er, mit gewisser Feierlichkeit, in mein Zimmer und übergab mir die Hausapotheke. Ich sei sicher zum Arzt geboren. Ablehnen konnte ich diese ehrenvolle Aufgabe nicht, ich repetierte nervös, was ich aus dem Buch gelernt hatte. Für den praktischen Gebrauch war es nicht das Rechte.
Ich nahm also das Amt des Medizinmannes an. Bisher war ja wenig genug von mir verlangt worden: Mal ein Auge auf die Schwarzen werfen, ein bisschen Basteln, Rechenkunststücke für unsere gemeinsame Wirtschaftskasse machen.
Dass Nickel die Hausapotheke behielt, konnte man sowieso nicht recht verantworten. Wie alle großen Künstler war er stets leicht zerstreut. In seinem Zimmer trieben sich unendlich viele Öl-, Farb- und Terpentinfläschchen herum, die allzu leicht mit der Jod- oder Rizinusflasche verwechselt werden konnten. Und im entscheidenden Augenblick, wenn ein verunglückter Hausgenosse um Hilfe schrie, wäre sicher die Hausapotheke hinter einer frisch betünchten Leinwand oder dem Riesenmodell einer Büste verschwunden gewesen.
Nickels Frau kam nicht in Betracht, weil eine Frau im Busch nun mal nicht Medizinmann sein kann. Es galt also für mich, nur mit Mut an die Sache ran zugehen.
Wir waren eben richtige Pflanzerneulinge, wie sie gewöhnlich von drüben kommen, vollgepfropft mit allerlei Wissen, aber ohne Ahnung von dem, was sie am Nötigsten zum Leben brauchen.
Verantwortungsbewusst wie ich war, nahm ich mir einen ganzen Tag, um die Hausapotheke auszuräumen. Sie war reichhaltig, aber vieles war alt und eingetrocknet, denn sie stammte noch von unserem Vorgänger. Ich warf gestocktes Jod heraus, trennte verklebte Pulverpäckchen, entfernte alte Chininampullen und Döschen unkenntlichen Inhalts, entwirrte verfitzte Binden, kochte, trocknete und bügelte sie, wickelte sie auf und ordnete sie in Reih und Glied. Die notwendigsten Mittel kamen in die vorderste Reihe: Chinin, Atebrin, Aspirin und Jod. Eine riesenhafte Klistierspritze wurde als zu unhandlich verbannt, an seine Stelle kam eine extra große Rizinusflasche. Das Morphium, ich hatte schon eine kleine Liste mit den nötigsten Medikamenten aufgestellt und ein Schwarzer hatte sie auf der Station besorgt, bemalte ich mit einem schönen Totenkopf. Es kam in die hinterste Reihe, die frisch ausgekochte Injektionsspritze daneben. Frische Borsalbe, altes Leinen, Schere und Sicherheitsnadeln kamen ganz nach vorn.
Alles machte ich gewissenhaft und mit Genuss, weil es meine erste wirkliche Arbeit im neuen afrikanischen Leben war. Mochten die Wildtauben im Busch locken, so viel sie wollten, heute konnte ich mein Entdeckungsfieber gut bezwingen. Herumstrolchen allein ist eben doch nichts für einen ausgewachsenen Mann.
Nun hätte meine Praxis beginnen können, aber sie beschränkte sich vorläufig auf das Verteilen von Chinintabletten, die wir alle vorbeugend nahmen. Ich wollte doch besser etwas lernen, bevor ich zu quacksalbern anfing. Bei einem hilfsbereiten Nachbarn bekam ich ein richtiges Fachbuch der Tropenmedizin, dickleibig und mit aufgeschnittenen Menschenleibern geschmückt. Darin studierte ich nun eifrig und übte mich heimlich im Verband anlegen, Köpfe von Ampullen absägen, Spritzen geben, subkutan und intramuskulär, ganz nach Vorschrift des Buches. Der Wälzer lag fortan immer auf meinem Nachttisch, was einen sehr wissenschaftlichen Eindruck machte.
Die erste, die meine neue Würde zu spüren bekam, war meine Schlafgenossin, eine Fledermaus. Ich war ihr sehr zugetan, weil sie mir jeden Abend gewissenhaft die Mücken weg fing, ehe sie sich über meinem Bett zum Schlafen auf hing, natürlich kopfüber. Das war ihr Stammplatz, sie krallte sich in die Schilfmatte, die meine Zimmerdecke bildete. Wahrscheinlich behagte ihr die leichte Wärme, die von der verlöschenden Petroleumlampe ausging. Bisher hatte ich ihr manches nachgesehen, weil mir ihre Vertraulichkeit gefiel, aber wenn ihr jetzt etwas im Schlaf passierte, dann traf es mein gewichtiges Studienbuch. Und das ging natürlich nicht. Ich schob sie jeden Abend von ihrem Platz weg, bis sie endlich begriff und sich weiter unten zum Schlafen auf hängte. Meine Lampe brannte in dieser Zeit immer sehr lange. Ich schmökerte mich in meinem Fachbuch fest und konnte mich nicht mehr davon lösen. Es war eine gruselige Lektüre, aufregender als ein Kriminalroman. Ich konnte immer schlechter einschlafen und träumte fürchterliche Dinge. Am Frühstückstisch erschien ich mit Ringen unter den Augen, als ob ich von einer nächtlichen Löwenjagd käme. Ich wurde immer nervöser und schreckhaft wie ein Frauenzimmer. Das Sirren der Moskitos machte mich ängstlich. War auch wirklich kein Loch in dem Moskitonetz? Raschelte es in einer Ecke, so fuhr ich in die Höhe. War es eine Kobra? Wir hatten kein Schlangenserum. Knurrte mich ein Hund an, wenn ich durchs Kimbu ging, schrak ich zusammen. War er tollwutinfiziert? Tollwutimpfstoff war auch nicht in der Hausapotheke. Diese Medikamente waren schwer zu bekommen und sehr teuer.
Es war wirklich schlimm mit mir. Selbst meine gute Fledermaus erschreckte mich. Ihre Schlafposition regte mich auf. Warum bekam sie keinen Anfall bei diesem zwölfstündigen Blutandrang zum Gehirn, wenn sie an den Füßen aufgehängt schlief?
Schließlich warf ich das kluge Fachbuch in die hinterste Schrankecke und zog den Schlüssel ab. Nein, meine Nerven wollte ich mir nicht ruinieren.
Es kam nämlich noch etwas hinzu, das auch einen stärkeren Mann als mich nervös machen konnte. Wir hatten ein Grab auf dem Pflanzungsfriedhof. Dort lag unsere Vorgängerin, die an Schwarz­wasserfieber12, einer sehr gefährlichen und unter den Weißen gar nicht seltener Krankheit, gestorben war. Vom Schwarzwasserfieber hatte ich gelesen, dass es so unheimlich ist, weil man weder seinen Ursprung, noch ein wirksames Gegenmittel kennt. Man weiß nichts davon, als dass es mit grausiger Raschheit verläuft und oft tödlich endet. Zehn Injektionssorten des portugiesischen Enfermeiro13 von der nächsten Station hatten nichts genutzt. Die Frau hatte in meinem Zimmer gewohnt und war in meinem Bett gestorben. Vielleicht hatte es die Fledermaus mit angesehen. Gut, dass ich nicht abergläubig war, sonst hätte ich sie für eine Unglücksprophetin gehalten – ich hätte nicht ganz unrecht damit gehabt.
Als ich das verdammte Buch los war, erholte ich mich rasch und erschien wieder ausgeschlafen am Frühstückstisch. Ich war den Albdruck los. Ich brauchte ja nur die Augen auf zumachen und konnte sehen, dass alle Neger rings um ganz vergnügt in dieser verseuchten Welt lebten. Sie waren frisch und kräftig, kicherten und alberten bei der Arbeit. Ihre fast nackten Körper hatten Muskeln, die ich immer mit heimlichem Neid betrachtete und ihre Langläuferfähigkeiten kannte ich ja. Jede Besorgung, die sie für mich machten, kostete sie vierzig Kilometer Fußmarsch. Dazu brauchten sie keinen Tag. Allerdings fiel mir damals nicht auf, dass es alles junge Kerle waren. Ältere Neger kamen gar nicht in die Pflanzung. Auch wenn man durchs Kimbu ging, sah man wenig alte Leute. Wie auch immer, es war erstaunlich, dass sie so gesund waren, obwohl sie ohne Moskitonetze schliefen. Der weiße Mann musste eben auch gesund bleiben, zumal der nächste Arzt, ein Amerikaner, zweihundert Kilometer weiter südlich wohnte. Dieses Jahr war er sowieso nicht da, denn er machte Heimaturlaub. Der nächste Apotheker wohnte fünfzig Kilometer weit entfernt.
Ich war also so gescheit, die ganz schlimmen Krankheiten vorerst zu vergessen und mich mit den Leiden zu beschäftigen, die mir fast täglich unter die Finger kamen. Da war es vor allem der Sandfloh14, mit dem ich es zu tun bekam. Das Üble an ihm ist, dass man ihn eigentlich gar nicht sieht. Er schlüpft ins Nagelbett der Zehen, ernährt sich von Blut und wird sesshaft, wenn man ihn nicht erwischt. Der Neuling merkt nichts von seiner Anwesenheit. Er spürt zwar ein sanftes Jucken, na ja, das beachtet er nicht. Aber wenn man den Sandfloh erst als sesshaft gewordenen Bewohner kennen gelernt hat, ist man bald darauf geeicht, auch dem leisesten Jucken auf den Grund zu gehen. Er allein ist schon übel genug, aber seine Frau legt Eier in den Gang, den sie sich gebohrt hat, der ganz tief unter dem Nagelbett sitzt. Darin brütet sie gemütlich ihre Eier aus. Das gibt eine erbsengroßen Beutel Maden, die sich wiederum durch futtern, wenn man sie nicht ausquartiert. Die Neger sind von unglaublicher Indolenz gegenüber diesen widerlichen Parasiten. Sie lassen sich die ganzen Zehen abfressen, man sieht sie oft mit eitrigen und verkrüppelten Füßen herumlaufen. So mancher stirbt an Blutvergiftung. Der Sandfloh hat fast genauso viele Opfer wie die Malariamücke.
Mein Chirurgenwerkzeug war in diesem Fall eine Stopfnadel. Ich war gar kein schlechter Handwerker in meinem Fach und operierte bald so gewandt, dass ich die Ehre hatte, europäischem Besuch, der das Geschäft nicht verstand, von seinen Sandflöhen zu befreien.
Das zweite Übel, mit dem ich es zu tun bekam, waren die Pharaoameisen. Sie überfallen ahnungslose Weiße, die irgendwo im Laub oder im tiefen Gras liegen, so plötzlich und in solchen Scharen, dass sie, wenn er zur Besinnung kommt, sich mit ihren großen Kieferzangen schon überall fest gebissen haben. Wie von Furien gehetzt stürmt er ins Haus, reißt sich die Kleider vom Leib, hüpft und springt wie ein Besessener, ruft die Hausgenossen zu Hilfe, denn allein wird man der Biester schwer Herr. Es gilt die Tiere ab zu rupfen, die sich so fest ins Fleisch verbissen haben, dass schütteln und schlagen nichts hilft. Die Bisse brennen abscheulich und so ein armer Überfallener ist ganz verschreckt.
Das ist überhaupt das Merkwürdige am Busch, die großen Abenteuer finden einen gefasst, während die kleinen eine wirr vor Schrecken machen. Der Neuling bemerkt die Ameisen, die ungesehen an ihm empor krabbeln erst, wenn er schon eine kleine Legion in seinen Kleidern hat. Er bekommt einen Schock, als ob ein Tiger ihm ins Genick gesprungen wäre. Es beißt und schmerzt an allen Stellen zugleich und er weiß nicht, wie er den Feind packen kann oder sich wehren soll. Da gilt es nun für den Medizinmann Zwiebel oder Öl aufzulegen und die brennenden Pusteln zu kühlen. Selbst an mir hatte ich im folgenden viel Gelegenheit den Sanitäter zu spielen.
Das nächste Buschleiden war das Magenübel. Der Pflanzer, wenn er noch nicht den Straußenmagen des „alten Afrikaners“ hat, muss sich erst langsam an die manchmal schwer bekömmliche Kost gewöhnen. Da man so selten und nur sehr sparsam Einkäufe machen kann und weder Kühl- noch Trockenanlagen hat, sind die Nahrungsmittel oft nicht einwandfrei. War das Maismehl nicht bitter, so schimmelte es leicht. Das Brotmehl war muffig und oft ganz ausgegangen. Zum Beispiel in der Regenzeit15, wenn man keinen Boten schicken kann. Auch das Fleisch roch oft schon leicht, wenn es nach einem Tagesmarsch bei uns ankam. Oft mussten wir wochenlang unser Fleisch aus dem Weckglas essen, das täglich intensiver roch. Das Fett war eigentlich immer ein bisschen ranzig. In der Trockenzeit waren Eier und Fische oft genug verdorben und in der Regenzeit schimmelte alles und jedes.
Unser schwarzer Koch, selbst mir einem starken Magen ausgestattet, nahm es nicht allzu genau mit den Vorräten. So kam es, dass ich ständig irgendwelche Magenübel zu kurieren hatte.
Die schlimmste Plage aber waren die Zahnschmerzen. Der einzige Zahnarzt weit und breit wohnte in Lobito. Er machte zwar einmal im Jahr eine Rundreise durch den Busch, aber er kam nicht immer überall hin. Manchmal fiel es ihm auch ein, lieber eine Europareise zu machen. Er konnte sich das leisten. Ein alter Pflanzer zeigte mir stolz einen Backenzahn, den er sich selbst vor zehn Jahren mit Portlandzement plombiert hatte. Er war Junggeselle. Sein Nachbar aber, der verheiratet war, konnte es mit seinem verfaulten Backenzahn nicht mehr aushalten, da bat er seine Frau, ihn mit der „Rabenschnabel“ genannten Zahnzange zu ziehen. Der Zahn aber saß noch fest. Die Eheleute gerieten in ein ernstes Handgemenge, das schließlich in eine Art Ringkampf ausartete. Die Frau, eine echte Pflanzersfrau, ließ nicht locker. Zuletzt hielt sie den Zahn in der Zange triumphierend hoch, wenn auch völlig erschöpft.
Ja, ein hohler Zahn war im Busch schlimmer als eine Schlange unter der Bettdecke. Jeder Pflanzer fürchtete sich davor. Zahnweh machte einem das Leben zur Hölle, besonders weil man durch das Nichtstun und das Alleinsein keine Ablenkung von den Schmerzen hat.
Auch in diesem Fall war ich leider oft mein eigener Patient. Ich erfand eine praktische Behandlungsmethode für solche Fälle. Zuerst wurde Jod auf das Zahnfleisch geschmiert, wenn der Patient dann noch keine Ruhe hatte, wurde von dem Jod eine ordentliche Portion in den hohlen Zahn hinein gepinselt, um den Schmerz zu betäuben. Das wurde so lange wiederholt, bis der gepeinigte Nerv das Rennen aufgab und einging. Nun war Ruhe in dem hohlen Gehäuse. Vom medizinischen Standpunkt war dies sicher keine einwandfreie Methode, doch sie wirkte und das war die Hauptsache. Heute noch laufe ich mit einem miserablen Gebiss herum, weil ich im Busch mein eigener Zahnarzt war.
Aber es gab auch ernste Dinge – Fieber. Alles prophylaktische Einnehmen von Chinin16, alle gepriesenen Errungenschaften moderner Tropenmedizin halfen nichts gegen Malaria17. Ich machte bald gründliche Bekanntschaft mit ihr und hatte Muße, mich selbst als Versuchskaninchen zu benutzen. Es dauerte nicht lange und ich hatte den traurigen Ruhm, den Malariarekord im Hause zu halten. Mit der Zeit nimmt man Malariaanfälle hin wie Schnupfen oder Halsschmerzen. In der Regenzeit fehlte fast immer einer in der Hausrunde bei Tisch. Aber Medizinmänner schien sie am liebsten anzufallen. Ich piekte also bald mit einer Injektionsnadel in meinen Oberschenkel, wie in ein Nadelkissen. Wenn der eine Schenkel genug hatte, kam der andere dran. So kam es, dass ich als Spritzenmann eine ziemliche Praxis bekam. Auch die schwarzen Hausjungen kamen zu mir und brachten sogar manchmal einen kranken Freund mit. Da war ich gerne Medizinmann. Ich musste ja dabei kein Blut vergießen und keine Diagnosen stellen.
Ich war ein gutes halbes Jahr Medizinmann, als wir beschlossen, unser ewiges tägliches Einerlei durch ein Tanzfest im Haus zu unterbrechen. Es war meine Idee, denn ich war ein leidenschaftlicher Tänzer. Wie oft war ich, wenn nachts vom Busch her die Negertrommel im gleichmäßigen Rhythmus klopfte, aufgestanden, hatte mich hinaus geschlichen und ihnen zugesehen, wie sie in heller Lust im Mondschein herum hüpften bis zum Morgen. Oft genug hatte es mir in den Füßen gezuckt. Ich bin nun mal so, alle Erregung geht mir gleich in die Füße. Aber als Weißer konnte ich gar nicht daran denken mit zu tun. Der portugiesische Postenchef aus dem nächsten Städtchen, dessen Zuneigung ich mir mit Fotos erworben hatte, hatte versprochen, mit seinen beiden hübschen Nichten zu kommen und noch ein junges Ehepaar mitzubringen. Ich war schon ganz aus dem Häuschen, es sollte ein richtiges Fest werden, ganz wie in Europa.
Wir hatten noch nicht alle Mokandas, so nennt man eine Negerbotschaft, an unsere hilfsbereiten Nachbarn verschickt, um Fruchtschalen, Bestecke, Cocktailgläser, Grammophon, Platten, Lampions auszuleihen, als ich die wohl bekannte Schwere in allen Gliedern spürte, die mit Sicherheit das Fieber ankündigt. Ich verlor kein Wort über meinen Zustand, wozu war ich Medizinmann? Eine handfeste Spritze und auf dem Fest würde ich frisch wie ein Frosch im Teich herum hüpfen, niemand würde mir etwas anmerken.
Es war drei Tage vor dem Fest. Abends, beim Schlafengehen schob, ich die Kerzen­stummel­sammlung, mit der ich den Tanzboden wichsen lassen wollte, vom Nachttisch und stellte die Hausapotheke herauf. Ich spritzte dem Patienten (mich) eine starke Chinininjektion ein und legte ihn schlafen. Die Wirkung war ausgezeichnet, am anderen Tage waren Kopf und Glieder klar, bloß das gespritzte Bein, das war steif. Das würde sich schon geben. Ich humpelte, von Möbelstück zu Möbelstück hüpfend, herum und saß mit lang gestrecktem Bein bei Tisch. Alle neckten ihren Arzt mit seinen wirksamen Spritzen. Am anderen Tag wurde ich nicht mehr geneckt. Mein Kniegelenk war völlig steif, ich musste auf dem Liegestuhl bleiben und Umschläge machen. Am dritten Tag war das Bein wie auf eine Latte geschnallt, so steif, ich hätte ebenso gut ein Holzbein haben können. Ich fluchte auf deutsch, portugiesisch und kimbundu18, während ich es abwechselnd mit kalten und heißen Umschlagen, Massage und Gymnastik behandelte. Es nützte alles nichts. Als der Abend kam, wünschte ich mir voller Ingrimm, ich hätte das Fieber ruhig ausbrechen lassen und nicht die Donnerwetterspritze probiert. Mit vierzig Fieber kann man im Notfall noch tanzen, mit einem steifen Bein kann man nur zugucken. Als die vergnügten, brombeeräugigen Mädchen herein schwirrten, saß ich im hintersten Zimmerwinkel, das Bein auf einem Stuhl, ein Krüppel, den sie nicht viel beachteten.
Mein Bein blieb wochenlang steif und erweichte sich erst langsam wieder. Stück für Stück, wie eine eingefrorene Hammelkeule auftauend. Als ich endlich wieder laufen konnte, war ich heilfroh, dass die Sache noch so abgegangen war. Mit der Zeit war mir mein Zustand unheimlich geworden, denn in meinem Medizinbuch fand ich nichts über solche Fälle. Ich hatte schon begonnen, meinen ärztlichen Künsten zu misstrauen und überlegt, ob ich versehentlich das Wundstarrkrampfserum erwischt hätte.
Nach dieser üblen Erfahrung dachte ich, nun würde nie wieder einer kommen und von mit gespritzt und behandelt sein wollen. Sicherlich war die Geschichte bereits bis ins Kimbu vorgedrungen, womöglich ging sie bereits mit reiselustigen Schwarzen als Schauermärchen von Busch zu Busch. Aber es zeigte sich, dass ich meine Schwarzen noch gar nicht kannte. Die anschauliche Wirkung meiner Injektion hatte imponiert; ja, sie hatte mich als Medizinmann populär gemacht! Jetzt hatten sie das rechte Zutrauen zu mir. Dazu kam, dass sie hofften, für einen Monat von der Arbeit auf der Pflanzung befreit zu sein, wenn sie so eine wirksame Spritze bekämen.
Bald hatte ich Übung, mit den häufigsten Leiden, die bei der Forma auftraten, fertig zu werden und ich erkannte die verschiedenen Krankheiten schon von weitem am Gehabe der Patienten. Geduldig wartend standen sie auf dem Hof, die einen mit schmerzverzerrten Mienen und tränenden Augen und mehr oder weniger geschwollener Backe, das waren die Zahnkranken. Wenn sie krumm und knieweich dastanden, die Arme frierend über der Brust zusammengeschlagen, das waren die Fieberkranken. Die mit üblen, schwärenden Wunden oder sonstigen Verletzungen waren leicht an schmerzvollem Hinken, Hand- oder Arm hoch tragen oder an blut- und schmutzstarrenden Lumpen, die sie sich um gewickelt hatten, zu erkennen. Die Behandlung mit Jod, Rizinus und Chinintabletten war einfach. Spritzen gab ich nur in schweren Fällen, die Neger reagieren viel stärker als wir auf Medikamente, weil ihr Körper sie nicht gewöhnt ist.
Aber an die hässlichen Wunden musste ich mich erst gewöhnen. Nur die Übung machte hier den Meister. Wunden waren sehr häufig, denn die schmal schneidigen Kaffernbeile, die aus alten Autofedern selbst geschmiedet sind, sitzen nicht sehr fest am Stiel, der aus einem Knüppel geschnitzt ist. Sie fliegen an den Kopf-, ans Bein oder den Arm und verursachen tiefe Wunden. Aus solchen kleinen Betriebsunfällen wurde oft eine schlimme Geschichte, weil die Schwarzen unglaublich nachlässig mit ihren Wunden sind.
Das Verbände machen lernte ich recht gut, aber ich war froh, dass es für die kritischen Fälle das Missionsspital gab, wo ich meinen Patienten hin schicken konnte, wenn ich mir einen Fall nicht zutraute. Leider war es so weit weg, dass wir einen recht teuren Transport für den Kranken bezahlen mussten. Die Schwarzen nehmen es als selbstverständlich hin, dass der Pflanzer für sie sorgt. Auf diesem Gebiet machte ich sehr merkwürdige Erfahrungen. Wenn die Behandlung schmerzhaft gewesen war und der Patient öfter zu meiner Hofpraxis kommen musste, so fand er, dass er eine Entschädigung für das ausgestandene Leid verlangen könne. Er bat mich also, in aller Unschuld um ein Matabischu, ein kleines Geschenk, wie wir es für besondere Dienstleistungen immer vorrätig hatten. Dies konnte ein Halstuch, eines Kamm, ein Spiegel oder ähnliches sein. Er war erstaunt, wenn ich ungnädig wurde und ihn hinaus schmiss.
Gefährlicher stiller Ort
Es war seit einiger Zeit so heiß, dass wir Weißen nicht aus dem Haus gehen mochten. Ich hatte meine Nachbarbesuche ganz eingestellt und auch für die Streifzüge im Busch fehlte mir die Entschlusskraft. Die Hitze, das tägliche Einerlei, die immer gleiche Kost und auch der stete Anblick der selben Gesichter am Esstisch, alles das fing an, an meinen Nerven zu reißen. Wir waren nicht mal im Stande, ein richtiges Tischgespräch in Gang zu bringen. Es war nicht zu leugnen, dass wir Einer des Anderen überdrüssig wurden. So friedliebend wir auch alle waren, ab und zu bekamen wir Lust, uns wegen irgendeiner Lächerlichkeit, zu verprügeln. Der Busch bringt solche Zustände hervor.
Der Augenblick war gekommen, da der eine Hausgenosse alle Geschichten des Anderen auswendig kannte und, wenn man selber wirklich einmal etwas Neues zu erzählen hatte, dann wusste er schon am Anfang seines Satzes, was der Zuhörer am Ende desselben für ein Gesicht machen würde. So genau kannte man sich. Dieser Zustand kann einen ganz mürbe machen. Dazu kam der ewige Wind, der die glühende Luft über der Hochebene mit feinsten Staubteilchen erfüllte. Sie setzten sich in alles und jedes, bis man schließlich glaubte, sie auch in den Gehirnfalten zu spüren.
Außerdem war wieder einmal einer unsere kleinen Ochsen krank geworden, wir hatten ihn notschlachten und einkochen müssen. Nun gab es, Tag für Tag, nichts als Büchsenfleisch, in immer anderer Form, je länger je „duftender“. Schließlich schmeckten die Portionen wie von einem nicht abgehangenen alten Hirsch. Das Fleisch musste gegessen werden, keiner durfte sich darum drücken, wenn der Magen auch noch so schimpfte. Das sind Pflanzergesetze, denen man sich beugen muss.
Kurzum, es musste etwas geschehen! Ich stand also früh auf, nahm Buschmesser und Kompass, stülpte den Tropenhelm über und machte mich, trotz der Hitze, auf den Weg zu einer ziemlich entlegenen Pflanzung, die ich noch nicht kannte. Es war eine Verrücktheit, aber was half es, ich musste einfach Mal wieder mit einem Menschen reden, bei dem ich nicht schon jedes einzelne Äderchen im weißen des Auges kannte.
Ich glaube, unser weitläufiger Nachbar, ein vergnügter Schwabe, war in einem ganz ähnlichen Zustand wie wir daheim, denn ich wurde mit einem so herzlichen Hallo empfangen, wie der Arzt, der unverhofft einem Kranken ins Haus fällt. Ungefähr so ist dem buschkranken Pflanzer zumute, wenn er plötzlich ein weißes Gesicht in seinem Reich auftauchen sieht. Eigentlich war ich noch ein Unbekannter für die ganze Schwabenfamilie, sie kannte mich nur aus den Berichten ihrer Nachbarn. Doch das tat der Freude keinen Abbruch. Im Triumph wurde ich zum Gästehaus geleitet, mit frischem Wasser und Handtuch versorgt, damit ich wieder einen Menschen aus mir machen konnte. Ich sah nach dem heißen, weiten Weg aus, wie ein gesottener Hummer. Das Hemd klebte mir am Leibe und der Hausherr musste mir eins von sich leihen.
Dann saßen wir auf der Veranda im Schatten und ich erzählte, vor der atemlos lauschenden Hausrunde. Meine Gastgeber, die schon älter waren, hatten eine junge Schwägerin bei sich, die nicht sehr viel länger im Busch war, als ich. Sie tat aber schon ganz afrikavertraut und gab mir sogar gute Ratschläge. Wir schwatzten miteinander, was das Zeug hielt. Wie wohl es uns allen tat! Jeder kam zu Wort und, da wir unsere gegenseitigen Schicksale noch nicht kannten, hörten wir einander begeistert zu.
Die Sonne verschwand hinter den Hügelketten, ein Lüftchen machte sich auf, die Gunga schlug. Die Schwarzen strömten auf den Hof, aus den Kaffee kommend, die Hühner gingen auf ihre Stangen, die Kinder wurden ins Bett gebracht und wir schwatzten weiter.
Ich würde über Nacht bleiben, es wäre auch gar nicht möglich gewesen, noch heute wieder nach Hause zu kommen.
Alle Pflanzernachbaren, auf zweihundert Kilometer im Umkreis wurden durchgehechelt, ja, eigentlich kamen alle Pflanzer des angolanischen Hochlandes einmal dran. Im Busch bleibt ja nichts verborgen, es sickert alles durch das Dickicht; keine Zeitung könnte zuverlässiger arbeiten.
Wir streckten die Beine lang, feuchteten die trocken geredeten Kehlen mit Fruchtsaft wieder an und genossen die sanfte Feuchtigkeit, die von den Orangenbäumchen im Garten herein zog. Schließlich kam das Gespräch auf Schlangen, ein häufiges Pflanzerthema. Ich beklagte mich, dass ich noch nie ein Abenteuer mit einer Schlange gehabt hätte, so lange ich auch schon im Busch lebte. Jeder Pflanzer könne zumindest eine solche Geschichte erzählen. Meine Gastgeber lachten über meinen Ehrgeiz, da gestand ich ihnen, dass es nicht nur Ehrgeiz wäre. Schlangen wären mir immer schon recht unheimlich gewesen und ich glaubte, diese unmännliche Scheu leichter zu überwinden, wenn ich einer begegnet wäre. Die kleine Schwägerin, die mir ganze zwei Buschmonate voraus hatte, lächelte. „Ach, Schlangen sind doch liebe Tierchen,“, sagte sie, „so graziös und sanft. Keine Schlange tut etwas, wenn man sie nicht neckt oder gar tritt. Wenn sie gefährlich werden, so ist man doch immer selber schuld!“
„Na, na,“, machte der Hausherr trocken. Sie wurde nur noch eifriger und belehrte mich weiter:
„Bloß vor dem Schlafengehen muss man natürlich in seinem Schlafzimmer lieber nach gucken, damit man keine im Bett findet. Sie müssen nämlich wissen, wenn die jähe Abendkühle den Schlangen ungemütlich wird, gehen sie gerne ins Haus, das die Tageswärme noch hält. Deshalb muss man sich nur immer etwas langsam bewegen, um keine Schlange zu erschrecken. Kein Tropentier, auch der Panther nicht, ist nämlich gefährlich, so lange man es nicht erschreckt.“
„Gut gelernt, Kind!“, unterbrach ihr Schwager mit gutmütigem Spott. Er hatte wohl gemerkt, dass ich nicht sehr begeistert über die Schulmeisterin war.
„Ja, nur immer hübsch bedächtig.“, schloss die rundliche, kleine Person ihren Vortrag, indem sie auf meine langen Hände, mit denen ich beim Reden immer etwas herumfuchtelte, sah: „Ein Buschmann muss umsichtig sein, dann braucht er Schlangen auch nicht zu fürchten!“.
Ich schwieg ein bisschen gekränkt. Mir war wieder einmal zumute, als ob mir jemand hinter das Ohrläppchen getastet und erklärt hätte, es sei noch ziemlich feucht. Mein Gastgeber merkte es und wir sprachen nun über andere Dinge, über europäische Politik und ähnliches.
Am anderen Tage ließen sie mich noch nicht gehen, ich musste noch eine Nacht zugeben. Am Spätnachmittag saßen wir wieder auf der Veranda und erzählten. Wir waren in einem tiefsinnigen Gespräch untergetaucht, wie in einem Brunnenschacht und hatten alles ringsum vergessen. Plötzlich hob mein Gastgeber fröstelnd die Schulter, er saß neben mir, „Deshalb!“, rief er plötzlich aus, „Eine ganze Weile wundere ich mich im Unterbewusstsein, dass es mir von der anderen Seite so kühl heran streicht. Da fehlt etwas: meine Schwägerin“.
„Ja, ja,“, sagte die Hausfrau, „jetzt fällt es mir auch auf. Sie ist schon lange weg.“. Unruhig stand sie auf. Sie verschwand im Haus und man hörte, mal hier mal da, wie sie den Namen ihrer Schwester rief.
Unser Gespräch kam nicht wieder recht in Gang, der Pflanzer horchte auf das Rufen, er war wohl nur zu höflich, mich allein sitzen zu lassen und mit zu suchen.
Es fing schon an zu dämmern. Eine Pflanzung mit ihren vielen unübersichtlichen Winkeln, Gebäuden und Anlagen ist weitläufig genug, dass unvorhergesehene Zwischenfälle nicht gleich bemerkt werden. Es war still im Haus, im Hof und im Garten. Man sah die behäbige Pflanzerin mal hie, mal da zwischen den Wirtschaftsgebäuden auftauchen, sie kam nicht zurück. Nun sah der Hausherr selbst nach dem Rechten. Er ging auch auf die Suche, ich hörte seine Stimme im Hof und die murmelnden Antworten der schwarzen Hausboys.
Nun war ich auch nervös geworden. Die plötzliche Kühle machte mich sowieso schaudernd und das Nahen der Tropennacht hatte immer noch seinen unheimlichen Reiz für mich nicht verloren. Der Himmel wurde schon grünlich, die Bohnenstauden im Garten sahen wie schweigende, dunkle Männer aus, die Eukalypten wurden schwarz; gleich würden die Moskitos kommen. Ich ging meinen Gastgebern nach, um mit ihnen zu suchen.
Sie hatten schon alles abgesucht: Hof, Scheunen und Garten. Nun gingen sie an der Requa, den tiefen Wassergraben, der quer durch den Garten lief, entlang. Er war fast völlig ausgetrocknet, aber immerhin konnte das Mädchen sich einen Fuß gebrochen oder sonst ein Glied an einer der schlechten Knüppelbrücken verletzt haben. Die Schwarzen folgten in einiger Entfernung, untereinander in ihren dunklen Kehllauten raunend. Ein etwaiges Unglück, das dem Weißen zustößt, hat eine üble Vorbedeutung für die Schwarzen des Hauses. Wenn der bösen Dämonen Macht über die starken Weißen gewinnt, wie viel leichter könnte sie sich an den Schwarzen vergreifen.
Mein Gastgeber hatten alles vergeblich abgesucht, es blieb nur noch das stille Örtchen, das zweckmäßigerweise direkt über der Requa angebracht war, ganz hinten im Garten. Dorthin machten wir uns auf. Das Holztürchen war nur angelehnt. Ringsum wucherte hohes Gras und verschluckte den Hall unserer Schritte. Behutsam, wie es sich für eine „alte Afrikanerin“ ziemt, öffnete die Hausfrau die Tür etwas. Mit einem unterdrückten Ausruf prallte sie zurück. Der Hausherr sah über ihre Schulter. Auf der Holzbank hockte, bleich und gebannt; das Mädchen, die Füße unter sich gezogen. Sie starrte auf eine Schlange vor ihr, die sie neben der Tür, steil aufgerichtet, bedrohte. Das Tier pendelte hin und her, nach ihrem Opfer züngelnd. Als der Pflanzer die Tür weiter auf stieß, wollte es rasch entschlüpfen, er aber schob es mit der Tür so fest in den Winkel, dass es gefangen war. Das Reptil war eine Puffotter, eine der häufigsten und gefährlichsten Giftschlangen des Hochlandes.
Die arme Bedrohte wurde befreit. Die Schwarzen fielen mit handfesten Stöcken über die Schlange her und ihr Triumphgeschrei hallte uns nach, ehe wir noch das Haus erreicht hatten und sagte uns, dass der Feind erlegt sei. Das junge Mädchen brauchte eine ganze Weile, bis es sich von den ausgestandenen Schrecken erholt hatte. Vor dem Schlafengehen, als sie mir die noch immer kalte Hand gab, sagte sie leise: „Sicher waren wir beide in Todesangst, die Schlange und ich aber bei mir war es schlimmer, nie mehr werde ich die Angst vor Schlangen los!“
Ehe ich schlafen ging, folgte ich ihrem weisen Rat von gestern und untersuchte mein Bett und alle Winkel. Ich war nicht sehr versessen darauf, ein Abenteuer mit einer Giftschlange zu erleben.
Es war nicht lange danach. Immer noch waren meine Schlangenerfahrungen nicht weiter gediehen, als bis zu ihren abgestreiften Häuten, die ich oft in den Bougainvillensträuchern an unserer Gartenmauer fand. Ich ging eines Abends gerade zu Bett, wie alle Tage. Es war immer noch unglaublich heiß im Hochland, nur die Nächte waren so kühl, dass wir manchmal nur drei Grad hatten.
Ich tat alles, was ein gewiegter Buschmann vor dem Schlafengehen tut: Erst prüfte ich gründlich und bedächtig, ob sich unter meinem Moskitonetz keine Blutsaugerin versteckt hatte. Ich kannte die Art unserer schwarzen Hausboys wohl, beim Betten machen das Netz so ungeduldig unter die Matratze zu stopfen, dass es ein kleines Löchlein irgendwo gab. Dies genügte dann völlig, um einem, nach pünktlich neun Tagen, mit Malaria auf die Nase zu 1egen. Als diese Prüfung zu Ende war, kam die nächste Zeremonie dran. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und stellte einen Fuß auf den Nachttisch, unter die Lampe, glühte meine Stopfnadel über der Petroleumflamme aus und begann alle fünf Zehen sorgfältig unter dem Nagelbett zu untersuchen, ob sich kein Sandfloh darunter angesiedelt hatte. Natürlich war eine leichte Rötung am zweiten Zehnnagel da. Ich bohrte eine hohle Gasse unter das Nagelbett und stieß am Ende auf die winzige Verdickung, die ich herausholte. Die Nadel musste mehr als einmal frisch geglüht werden, die Zähne zusammen­gebissen und das einschlafende Standbein wach getreten werden, bis endlich ein Eiterbeutel zum Vorschein kam. Wahrhaftig, wieder war es einem Floh geglückt, übersehen zu werden, bloß weil ich ein paar Abende nachlässiger gesucht hatte! Das Ganze wurde über der Lampe verbrannt, dann kamen die nächsten Zehen dran.
Nach geglückter Operation begann das große Waschen, nach dem man schon den ganzen Tag gelechzt hatte. Mehr als einmal am Tage konnten wir uns das nicht leisten, denn das Wasser mussten wir eimerweise von der Quelle am Fuß unseres Hanges holen lassen. Eigentlich wollte ich dazu in meine Pantoffeln schlüpfen, aber sie standen tief unter dem Bett. Ich war einfach zu faul, mich so weit zu bücken. Das unter das Bett und in alle Winkel-Gucken, das ich nach dem Besuch bei meinen schwäbischen Pflanzerfreunden ein paar Abende gewissenhaft durchgeführt hatte, war mir längst wieder zu dumm geworden. Mit behaglichem Seufzer ließ ich mich in mein Bett fallen und schlief ein, sogar zum Schmökern zu müde.
Ich schlief traumlos und fest, ohne zu ahnen, dass ich nicht nur über dem Bett eine Schlafgenossin, meine alte Fledermaus, sondern auch unterm Bett eine hatte.
Als ich am anderen Morgen aufstand, war der Boden kühl an meinen Zehen. Sie angelten aber vergeblich nach den Pantinen. Auf unser schwarzes, männliches Zimmermädchen fluchend bückte ich mich und blinzelte schlaftrunken unter das Bett. Ziemlich weit hinten lag ein dunkles Häufchen, zu weit, um es hervor zu angeln, ohne ganz aus dem Bett zu hüpfen. Ich sprang heraus, dabei riss ich einen Zipfel vom Moskitonetz unter der Matratze hervor, ein Luftzug wehte ihn unter das Bett. Im gleichen Augenblick fuhr der dunkle Fleck, den ich für die Pantoffel angesehen hatte, auseinander, wurde lang und richtete sich vor mir mit zornigem Zischen hoch. Es war eine schwärzlich glän­zende Otter mit rötlichen Augen unter den vorspringenden Lidwülsten. Sie wiegte sich drohend hin und her. Einen Stock hatte ich nicht zur Hand, ich. mochte sie auch nicht umbringen. Immerhin hatte wir doch ganz friedlich miteinander geschlafen. Als ich ganz unbeweglich stand, beruhigte sie sich etwas und strich, in eleganten Schwingungen lautlos über den Boden hin. Ich öffnete die Tür, ohne dem immerhin unheimlichen Ding dabei den Rücken zuzuwenden und zog mich behutsam nach dem Bett zurück, wobei wir bei stillschweigender gegenseitiger Würdigung einander sorgsam umgingen. Ich hockte mich aufs Bett, mit hochgezogenen Beinen und beobachtete sie. Vom Garten drang ein Luftzug herein und ließ mein Moskitonetz flattern, davor wich sie zurück und plötzlich war sie, wie ein glänzend dunkler Schatten über die Schwelle hinaus verschwunden.
Natürlich war es falsch, ich hatte mich nicht buschgemäß benommen. Immerhin konnte sie mich beim nächsten Besuch, wenn ich wieder nach meinen Pantinen fischte, doch ins Bein beißen. Serum hatten wir nicht und der Schnaps, den der Medizinmann für solche Fälle hüten muss, war schon nach dem letzten schlechten Ochsenfleisch als Gegengift eingenommen worden.
So kam es, dass ich mein Abenteuer am Familientisch nicht ein gestand. Die Schlange und ich, wir hatten ein Geheimnis. Es war ein hübsches Geheimnis, aber es hatte doch zur Folge, dass ich meine Tür immer ordentlich zu machte, ehe die einfallende Abendkühle die Puffottern zum Aufsuchen von Schlafplätzen in zivilisierter Umgebung verführte und in Zukunft kam zu meinen abendlichen Schlafensgehzeremonien, der Netzuntersuchung und der Sandflohjagd noch eine Dritte hinzu: das Ableuchten aller dunklen Winkel mit der Taschenlampe.
Der Überfall des roten Heers
Kämpfe mit Löwen und Tigern hatten wir nicht zu bestehen. Wohl aber immer neue Kämpfe mit dem kriechenden Getier. Giftschlangen, Skorpion und Sandfloh kannten wir zur Genüge, mit Termiten und roten Ameisen hatten wir bisher nur weniger dramatische Begegnungen gehabt. Es war zwar peinlich genug, wenn man im Busch irgendwo hin fasste oder -trat, ohne das Auge als gründliche Polizei vorausgeschickt zu haben. Im Nu wurde man von einer Horde roter Räuber überlaufen. Da gab es nur eins: Schleunigste Flucht und herunter mit allen Kleidern. Es war uns auch schon passiert, dass wir, kopflos alle Kleider beiseite geschmissen hatten, wo noch Ameisen waren, so dass wir diese mit einem Stock herausfischen und uns in dieser Aufmachung nach Hause schleichen mussten.
Aber den großen Heereszug der roten Ameisen kannten wir nur aus den Erzählungen unserer Nachbarn. Sie erzählten von Fällen, wo einer hatte ausziehen müssen, weil er einen Überfall zu spät bemerkt und das Haus nicht genügend gesichert hatte. Diese Tiere marschieren in militärischer Formation auf ihrer Wanderschaft. Sie bilden eine schmale, endlose Straße, auf der sie alles vertilgen, was lebt. Hinter ihnen bleibt eine sterile Strecke, wie nach einem großen Feuer.
Sie kennen keine Hindernisse. Wenn sie eine viel begangene Stelle überschreiten, sichern ihre Kolonnen durch Soldaten, die rechts und links Spalier bilden, mit ihren starken Beißkiefern nach außen gerichtet. Sie überqueren auch Wasserläufe, indem sie eine lebende Brücken bilden; eine arm dicke Brücke aus lauter Soldatenleibern auf der die anderen ihre Wanderschaft fortsetzen.
Wenn ich im Busch einer solchen Wanderung des roten Volkes begegnete, habe immer versucht, seinem Ende entgegen zuwandern. Das kann man riskieren, weil die Marschordnung so musterhaft ist, dass kein Glied auf eigene Faust ausbricht. Mehrere Kilometer bin ich daran entlanggegangen, bis ich es schließlich aufgab. Auch die Spitze des Zuges suchte ich, die mich interessierte, weil ich beobachten wollte, wie sie ihr Ziel suchte, wie sie Marschorder empfing oder weitergab. Denn das diese ein bestimmtes Ziel haben, von dem keine Hindernisse sie abbringen können, ist das erstaunliche, das einem zum Forschen reizt.
Es war kurz vor Beginn der Regenzeit, als ich eines Tages nach dem Essen in den Garten ging, was ich täglich tat, um von den stets blühenden und tragenden Erdbeeren zu naschen. Da fand ich schon andere Esser im Erdbeerfeld vor: Rote Ameisen hingen in dicken Klumpen unter den Stauden. Ich konnte nicht daran denken, auch nur nahe heranzugehen. Ich war verärgert, nahm den Fall aber nicht weiter tragisch. Man konnte im Moment nichts tun und morgen würden sie wohl weiter gewandert sein.
Bis zum Nachmittag hatte ich den Vorfall vergessen. Wir saßen gemütlich beim Kaffee auf der Veranda, als plötzlich irgend jemand rief: „Rote Ameisen am Haus!“. Wir sprangen auf, wie auf ein Alarmsignal und suchten die Einbruchsstelle. Richtig, auf dem Weg hinter der Requa und dem Haus kam die Spitze des Heerbannes heran. Mit unheimlicher Geschwindigkeit hielten sie gerade auf uns zu. Wir wussten wohl, dass ein Haus ihnen kein Hindernis ist, das sie umgehen. Liegt es ihnen am Weg, so gehen sie mitten durch. Da wir nicht ausziehen wollten, nahmen wir mit allen Mitteln den Kampf auf. Zuerst sah die Situation günstig aus, weil die Spitze des Zuges auf dem Steg über den Wassergraben angelangt war. Wir hatten also den strategischen Vorteil, nur eine schmale Stelle verteidigen zu müssen. Wir kehrten mit Besen nach beiden Seiten die Vorhut ins Wasser und wurden ihrer beinahe Herr. Scheinbar wurde aber der auftauchende Widerstand nach rückwärts gemeldet und neue Befehle erteilt, denn der Zug schwärmte nun auseinander und versuchte, die Brücke in ganzer Breite zu nehmen. Hastig fuhren wir mit den Besen umher, immer rasender arbeitend und dabei von einem Fuß auf den anderen hüpfend, damit die Gegner uns nicht in die Schuhe krochen. Das muss sehr komisch ausgesehen haben, denn Nickel, anstatt uns zu helfen, lachte lauthals über uns. Er dachte wie immer nicht an das Naheliegenste, dass auch seinem Bett die Gefahr drohte, sondern freute sich mit seinem Künstlerauge an unseren Bewegungen.
Wir waren schon etwas außer Puste, als unsere Schwarzen endlich mit den Eimern kamen. Nun gaben wir den stark bedrängten Brückenposten auf und suchten hastig die Tiere von unsern Waden ab, während die Hausboys ganze Eimer von Wasser über den Brückenkopf gossen.
Teilerfolg! Viele Ameisen wurden zwar in den Graben gespült, aber was bedeutete das, gegen die neu an drängenden Massen, die nun an der anderen Brückenseite einen mächtigen Kopf gebildet hatten, der sich laufend vergrößerte.
Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie uns mit ihrer Überzahl von der Brücke verdrängt hatten. Trotz der heftigen Wassergüsse gelang es auch einigen unentwegten von ihnen, unsere Abwehr zu durchbrechen. Sie setzten sich in sicherer Höhe auf dem nächsten schwarzen oder weißen Bein fest. Wir gerieten ins Hintertreffen, denn eins kann man nur: Entweder Wasser schütten oder die Quälgeister ablesen.
Inzwischen kam ein neuer Schreckensruf: Weiter oben am Graben hatte sich eine lebende Brücke gebildet. Über sie gelangten unsere Feinde in rauen Scharen über das Wasser. Sie rückten schon kolonnenweise in prächtiger Ordnung über die Böschung vor. Nun müssten wir die Abwehrfront teilen, unsere Schwarzen aber, mit ihren nackten Füßen verdrückten sich immer mehr zur Nachhut. Auch auf der Brücke hatten die Ameisen schon fast die Oberhand gewonnen, denn wenn sie in größerer Zahl unser Ufer gelangten, blieb uns nur die Flucht. Da kam irgend jemand der rettende Gedanke: Glühende Asche!
In fliegender Hast wurde der Küchenherd seines Inhalts beraubt. Zum Glück war nach dem Mittagsmahl noch nicht sauber gemacht worden. Die heiße Asche wurde herbei geschleppt. An beiden Einbruchsstellen wurde der Angreifer damit überschüttet. Das wirkte. Die getroffenen blieben versengt liegen, nur vorsichtig tasteten sich die Nachfolger voran. Sie zögerten, man sah deutlich, und umgingen, nach Möglichkeit, das heiße Feld. Offensichtlich war noch keine neue Parole ausgegeben worden. Die gewaltige Masse folgte noch der alten. Wir nutzten eilig unseren Vorteil und hielten mit immer neuen Aschenladungen eine heiße Sperrzone aufrecht. Der Gegner war zäh, immer noch versuchte er mit der Spitze durch Umgehung der Gefahrenzone vorzurücken, bis er endlich die Aussichtslosigkeit des Manövers einsah. Nun machte alles kehrt, offensichtlich auf geheimen Befehl, denn nach Flucht sah es nicht aus. In genau entgegengesetzter Richtung formierte sich ein Zug und das rote Heer zog in wohl geordneten Reihen ab.
Kaum hatte ich diese Bewegung wahrgenommen, als ich beschloss, diesmal hinter die Strategie dieser seltsamen Tiere zu kommen. Dies war die Gelegenheit auf die ich schon lange gewartet hatte. Ich warf die Verteidigungsinstrumente von mir, setzte über den Graben und lief am Ameisenzug entlang. Durch die ganze Länge unseres Gartens, quer durch das Erdbeerfeld konnte ich die umgekehrte Marschrichtung verfolgen. Der Befehl, dem die angreifende Spitze so plötzlich gehorchte, muss der ganzen Masse des Heerbannes19 mitgeteilt worden sein. Viele hundert Meter konnte ich den Zug verfolgen, bis er im unzugänglichen Dickicht des Busches verschwand. Ich konnte nichts entdecken, als sauber marschierende Formationen in einer einzigen Rückwärts­bewegung. Das Rätsel der Befehlszentrale war nicht zu lösen, ich musste mich damit zufrieden geben. Es war ja nicht das erste Rätsel im Busch, auf das ich stieß und mit der Zeit habe ich gelernt, mir nicht den Kopf nach Lösungen zu zermartern. Ich nahm sie einfach hin als ein unbegreifliches Schöpfungsgeheimnis der Natur.
Chipekwe
Es war zu Beginn der Regenzeit. Noch kündigte sie sich nur mit gelegentlichen heftigen Schauern und mit stetem fernen Gewitterbrauen über den Höhen an. Es war wie europäischer Hochsommer mit strahlendem Sonnenschein und glühender Hitze. Plötzlich hatten sich von irgendwo her Wolken heimlich zusammengezogen und es prasselte los, wie aus Eimern gegossen. Mir war dies Wetter lieb, endlich mal Schluss mit dem ewigen Einerlei der Trockenzeit und dem steten heißen Wind, der so an den Nerven riss.
Ich war nun schon so weit, dass mir jeder Wetterumschlag willkommene Sensation war. Der tägliche Gang durch die Kaffeekulturen in brütender Sonnenhitze, das kindliche Gezwitscher der Schwarzen, die Gespräche bei Tisch über Kaffeepreise und den letzten Malariafall eines Hausgenossen, der Kaffeetisch auf der Veranda, wo man den warmen Sandstaub doch nicht ganz aus der Kehle spülte. Dieser ganze tägliche Trott stand mir bis zum Hals.
Ich begrüßte die ersten Regenschauer mit instinktiver Freude, wie lange entbehrte, alte Freunde. Nun fehlte nichts mehr, als regennasser Asphalt, die ersten bunten Reklamelichter, die sich darin spiegeln, das Rutschen der Autoreifen an der Bordschwelle und die hellen Plakate eines Kinos, die ein bisschen bunten Zauber für den nassen Abend versprechen.
Ich wurde etwas lebendiger und begann mich wohler zu fühlen, als in der ganzen letzten Zeit. Ich begann zu verstehen, was der Wechsel der Jahreszeiten, das stete Auf und Ab im Leben des Europäers für ein wohltuender Auftrieb ist. Wie viele guten Dinge lernt man ihn erst schätzen, wenn er einem abgeht.
Die Wahrheit ist, dass ich schon einiger Zeit heimlich gegen eine stete Unruhe anzukämpfen hatte. Das war der Überdruss, der sich bei mir immer einstellt, wenn ich eine Weile nichts getan habe. Meine Hofpraxis am frühen Morgen, das bisschen Beaufsichtigen der Schwarzen, das trübselige Rechnen und Kalkulieren für unsere Wirtschaftskasse, dies alles war eben keine Tätigkeit, sondern nur ein Zeitvertreib für mich.
Am glücklichsten war ich, wenn ich einen recht spannenden Schinken aufgetrieben hatte und das war ein schlimmes Zeichen für meine Liebe zum Pflanzerberuf. Seit einiger Zeit hatte ich meine Erkundungsfahrten in den Busch eingestellt, weil mich eine gewisse körperliche und seelische Schlaffheit ergriffen hatte. Nun, da die überraschenden Schauer einen überall draußen erwischen konnten, wollten meine Freunde mich nicht gehen lassen. Wenn es einen in dem mageren Stangenholz irgendwo überrascht, ist man im Nu bis auf die Haut durchnässt, denn Schutz zum unterstellen gibt es nicht.
Eines Morgens, ich hatte gerade ein übel schwärendes Furunkel an meinem letzten schwarzen Patienten behandelt und hatte nun gar keine Lust, den langen, aufgabenlosen Tag zu be­ginnen, kam ein Fremder auf unseren Hof, ein Schwarzer.
Ein Fremder auf der Pflanzung war immer ein Ereignis. Außergewöhnlich an diesem Neger war vor allem sein Alter. Erst jetzt, da wir diesen Fremden ansahen, kam es uns zu Bewusstsein, dass wir noch keinen weißhaarigen Neger gesehen hatten. Sie schienen nicht älter als vierzig, fünfzig Jahre zu werden. Bei ihrem unhygienischen Leben, ohne Moskitonetze, ohne Wundpflege, ohne Sandflohjagd und ohne jegliche Medikamente war das kein Wunder.
Der Alte war auch nur wenig gebeugt, was ungewohnt für einen alten Schwarzen ist und er überragte unsere Schwarzen fast alle um Haupteslänge. Etwas in seiner Haltung unterschied ihn auf den ersten Blick von seinen Stammesgenossen. Er hatte eine gewisse Würde und Freiheit des Benehmens, wie sie nur Herrscher, Künstler oder aber verwöhnte Glückskinder haben. Das Erste und Letztere war er sicher nicht, sonst hätten unsere Neger ihn entsprechend empfangen.
Trotzdem malte meine Fantasie ihn mir als Häuptling aus, wie er mit seinem dichten, silbrig gelockten Haar auf erhöhtem Sitz unter den weit ausladenden Zweigen des Häuplingbaumes hockt, am Rande des großen Tanzplatzes im Kimbu. Er hielt auch in der erhobenen Hand so etwas ähnliches wie ein Zepter, das sich beim genauen Hinsehen als eine improvisierte Spindel entpuppte. Es war ein kleines Stöckchen, daran eine kleine grüne Apfelsine gespießt war. Er setzte es mit ruhigen, rollenden Bewegungen in Gang. Es tanzte mit einem schon ganz dicken Fadenknäuel unter seinen flinken Händen, der Faden drehte sich fest zusammen und war tadellos.
Neugierig fragten wir Weißen ihn nach seinem Begehr. Aber er grüßte nur lächelnd und spann weiter, als sei er gewöhnt, dass man ihn bestaune und freundlich und wohlwollend empfange. Sein Panno, wie die Neger ihr Lendentuch nennen, hatte ein altmodisches, vornehmes Gepräge, denn es war größer und faltenreicher als bei uns üblich, naturfarben und selbst gesponnen, nicht so ein billiges, grell buntes Warenhausding mit verschossenem Muster. An seinem Gürtel hingen Kalebassen, wie wir sie noch nicht gesehen hatten. Sie waren nicht einfach aus der gurkenähnlichen Frucht gemacht, die unsere Neger dazu benutzten. Der Alte hatte sich eine seltsame, flaschenartige Frucht ausgesucht, deren Rand geschnitten und gekerbt und deren Bauch mit feinen Ornamenten verziert war.
An unseren Schwarzen waren uns Ansätze von Kunst oder Kunstgewerbe fremd, ihre Tongefäße waren so primitiv, so wie der Erde entnommen. Der Fremde reichte uns die Kalebassen bereitwillig zum Betrachten, wollte aber keine verkaufen. Auch das war für uns neu und sonderbar. Er machte auf uns den Eindruck eines Überbleibsels aus alter Zeit. Vielleicht ein fahrender Sängers oder ein Märchenerzähler, der von Hof zu Hof zieht und gewöhnt ist, mit Freuden begrüßt und ehrenvoll empfangen zu werden, trotzdem er ein Bittender war, der sich von Geschenken ernährt.
Nun entdeckten wir auch hinter seinem Rücken ein merkwürdiges Ding. Es war ein Bogen, aber ungeeignet für die Jagd, denn er war viel zu schwach, zudem mit einer Bambusfaser bespannt, so breit wie ein kleiner Fingernagel. Die Breitseite dieser Faser stand senkrecht, sie konnte sich also nicht durch biegen und keinen Pfeil abschießen. Wir rätselten herum, was das sei. Der Fremde war so schwer zu verstehen, dass wir unseren Koch als Dolmetscher holen mussten.
„Was trägst du da für einen Bogen?“, fragten wir, „Was machst du damit?“
Er antwortete wieder nicht und lächelte nur. Dann nahm er den Bogen in seine Linke, wie eine Geige, legte sie aber nicht ans Kinn, sondern nahm die aufrecht stehende Bambussaite lose zwischen die Zähne. So wie eine Katze, die spielt. Mit der rechten Hand fing er an mit einem Holzstäbchen auf den Kerben in der Mitte des Holzbogens zu raspeln. Die Mundhöhle als Resonanzboden verstärkte noch das rappelnde Geräusch und das singende Flirren der Saite zwischen den Zähnen. Dazu formte er, tief in der Kehle, einen Sington, der immer stärker an schwoll. Das war ein seltsamer Sänger mit einer fremd klingenden, aber melodiösen Musik.
Unsere Schwarzen standen in respektvollem Halbkreis um unsere Gruppe herum. Sie folgten der Melodie mit Kopfwiegen und lebhaftem Augenrollen, wagten sich aber nicht näher an der Fremden heran, als spiele er eine Zauberweise.
Nach einer schwermütigen Einleitung setzte der Alte sein Instrument ab und sang ein kleines Umbundu-Lied, das vom Heimweh nach seiner Mutter erzählte. Danach nahm er die Saite wieder in den Mund und spielte die Begleitung. Das machte das ganze Lied noch wehmütiger und ergreifender. Eigentlich wollten wir es komisch finden, aber wir waren gegen unseren Willen gefangen. Man konnte sich dem Zauber dieser primitiven Kunst nicht entziehen. Je heiterer nun seine Lieder wurden, um so froher wurden auch wir.
Wir beschenkten ihn für seine Kunst und ich nahm ihn mir beiseite, um mir etwas erzählen zu lassen, auf das ich schon lange neugierig war: Von den heimlichen Sitten und heidnischen Gebräuchen der Neger und von den heimlichen Tieren des Busches, die ich noch immer nicht entdeckt hatte.
Der fahrende Sänger aber war zurückhaltend, von seinen Stammesgenossen verriet er keine Geheimnisse. Er befriedigte aber bereitwillig meine Neugier nach seiner Jugendzeit im Busch. Er erzählte von der Zeit, als er noch den geernteten Kautschuk der Weißen auf dem Kopfe quer durch das Gebirge getragen hatte und nach einigem Besinnen erzählte er auch von einem seltenen Tier, das nur die ältesten Buschleute kennten. Er nannte es Chipekwe. Das schien kein Umbundu-Wort zu sein, denn mein Dolmetscher verstand ihn erst nicht.
Mit gestenreichen Umschreibungen kam folgendes zutage: Er hatte es nicht mit eigenen Augen gesehen, wohl aber sein Vater, den es beim Fischfang in einem ganz versteckten Moortümpel überrascht hatte. Es lebe im Schlamm, wo er am tiefsten sei, in einem unzugänglichen Sumpfloch, wo der Boden weit und breit eines Menschenfuß nicht trage.
Ein Sumpfungeheuer, aber kein Krokodil, obwohl es auch Menschen fresse. Es habe eine Schlangenhaut und vier verkrüppelte Füße. Es sei wie eine riesige Eidechse, lang und groß, größer als der Elefant und so stark wie er. Sein Kopf sei wie der einer Schlange und es bewege sich auch wie eine solche. Auf der Nase habe es einen kleinen Auswuchs. Nur ganz selten könne man es erblicken, es sei scheu und krieche nie aus seiner warmen Suhle. Jagen könne man es schon gar nicht, denn kein Speer, kein Beil gehe durch seine Hornhaut, auch keine Kugel.
Dies wunderte mich nicht, den die alten Vorderlader die die Neger heimlich besitzen, sind bestimmt für gefährliche Drachentiere nicht zu gebrauchen. Aber, aufgeregt und hitzig wie ich war, fuhr ich auf ihn los, ob er sich auch nicht irre? Ob es ein Nashorn, ein Flusspferd, Riesenkrokodil, oder ein badender Elefant gewesen sei? Er schüttelte heftig den Kopf. Das Chipekwe sei eben das Chipekwe, sonst gäbe es kein gefährliches Ungeheuer im Busch. Gar mancher Alte kenne es wohl, denn früher, als im Moor noch nicht gerodet und gepflanzt wurde, war es nicht so unsichtbar wie jetzt. Aber diese Alten schwiegen, denn es sei gefährlich und böse und wolle nicht verraten sein. Sicher kenne es auch so mancher in dieser Gegend, denn es liebe das unbegangene Sumpfdickicht, wie es sich hier, bis zum Regenurwald hinunter, ausbreite.
Vielleicht hätte ich das Ganze für schwarzes Jägerlatein gehalten, wenn der fahrende Gesell nicht etwas so glaubwürdiges und respektheischendes gehabt hätte und wenn ich mich nicht an die Erzählung eines alten Pflanzers erinnert hätte, der von einem seiner jagdlustigen Neger von einer Riesenechse im Moor gehört hatte.
In unserer weltverlorenen Wildnis konnte wohl in einem undurchdringlichen Dickicht noch ein Überbleibsel vorweltlicher Riesenechsen leben. Es gab ja Stellen im Moor, zu denen man nie gelangen konnte. Wie viele unentdeckte, heimliche Tiere konnten dort noch leben! Ich war so voller Entdeckungslust, dass der interessante Alte mit seinen Liedern, seinem kunstvollen Instrument, seiner Spindel und seinem Webstück mir gleichgültig geworden war.
Ich ließ ihn stehen, sobald er alles erzählt hatte, was er vom Chipekwe wusste. Mir ging das unentdeckte Tier nun nicht mehr aus dem Sinn. Ich würde so lange danach fahnden, bis ich es gefunden hätte, würde es filmen, und würde berühmt dadurch werden.
Beim Abendessen erklärte ich, morgen ginge ich auf die Pirsch nach dem unbekannten Ungeheuer. Zuerst lachten die Anderen. Aber Nickel, dem der Alte auch gefallen hatte, meinte dann, es könnte doch etwas daran sein. Er war nun schon lange genug Pflanzer, um erfahren zu haben, dass das, was wir an unseren Schwarzen für Busch- und Lügenmärchen gehalten hatten, sich manchmal hinterher auf seltsame Weise bewahrheitet hatte. Manchmal hören sie das Gras wachsen und was Tiere, Pflanzen, und Witterungsdinge betraf, darin waren sie sicher weiser als wir.
„Warte, wenn die Regenzeit vorüber ist, gehen wir miteinander auf die Chipekwe-Pirsch.“, sagte Nickel. „Das Ungeheuer interessiert mich auch. Ich werde einen riesigen Schinken malen, für das britische Museum. Falls wir es überhaupt nicht für Hagenbeck einfangen!“
Nun lachte ich ihn meinerseits aus. Ein halbes Jahr sollte ich aushalten? Da kenne er seinen Freund aber schlecht! Tag und Nacht wird es mir nun keine Ruhe mehr lassen, das Tier zu entdecken. Morgen würde ich gehen und keinen Tag später. Und zwar allein, wenn er nicht mit wolle. Nickel schüttelte den Kopf und sagte nichts mehr als : „Tropenkoller!“
Vielleicht hatte ich wirklich einen. Jedenfalls ging ich. In grauer Frühe machte ich mich auf. Ich ging so rasch, dass ich mich selber immer wieder bremsen musste! Wenn mir jemand erzählt hätte, in unserem Sumpf sei eine Goldstelle oder eine Diamantenerde, ich hätte nicht aufgeregter sein können. Die Hosen hatte ich in meine dicksten Bergstiefel gesteckt, ich hatte ja meine Erfahrungen mit Sumpfspaziergängen.
Nach den ersten anstrengenden und zeitraubenden Streifereien hatte ich es aufgegeben, in die Tiefe des Sumpfes vorzudringen. Kein Pfad führte hindurch. Auch die verlockendste Grünfläche hatte fußhohes Wasser unter dem Gras stehen - übles, brackiges Schlammwasser, das boshaft gluckste und Blasen aus spie. Meine Flinte hatte ich nicht mit. Wo man nicht einmal Grund hat fest zu stehen, kann man doch nicht richtig zielen. Am Springen, Kriechen und Klettern hätte mich das Ding nur gehindert. Wenn ich einen gehabt hätte, hätte ich vielleicht einen Browning20 eingesteckt, zur Nervenberuhigung. Und hätte ich Schokolade gehabt, so hätte ich sie aus den gleichen Grunde mitgenommen. Aber so etwas konnte ich mir nicht leisten.
Die Leica aber steckte ich ein und den Kompass und ein Stück Brot. Auch die Katana nahm ich mit, sie ist brauchbar zum Wegbahnen. Einstmals war es wohl eine Waffe, dieses unterarmlange Ding mit gebogener und wohl geschärfter Schneide. Ich habe sie aber nie als Waffe gebraucht, aber durchs Dickicht wäre ich ohne sie wohl kaum gekommen.
Ich hatte einen bestimmten Plan. Durch den kleinen Ziergarten mit den Phoenixpalmen ging ich, als wollte ich zum nächsten Zug. Durch den Eukalyptushain ging ich schon im normalen Tempo und als ich am Fuß unseres Hanges den Bach blitzen sah, bog ich mit Bedacht und sorgsam um mich sehend in den Pad, der zum Kimbu am Rande des Moores führte.
Wie eine gewiegter Buschmann prüfte ich mit dem Blick jeden Fleck vor mir, um keiner Schlange auf den Schwanz zu treten. Diese Art des Wanderns war mir schon zur zweiten Natur geworden und ich habe sie bis heute nicht verloren.
Der Weg war schon feucht, der sandige Boden trug eine schüttere Kräuterdecke. Überall sickerten Rinnsale aus dem Sand, die dem Bach zu flossen und den Boden völlig durchfeuchteten. Unter dem Sand lag wohl eine Tonschicht, die kein Wasser durchlässt. So kamen schon auf halber Höhe unzählige Quellen heraus.
Unten am Bachufer wuschen die Frauen des nahen Kimbu ihre Wäsche. Formlose Lumpen und Tücher mit Löchern durchsetzt. Eine von ihnen badete, ohne ihr Tuch abgelegt zu haben. Kichernd und albernd, wie die kleinen Mädchen, machten sie einander auf mich aufmerksam. Wenn sie gewusst hätten, auf welchem tollkühnen Pirschgang ich ausging, hätten sie ihre weißen Augäpfel wohl noch ganz anders rollen lassen.
Das Kimbu lag am Hang. Die dazugehörigen regellosen Ackerstückchen waren auf den Schlammablagerungen des Baches angelegt. Sie sahen armselig aus. Sie werden ja solange bebaut, ohne irgendwelchen Dünger zu bekommen, bis der Mais nur noch winzige Kolben macht. Wir würden das Raubbau nennen. Die Schwarzen kennen diesen Begriff nicht. Sie suchen sich einfach ein neues Stückchen Land, etwas weiter ab vom Kimbu, möglichst eines, das sie nicht erst roden müssen und pflanzen darauf weiter.
Ich wanderte durch diese Wildnis von Mais, Hirse, Bohnen, Süßkartoffeln, dieses letzte Stückchen menschlicher "Kultur". Dann kam so wüstes Gestrüpp, dass mir der Bachlauf, so nahe er auch war, ganz abhanden kam. Ich musste ihn mühsam wieder suchen, indem ich mir mit der Katana Durchblicke ins Gesträuch schlug.
Das Gras wurde immer höher und undurchdringlicher. Die Sonne prallte mir auf den Nacken, schon jetzt, am Morgen war eine feuchtheiße Temperatur, wie in einem Treibhaus. Mein Arm war schon müde vom harten Zuschlagen mit dem Buschmesser, das rasch abstumpfte.
Hin und wieder stolperte ich über kleine Termitenhügel, auf die man überall im Busch trifft. Diese kleinen Hügel sind besonders tückisch, weil man sie im hohen Gras nicht sieht und, da sie hart wie Zement sind, kann man sich an ihnen gründlich den Fuß verstauchen. Die großen, die bis zu fünf Meter hoch werden, sind dem Buschwanderer ganz lieb, denn er kann hinauf klettern, um sich zu orientieren. Es sind richtige, sturmfeste Burgen.
Das Bachbett nahm an Breite zu. Ich sah die vielen Windungen des Bachs, die zeigten, wie er sich seinen Weg gesucht hatte. Große Löcher waren darin eingebrochen. Es sah aus, als reihe sich ein kleiner Teich an den anderen. Es wurde immer schwammiger, die Ufersümpfe zum Waten zu tief.
Am Uferhang wurde das Gestrüpp so undurchdringlich, dass auch die Katana versagte. Es half nichts, ich musste wieder hinauf klettern und in der Steppe oben weiterlaufen. Hier war das Vorwärtskommen aber erst recht schwer. Überall Elefantengras, das über drei Meter hoch wird, keine Sicht, kein Pfad.
Dies Gras ist dicht wie ein Wald, zäh und schneidend scharf, wenn es einem entgegen schnellt. Das Elefantengras hatte ich schon auf früheren Streifzügen hassen gelernt. Man schlägt sich mühselig hindurch, verliert dabei jegliche Orientierung und Bakterien, die an den Halmen sitzen, geraten, wenn das Gras in die Haut schneidet, in die offene Wunde. Die „Kaffernwunden“ sind eitrig, bösartig und sehr schwer zu heilen.
Es wäre gescheiter gewesen, um zukehren und für dieses Abenteuer ein Kanu zu bauen, aber ich war nicht gescheit. Auf das Kanu hätte ich allzu lange warten müssen, denn auch im Busch kostet so etwas Geld und ziemlich viel Zeit.
Fluchend, und schon ein bisschen müde versuchte ich noch einmal am Bachbett vorwärts zukommen, aber es war hoffnungslos. Also wieder hinaufgekrabbelt auf den Uferrand und frisch hinein ins Elefantengras!
Sorgsam sah ich mich noch einmal um, um das Richtungsgefühl zu behalten. Dann sah ich nach dem Stand der Sonne und nahm den Kompass zu Hilfe, dann tauchte ich unter.
Ein Stück weit teilte ich die Grashalme mit den Armen, wie ein Schwimmer, aber bald griff ich doch wieder zur Katana. Nun fand ich eine Methode, mit meinen zum Glück großen Füßen eine schmale Spur vor mir herzu treten. Das hatte vor dem „Schwimmen“ den Vorteil, dass man seine Spur hinter sich sah. Und ich war gewitzt genug, die Vorteile eine Rückzugweges zu schätzen. Ich hatte mich schon oft genug verirrt. Die eigene Spur ist ein ganz zuverlässiger Wegweiser, solange nicht ein anderer Mensch oder ein Tier sie kreuzt, dann ist es erst recht aus, mit aller Orientierung.
Ich kannte dieses unheimliche Graswandern schon. Nach den ersten Versuchen war ich vorsichtig genug geworden, nie tief in das Dickicht hineinzugehen. Schon dass man in dieser leichten Dämmerung weder Schlagen noch Ameisen erkennen kann, ist ungemütlich genug. Heute aber war das Jagdfieber stärker als alle Vernunft. Rings um mich sah ich nichts als schaukelnde Halme, über mir die großen Blütenbüschel der Gräser, dahinter den tiefblauen Himmel.
Es kam mir vor, als wandere ich schon stundenlang in dieser sichtlosen Unterwelt. Ich fing an zu schwitzen, dass es mir unter der Schilfleinenjacke kribbelnd den Rücken hinunter lief. Es war nicht nur Gewitterschwüle und Anstrengung, es war auch meine Nervosität. Immer unruhiger achtete ich auf jedes Rauschen und Knistern, auf jedes jähe Schwanken der Halme. Wo etwas unsichtbar sich regt, vermutet man sofort einen Panther, eine Tigerschlange oder eine der sehr giftigen, kleinen Puffottern, weil man ja keine drei Schritte weit sehen kann.
Das Unbekannte macht immer am meisten Bange. Ich glaube, so seltsam aufgeregt und ängstlich wie unter diesen sanft schaukelnden Halmen, bin ich in meiner ganzen Buschzeit nicht wieder gewesen. Einmal war es eine niedliche graue Maus und einmal war es der bunt schillernde Schwanz einer Schlange, das mir Herzklopfen verursachte.
Geradezu auf eine Löwen los zugehen wäre mir als ein Knabenstreich erschienen, gegen dieses blinde Herumstraucheln unter ungesehenen Feinden, die mir ins Gesicht oder ins Genick zu springen drohten, ohne dass ich auch nur richtig ausholen konnte, um mich zu wehren.
Endlich wurde das Gras dünner, der Horizont schimmerte hindurch. Mein Herz tat einen vergnügten Satz, ich hatte wieder Sicht! Wirklich, mein Kompass hatte recht gehabt, das Bachbett war etwas rechts zu sehen. Ich wischte mir den Schweiß unter dem Helm fort und hielt darauf zu, nun fest entschlossen mich auch vom tiefsten Schlamm und vom dicksten Gestrüpp nicht abhalten zu lassen.
Das Bachbett hatte sich zum Sumpfgelände erweitert. Überall funkelte das trügerische Grün des Moorgrases. Brütende Stille lag über dem ganzen Gelände, ein starker Brodem von verwesenden Pflanzen und Hölzern stieg aus der Senkung auf. Auch der Bach war träge und wie abgestorben. Am jenseitigen Ufer starrte ein wüstes Wurzeldickicht wie lauter sich ringende und verschlungene Arme von der unterspülten Uferböschung herunter. Es waren bloßgelegte Baumwurzeln, die seltsam nackt und vorweltlich aussahen. Ab und zu fuhr eine Libelle wie ein Blitz auf mich zu und ich sah ihre großen Augen erstaunt auf mein weißes Gesicht gerichtet.
Ich hatte die Empfindung viele solcher Augen sähen mich aus der Wildnis ohne Unterlass an. Ich kam mir vor, wie der erste Mensch, der in die Geheimnisse der Schöpfung unaufgefordert eindringt. Um dieses unheimliche Empfinden zu verdrängen, schlug ich besonders kräftig auf sperriges Unterholz ein, das mir im Weg war. Nun erst recht wollte ich durch! Es knirschte und knisterte, ich sprang, kroch, kletterte und endlich rutschte ich in eine tiefe Mulde, die fein mit Erlen und niederen Baumgruppen bewachsen war.
Im feuchten Schlamm sitzend fand ich mich wieder. Nun hatte ich das Bachbett gewonnen. Der Bach schlängelte sich gar nicht weit ab durch mein Tal. Um mich war alles saftig grün und schattig. Endlich schattig! Ich verpustete und erinnerte mich an mein Vorhaben, das mir vor lauter Anstrengung fast entfallen war. Jetzt galt es behutsam zu schleichen, die Kamera stets gezückt.
Es raschelte verheißungsvoll ganz dicht vor mir im Schilf. Ich hielt den Atem an und richtete mich vorsichtig halb auf. Mit mächtigen Satz schnellte etwas langes, prustendendes aus der Erlengruppe in das Wasser hinein, mir einen Sprühregen ins Gesicht spritzend. Dieser machte die Leica völlig kampfunfähig.
Es schwamm mit glänzendem, braunem Leib im Wasser davon und als ich meinen Verstand wieder beisammen hatte, sah ich, dass es ein Fischotter gewesen war.
Ich wollte näher ans Wasser, aber schon beim nächsten Schritt sackte ich ab. Ich versank bis über die Waden und schwarzes Moorwasser schwappte an mir herauf. Ich sprang von Grasinsel zu Grasinsel. Überall quatschte und brodelte mir das tückische Wasser entgegen.
Dies war sicher Chipekwegelände. Das feuerte mich an und ich begann mich, wie ein Affe, von Erlenbusch zu Erlenbusch zu hangeln, um mich in Astgabeln fest zuhängen. Ich konnte an den Bach nicht recht herankommen. Er sah so lockend und sanft aus, von Schilf, weiß blühenden Callas und dicken Wasserrosenbündeln ganz überwuchert. Er sah viel tropischer aus, als auf unsere Höhe - und doch keine Spur eines Urwaldtieres.
Nun fand ich eine Furt voller Wildspuren. Hier schienen die Bambis, die kleinen Buschrehe, in ganzen Gesellschaften zum Trinken zu gehen. Wie viele Bambispuren ich schon gefunden hatte, aber nicht ein Bambi hatte ich gesehen. Diese Buschtiere scheinen alle Tarnkappen zu haben. In der Bambispur konnte ich endlich zum Wasser gelangen. Ich kauerte mich still am Ufer hin, hielt Umschau und zog mir die durchgeschwitzte Jacke aus.
Totenstille ringsum. Alles Getier schien zu schlafen, in der Mittagsglut. Die Sonne stand hoch und als ich mich stark vor neigte, sah ich, dass sie bis auf den Grund des Baches leuchtete. Winzige Fischbrut stand über der sacht hin und her wehenden Wasserpest. Sonst war nichts Lebendes auszumachen. Doch, ein dicker Barsch steht zwischen den Pflanzenstängeln und wieder einer und noch einer und noch einer!
Bildhübsche Kerle, lachsrot, grasgrün und golden schillernd. Ob das Chipekwe solche kaninchen­großen Brocken gefressen hat und Verdauungsschlaf im Schlamm hält? Ach was - Chipekwe, jetzt lockte mich die „Niederjagd“ zu meinen Füßen mehr, als alle unentdeckten Riesenechsen. Wenn ich doch nur Angelzeug dabei hätte, dachte ich ärgerlich und kramte dabei unwillkürlich in meiner Hosentasche. Wenigstens einen Haken oder zumindest eine alte Stoffnadel, um einen Angelhaken daraus zu machen.
Zornig und gierig verfolgte ich jede Bewegung der fetten Burschen im Bach. Wohl sechs Stunden war ich unterwegs und nun konnte ich nicht einmal diese Trostbeute heimbringen.
Plötzlich fiel ein Schatten auf den Wasserspiegel und wieder hatte ich dieses närrische Gefühl: Jemand sieht dich an. Ich hob den Kopf. Wirklich sah mich jemand an, aus dem Schilf ge­genüber. Chipekwe fuhr es mir durch den Kopf! Wie gebannt sah ich in zwei steinalte Augen, die mich starr wie aus versunkenen Welten, anglotzten. Sie saßen in einem schuppigen, dreieckigen Echsenkopf, der von einem zackigen Nackenkamm überragt war. Graugrün, warzig und feucht regte sich ein langer Leib dahinter.
Sekundenlang sahen wir uns an. Das Wesen zuckte mit keinem Lid. Der gelbe Blick blieb starr wie aus Stein gegossen. Nun war ich so weit, dass ich rein mechanisch nach meiner Leica griff, ohne die Augen abzuwenden. Da schob es lautlos den Kopf zurück, Schilf legte sich sacht über die Lücke, als schließe sich ein Vorhang. Alles war leblos wie zuvor.
Ich versuchte es aus Leibeskräften in seiner Suhle aufzustöbern, denn es war offenbar, dass es den trägen Leib gar nicht von der Stelle gerührt hatte. Das hätte ich an der Bewegung der Kolben und Blätter bemerkt. Aber auch der Bach war ein tückischer Sumpf geworden. Beim ersten Schritt saß ich fest im zähen Schlamm, beim nächsten hielten mich Schlingpflanzen mit hundert Armen fest und wieder beim nächsten versackte ich so tief im Schlamm, dass ich nur mit krampfhaften Schwimmbewegungen wieder zurück kam. Ich musste es aufgeben.
Ich tastete mich am Ufer entlang und versuchte, eine Stelle zu entdecken, wo ich das Wasser überqueren konnte, ohne dass es mich schluckte. Ich war so aufgeregt wie ein Hund, der hinter einer Katze her ist. Unter mir quatschte und gluckste es höhnisch, die Füße blieben mir weg, aufgescheuchte Libellen bumsten mir gegen die Brust, das Schilf rauschte und knisterte um mich, als ob ein Elefant hindurch tapse. Als mir der Atem wegblieb, resignierte ich endgültig. Und nun, da ich mich auf einen Erlenstumpf gerettet und mir eine Zigarette angezündet hatte , wurde ich auch kaltblütig. Ich sah, dass es einfach unmöglich war, ohne Boot im Sumpf zu pirschen.
Unmöglich auch, im Schilfdickicht unter einer modernden, alten Blattschicht eine Amphibie herauszufinden. Sie würde sich ganz einfach in den Schlamm eingraben und, wenn es darauf ankam, dort überwintern. Da konnte ich lange warten! Da mir nun mit einem Mal die Vernunft zurück kam, wurde mir auch klar, dass das Jagdfieber mir einen Streich gespielt hatte. In der ersten Verblüffung hatte ich mich verschätzt. Das Tier hatte ganz und gar nicht Elefantengröße gehabt, war also keine gefährliche Riesenechse gewesen, sondern eine der harmlosen, großen Eidechsenarten, die es noch ab und zu in Afrika gibt.
Es mochte wohl ein Meter lang gewesen sein, eines der degenerierten Familien­mitglieder der Chipekwes; eine Kammechse, ein Waran oder ein Leguan. Meine Fantasie war mit mir durchgegangen, wie schon so manches Mal im schwarzen Erdteil. Ich konnte froh sein, dass ich bei dieser Begegnung allein war. Es war ein typisches Buschabenteuer, wie ich sie aus den Erzählungen der „alten Afrikaner“ schon kannte. Man verliert eben alle Maßstäbe in dieser unheimlichen, unberührten Einöde. Ich Schafskopf hätte wenigsten sofort fotografieren sollen, statt mich von den gelben Augen hypnotisieren zu lassen.
Ich beschloss heim zuwandern und ein bisschen auf zuschneiden, wenn ich von der Sumpfechse erzählte, so dass die Anderen immerhin vermuten könnten, dass ich beinahe das richtige Chipekwe gefunden hatte.
Ich hielt in meinen Phantasien inne und sah vom Wasser, dessen Spiegel unheilvoll aussah, zum Himmel auf. Im Nu war ich auf den Füßen. Stolpernd und ab und zu wegsackend klomm ich am Uferrand hoch. Oben sah ich mich noch einmal um, es war ganz düster geworden. Unmöglich sich noch nach dem Sonnenstand zu orientieren. Es brütete und braute über dem Sumpfland von bläulichem Regenwolken, die so tief hingen, dass sie jeden Augenblick bersten mussten.
Ich Esel, nun hatte ich vergessen, dass der nachmittägliche Platzregen fällig war. Ich hatte mich so von meinem Echsentier verzaubern lassen, dass ich alle meine mühsam erworbene Buscherfahrung in den Wind geschlagen hatte. Ich lief, so schnell es eben gehen wollte, auf die Grassteppe zu und ging, in meiner alten Spur, durch den Graswald zurück. Jetzt hatte ich keine Zeit zu Überlegungen, ob ich am Ende in eine falsche Spur einböge.
Ich schwamm mit den Armen um mich fuchtelnd hindurch. Es ging alles gut, ich hatte wirklich mehr Glück als Verstand. Als ich aus dem Elefantengras herauskam, hatte der Himmel sich noch violett, fahl gelb und grün auf seine Palette gelegt. Er hielt aber noch an sich.
Ich kletterte auf einen Termitenhügel, um nach dem nächsten Weg Ausschau zu halten. Der Rückweg am rutschigen Ufer entlang war nichts für mich, denn, wenn es los ging, musste ich mich notdürftig unter einen Baum verkriechen oder aber im Galopp laufen können.
Jenseits des Baches sah ich, ganz nah wie mir schien, die viereckigen Eukalyptuskulissen unserer Pflanzung, die mir geradezu zu lachten. Luftlinie! Sagte ich mir, das ist das Gebot der Stunde und ich vergaß alle Buschmannweisheit und führte meinen Plan aus.
Irgendwie kam ich über den Bach hinüber, hüpfend, watend, und auf allen Vieren krabbelnd. Drüben kam ich auf dem Hügelland an, die Eukalypten waren wie ein Spuk verschwunden. Vor mir reihte sich Bodenwelle an Bodenwelle. Das typische Bild des Hochlandes von Bihé21. Ich musste hinunter, herauf, wieder hinunter, mal durch Stangenholz, mal durch Gras, mal durch Sumpfstellen, dann wieder durch Dornengestrüpp auf verkarstetem Boden, durch Disteln und strandhafer-ähnliches Gestrüpp.
Schließlich war ich, schweißnass und abgejagt, ganz froh, dass es sanft zu nieseln begann. Ich sah mir die Gewitterwolken gar nicht mehr an. Unbeirrt stapfte ich in meiner Richtung - immer Luftlinie.
Ab und zu musste ich einen großen Termitenhügel umgehen, auf dessen gelockertem Erdreich kräftige Bäumchen wuchsen, die mir die Sicht nahmen. Vor zu dichtem Unterholz oder einem Disteldickicht musste ich manchen Bogen machen, doch ich hielt meine Richtung ein.
Plötzlich verzweifelte ich an meinem Verstand. Ich hätte weiter geradeaus gehen müssen, aber die Sonne, die von Wolken um brodelt plötzlich hervor brach, stand gerade vor mir. Ich hätte sie aber im Rücken haben müssen. Ich stand, wie vor den Kopf geschlagen, indessen die Tropfen mir über den Nasenrücken auf den Kompass fielen, den ich zu Rate zog. Der Verstand sagte: Kehrt! Sonne im Rücken! Der Instinkt: Vorwärts, alles in Ordnung!
Die Sonne war wieder verschwunden, als hätte sie mich nur narren wollen. Der Regen fiel nun in Strippen, ich aber traute mich nun keinen Schritt mehr von der Stelle, aus Angst, den einmal gemachten Fehler zu verschlimmern. Ich hatte ein Karussell im Kopf. Mein Herz hämmerte wie ein Hammer. Am Leib hatte ich keinen trockenen Faden mehr.
Wie ich mir so den Kopf zermarterte, sah ich plötzlich in der Ferne einen Baum, der vom Blitz von oben bis unten entzwei gespalten und ganz verkohlt war. Den kannte ich doch? Und dann wurde es mir mit einem Schlage klar: Keine Stunde war der verkohlte Baum von der Pflanzung entfernt. Er war mein Wegweiser bei vielen Streifzügen gewesen. Wenn es nicht plötzlich geblitzt und gekracht hätte und wie mit Peitschenhieben auf meinen Buckel los geregnet hätte, hätte ich einen Freuden­sprung getan. Ein Tropengewitter ist kein Spaß und mit einem europäischen kaum zu ver­gleichen. Fast wurde es Nacht. Von unten spritzte das Wasser hoch und von oben preschte es auf einen los, wie mit Eimern über gegossen. Im Nu ist man wie blind, sieht nichts als Schnüre überall. Unmöglich einen Weg zu erkennen.
Ich tappte wie ein blindes Huhn eine Weile um den Baum herum, ehe ich zu ihm hin gefunden hatte. Die Schlammkrusten auf meinen Hosen wurden nun fein herunter gespült. Ich kroch, so gut es ging, in den gespaltenen Baum hinein, ganz ohne Rücksicht, was für bissige Bewohner er wohl in seiner Höhlung hegte. Aber es biss mich keiner. Und wenn der Panther, der in letzter Zeit in unserer Gegend gesichtet worden war, hier drinnen hauste, so hatte er wohl den Kopf unter die Pfoten gesteckt vor Gewitterschreck. Es krachte fern und nah, fuhr grell und weiß über den Himmel, es musste eine ganze Sippe von Gewittern sein, die über meinem Kopf aufeinander trafen. Sintflut und Weltuntergang ist das Einzige, was man noch zu denken imstande ist.
Wie eine Katze hing ich mit eingezogenen Schultern im faulen Holz. Ich war wie betäubt, denn es platschte wie das Traufenwasser aus der Dachrinne durch den Spalt auf meinen Nacken herab. Trotz allem hatte ich noch ein Gefühl der Scham, dass meine Großwildjagd so jämmerlich endete. Wahrhaftig, wenn mir das Chipekwe das Genick durch bissen hätte, es wäre ein besseres Abenteuer gewesen, als dieses, so nahe der Pflanzung, sich wie ein Buschneuling eingewittern zu lassen!
Ob es wirklich Nacht war oder ob das Unwetter sie nur vortäuschte, ich konnte dies in meinem Mauseloch nicht feststellen. Jedenfalls hatte ich schon Buschmannverstand genug, um zu wissen, dass es mir blühen könne, die ganze Nacht hier festzusitzen. Dann konnte ich nur froh sein, wenn ich dem herum streifenden Panther ein zu kaltfeuchter Happen wäre. Die Moskitos würden jedenfalls ebenso glatt durch die nasse Haut stechen, wie durch die trockene.
Ich weiß nicht ob es Stunden oder Viertelstunden waren, die ich mit diesen lieblichen Gedanken im Baume zu brachte. Da sickerte plötzlich eine Helle herein, die nicht von Blitzen herrührte. Das Donnern hörte sich nur noch wie ein dunkles Räuspern der Götter an. Sie meinten es gut mit mir, diese afrikanischen Götter, die ich so frech herausgefordert hatte. Als sie mich windelweich hatten, körperlich wie moralisch, stellten sie die große Gießkanne und den Donnerkeil ab und dafür einen kunterbunten Regen­bogen an. Ich konnte mit quatschenden Stiefeln und Rinnsalen, die aus meinem Schopf sickerten, heimwärts stolpern.
Wie lieblich und anheimelnd erschien mir jetzt das öde aufgereihte Strauchwerk unserer Kaffee­pflanzung, dessen langweilige Exaktheit mich so oft geärgert hatte. Am liebsten hätte ich den ersten triefenden Strauch umarmt, wie eine freundliche Ehrenjungfrau, die mich auf heimischem Gelände empfing.
Daheim wurde ich begrüßt wie ein von den Zigeunern geraubtes Kind. Mit heißem Kaffee, Schmalzbroten und warmen Badetüchern. Nach dem Chipekwe fragte mich keiner, da ich es nicht geschultert trug. An diesem Abend sagte auch ich nichts von meinem Abenteuer, das Aufschneiden war mir vergangen.
Panther und seine Frau
Ich fing nun wirklich an, mich als gewiegter Buschmann zu fühlen. Ich pulte Sandflöhe aus, wie der Inhaber eines Fußpflegeladens auf dem Tauentzien22. Ich wählte einen Seitenweg, wenn ich in den Kaffee ging, um den arbeitenden Schwarzen auf die Finger zu sehen, denn wenn man die Straße entlang kam, funktionierte ihr Nachrichtendienst so gut, dass sie immerzu gerade in Arbeitswut waren, wenn man auftauchte. Ein Schwarzer und „Arbeitswut“, das sind zwei Gegensätze, die sich nie berühren und man kann höchstens ihre Schauspielkunst bewundern, mit der sie Schweißtropfen auf die Stirne zaubern.
Ich hatte auch große Fertigkeit im Richtig-Schlafen errungen, nämlich so, dass weder die Kehrseite noch sonstige Extremitäten das Moskitonetz berührten. Solche vorgeschobenen Körperposten waren ein Eldorado für die Moskitos, die, auf den Netzmaschen sitzend, lauerten, ob sie ihren Rüssel wo hineinstecken könnten.
Kurzum, ich hielt mich, für perfekt. Da kam aber der große Regen und ich wurde wieder Busch­neuling. Geregnet hatte es zwar nun schon viele Wochen lang, mal den halben, mal den ganzen Nachmittag, mal lustige Platzregen, mal dramatische Gewitterstürme, meist aber feine, melan­cholische Fäden, die sich zu einem sanften Schleier verdichteten. Wenn es dann aufhörte, stieg der Dunst der nassen Pflanzen, die sich mit Sonne voll sogen, in Schwaden auf. Es war, als wäre die Welt eben erst geboren, eine interessante Atmosphäre und gar nicht unfilmisch, wie ich mit meiner Leica festgestellt hatte. Afrika gefiel mir in diesem Waschküchendampf nicht schlecht.
Aber der Regen wurde hartnäckiger. Mehr als der halbe Tag verschwand in nassen Schwaden, alle Geräusche versickerten. Aus feinem Schleier wurden Fäden, dann Bindfäden ohne Ende, schließlich regnete es den ganzen Tag. Und dann jeden Tag. Niemand, der es nicht ausgekostet hat, kann sich vorstellen, was für eine Nervenprobe ein Tropenregen ist. Man ist im Hause gefangen, kann höchstens über den Hof laufen, bis in eines der Wirtschaftsgebäude, praktisch aber ist man ein Stubenwurm geworden.
Die Neger ziehen sich mit Einsetzen der Regenzeit in ihr Kimbu zurück und beginnen ein Bären­hautleben, wie unsere Vorfahren vor Jahrtausenden es geführt haben mögen. Mitten auf dem Lehmboden der Hütte hocken sie um das Feuer, das die Frauen ständig unterhalten müssen, lassen sich füttern, schlafen und dösen, wenn es hochkommt, schnitzen sie ein bisschen oder spielen mit den Kindern.
Der Schwarze kann ein halbes Jahr so überstehen, ohne in Nervenkrisen zu verfallen. Für den Pflanzer wäre es das Natürlichste und Wichtigste, sich den Landessitten anzupassen und sich am Kamin auf das Tigerfell beziehungsweise den Warenhauskattun zu legen. Die Arbeit im Kaffee steht fast ganz still. Der Pflanzer kann, wenn er vom Dösen genug hat, seine kaufmännischen Bücher mit auf das Sofa holen und das tun, was er schon viel zu lange aufgeschoben hat: Nachrechnen, voraus rechnen, Soll und Haben vergleichen, um endlich herauszukriegen, dass er nicht gerade auf einen grünen Zweig, sondern mehr auf einem dürren Ast sitzt.
Wahrscheinlich schmeißt er dann fluchend das Buch beiseite, dreht sich aus seinem feucht gewordenen Tabak eine Zigarette und sagt sich vor, dass es besser werden wird, spätestens nächstes Jahr, der Kaffeepreis wird steigen, neue Transportmöglichkeiten werden auftauchen, aus den nächsten Orten werden Aufträge für Bananen oder Butter kommen, der Export wird endlich erleichtert werden, dann, wahrhaftig, könnte man es bis zu einem kleinen Auto bringen und in diesen verdammten Regentagen in ein Kino gehen, nicht auszudenken, solche Herrlichkeiten!
Wenn man Talent zum Ausmalen hat, hält man es, mit solchen angenehmen Fantasien ein halbes Jahr aus.
Aber die Rechenexempel waren nicht mein Fach, das war Nickels Sache. Nickel aber rechnete nicht, er malte. Ich konnte ihm zuschauen, ich konnte ihm auch Farben reiben und Bilder aufziehen.
Das ging eine Weile, aber es war nichts Richtiges, es war wie eine Krankheit in mir, dies nichts zu tun haben. Patienten hatte ich in der Regenzeit so gut wie gar keine, die Schwarzen schienen lieber an ihrem Hüttenfeuer zu sterben, als eine halbe Stunde durch den Regen zu waten. Dieser dicke Glasperlenvorhang, der dauernd vor Türen und Fenstern hing, wo ich auch hinaus sah, machte mich rabiat, denn, was dahinter war, was man kaum noch sehen konnte, der Busch, der reizte mich jetzt wie ein verlorenes Paradies.
Alles fiel mir nun ein, was ich vergessen hatte zu erforschen, in Busch, Steppe und Sumpf. Es juckte und zwickte mich auf Entdeckungsfahrten zu gehen. Manchmal lief ich wie ein Raubtier im Käfig im Hause herum. Die Umstellung war schlimm für mich, der ich meist den lieben langen Tag draußen herum gestreunt war.
Ich dachte mir, dass die, wie mit dem Spachtel gezogenen Furchen im Gesicht der „alten Afrikaner“ ebenso gut von dieser monatelangen Nervenfolter gezeichnet sein könnten, wie von Fieber, bösen Abenteuern und Leidenschaften.
Vom Erwachen am frühen Morgen an hatte man die Stimme des Regens im Ohr, diesen gleich­mäßigen Singsang, wie von einem vor sich hin murmelnden Alten auf der Ofenbank. Man hat einfach keine Lust, aufzustehen. Dann wünschte ich mir von Herzen, ein „alter Buschmann“ zu sein, wie meine Nachbarn es mir beschrieben hatten. Er lässt sich seinen Kaffee bringen, langt nach einem zerlesenen Schmöker und bleibt liegen. Der Tag wird nicht erst begonnen, mag er hingehen, wie er will. Es wird viele unten geben, die so auf „Regenschlaf“ trainiert sind, dass sie immer auf dem Sofa liegen, die Deckenmatte anstarren und ihren Geist leer laufen lassen. Dieser arbeitet nur noch auf halben Touren, wie die Schlange im Winterschlaf. Das Haupträdchen hakt aus, das mechanische Räderwerk schnurrt leise weiter. Man isst, trinkt, raucht, gibt gewohnte Befehle und ist doch nur ein leeres Gehäuse von einem Menschen.
So machen es die alten Buschmänner, die den Afrikabazillus in ihrem Blut haben und ihm nicht mehr entrinnen wollen. Sie speichern einfach Kraft für die schönen Tage der Trockenzeit.
Was mich betraf - und so manchen meiner Pflanzerfreunde auch - so konnte ich die Leerlauf­schaltung nicht einstellen, wenigstens nicht für länger als höchstens drei Tage. Mich packte ein täglich ärgerer Tatendrang, der unbezähmbar war. Ich hämmerte, bastelte und reparierte und erfand, als arbeitete ich im Akkord.
Abends sank ich mit Muskelkater ins Bett und war doch nicht zufrieden. Ich ging bei meinen Freunden herum, wie einer, der um Arbeit bettelt.
Ich schrieb Briefe, gerbte Schlangenhäute, band Bücher ein, klebte Töpfe, ja ich katalogisierte eine ganze Schmetterlingssammlung. Nachts aber warf ich mich im Bett herum und beneidete meine Fledermaus, die den ganzen Tag ruhig geschlafen hatte und nun ihre flinke Jagd auf Moskitos machte.
Als es einfach nicht mehr ging mit dem Hauskaterdasein setzte ich mich auf unser Leichtmotorrad und preschte durch die Teiche und Klüfte, die eine Art Straße gewesen waren, jetzt aber mehr einem alten Flussarm glichen.
Eines Tages zog ich wieder einmal das Rad heraus, um einen meiner Selbstmordversuche, wie meine Freunde das nannten, zu machen. Ich wollte einen Nachbarbesuch abstatten und hatte mir einen Pflanzer in einer entlegenen Gegend ausgesucht, für den ich eine besondere Vorliebe hatte. Er hieß allgemein „der Hauptmann“. Sein Name war in Vergessenheit geraten, was sehr bezeichnend für ihn war. Um ihn und seine Pflanzung war ein Hauch von Abenteuern, der mich anzog.
Es war Abenteuer genug, heil zu ihm hinzukommen. Das Wasser hatte tiefe Furchen in die verschlammte Straße gerissen, zwischen denen ich wie ein Seiltänzer mein Rad hindurch balancieren musste. Kam mal ein Stück ohne Furchen und Rinnen, so war der rote Lehm weich und glatt. Ich glitschte dann wie auf Schmierseife. Die kleine Maschine machte darauf was sie wollte oder was sie musste. Sie bockte wie ein Maulesel, sie hüpfte beiseite, sie beschrieb graziöse Halb­kreise von einer Straßenseite zur anderen. Wenn ich an manchen Stellen nicht ab stieg, legte sie sich mit elegantem Rutscher auf die Seite. Meine Kehrseite färbte sich von Lehm rot und immer röter, von Hosen und Beinen gar nicht zu reden. Je ungeduldiger ich wurde, umso öfter saß ich auf dem Boden.
Dabei regnete und windete es nicht nur zum Schluss hagelte es auch noch. Aber mein Dickkopf war stärker als alle Vernunft. Ich wartete unter einer Bachbrücke das Ärgste ab, hievte meine Maschine keuchend wieder auf die Straße hinauf und setzte mich mit meinen feuchtem Hosenboden in den Sattel.
Es war mir egal, wie nass ich wurde, wenn ich nur meinem Käfig entronnen war. Trotz aller Sportbegeisterung kam ich mit roter Nase und Zähne klappern beim Hauptmann an. Sicher sah ich aus, wie ein Sumpfdickhäuter mit meiner Schlammkruste. Aber der Hauptmann wunderte sich gar nicht. Ich glaube ihn besuchten sowieso nur die halben Narren, die aber waren ihm sympathisch. Gleich vom ersten Mal an, hatte ich gefühlt, dass ich dazu gehörte.
Seine Pflanzung sah aus, wie aus einem zünftigen Buschroman. Sie war in einem interessanten Zustand von Verwilderung und Verfall. Das Gras wucherte hoch zwischen seinem Kaffee, die Wirt­schafts­gebäude hatten keine Fenster mehr oder sie waren halb herab gerutscht. Dächer und Mauern waren von Grün überzogen.
Sein Haus war ein richtiges Fabelhaus, es besaß nur drei rissige Wände, die Vierte wurde durch den Stamm eines gewaltigen Häuplingsbaumes ersetzt, dessen weit ausladende Zweige einen breiten Schirm über das Haus hielten, der sicher zuverlässiger als das Dach war, aus dem bunt blühendes Unkraut hie und da heraus spross.
Der Hauptmann hauste allein in dieser Hütte, nur eine zahnlose alte Negerin kam mittags aus dem Kimbu um zu kochen. Eins der Hofhäuser war noch nicht so weit in den Naturzustand zurück­gekehrt, wie die anderen. Sein Dach war gut geflickt und eine leere Fensterhöhle mit gut gefloch­tener Schilfmatte geschützt. Das war der Stall. Auf Tiere verstand sich der Hauptmann und hielt sie gut.
Der Hauptmann war zu seiner Zeit in der Schutztruppe gewesen. Als seine Dienstzeit zu Ende war, hatte er nicht nur die Existenzgrundlage, sondern auch alle Fühlung mit der Heimat verloren. Mit der Welt verfallen hatte er sich in den tiefsten Busch zurückgezogen, wo er auf seine Weise lebte und auf seine Weise Schnaps aus Honig oder Zuckerrohr braute.
Wenn man von all seinen Eigenheiten absah, war er aber ein Pfundskerl. Forsch, gutherzig und voller feiner Geschichten, wenn man sich mit ihm verstand. Auch die Schwarzen mochten ihn leiden und kamen zu ihm, um Rat und Hilfe. Man munkelte sogar, dass er nicht nur als Arzt für Mensch und Vieh, sondern auch als Zauberer auftrete. Das Letztere hing möglicherweise nur mit seinem unheimlichen Aussehen zusammen, das ihm eine gewaltige Narbe im Gesicht verlieh. Sie lief feuerrot an, wenn er in Zorn oder in die Hitze des Erzählens kam.
Außerdem hatten die Schwarzen Ehrfurcht vor seiner alten Truppenflinte, die stets frisch geputzt war. Er war als erfolgreicher Löwen-, Tiger- und Pantherjäger bekannt und in seinem Hause, in dem man Möbel und Hausgerät kaum bewundern konnte, waren die seltensten Felle zu sehen.
Übrigens sah er keineswegs wie ein großer Mann, oder ein ehemaliger Offizier aus. Seine Kleidung war verwahrlost, wie das nur im Busch möglich ist. Die Schuhe hatten Löcher, Schnürsenkel waren durch Stricke ersetzt. Dass die Wäsche ehemals weiß gewesen war, konnte man nur vermuten. Und wenn es bei ihm nicht nach Schnaps roch, so roch es nach alten Häuten und Kampfer, denn er stopfte Tiere aus, wenn er kein Bargeld mehr im Haus hatte und ließ sie zur Stadt zum Verkaufen bringen.
Eine Renommiertype für die deutschen Pflanzer war der Hauptmann nicht. Manche unserer Nachbarn, die es sehr genau nahmen, sagten, er sei verkaffert, aber ich fand ihn romantisch. Er erinnerte mich irgendwie an meine Jugend, an die Bücher, die ich so geliebt hatte.
Er empfing mich in seiner rauen, herzhaften Art, half mir die schmutzstarrenden Kleider vom Leibe zu kriegen, machte ein Höllenfeuer für mich und wärmte mich mit seinem guten Schnaps tüchtig auf. Aber er war heute keineswegs so gemütlich wie sonst. Anstatt mich gleich mit seiner Pfeife und seinem furchtbaren Kraut zu traktieren und mich in aller Behaglichkeit auszufragen, lief er unruhig im Raum auf und ab, so nervös, dass ich Sorge hatte, er würde in den großen Bottich fallen, der zum Auffangen des herein sickernden Regenwassers mitten im Zimmer stand.
Ich fragte taktvoller weise nicht gleich, was denn los sei, denn ich war „alter Afrikaner“ genug, um zu wissen, dass ein Pflanzer allerhand auf dem Herzen haben kann, worüber er nicht gern sprechen möchte. Es kam auch bald genug heraus.
„Seien Sie mir nicht böse, mein Junge,“, sagte er, „ich bin in einer ganz verflixten Bedrouille. So ein verdammtes Pech. Heute wollte ich meine Sau schlachten, die gute Luise, hatte schon den Wasserkessel übers Feuer gehängt und das schwarze Weib kommen lassen und alle meine Messer gewetzt, da musste ich die ganze Attacke wieder abblasen und warum? Mir fehlt einer: der Wolf!“
Da ich ein ziemlich unverständliches Gesicht machte, setzte er lachend hinzu: „Ja so, ich rede immer so unklar, das kommt vom Alleinsein. Der Fleischwolf fehlt, spurlos ist das Ding verschwunden! Den ganzen Vormittag habe ich gesucht, alles in Haus und Hof umgekehrt, wären Sie nicht gekommen, so hätte ich sicher im Busch weiter gesucht. Sie wissen ja, dass ich mehr draußen als drinnen lebe.“
Ich bot mich an mit zu suchen, aber ich war viel zu feucht, um aus der Nähe des Feuers fortzugehen. Ich sah die Größe des Unglücks wohl ein. Auch wir schlachteten nur einmal im Jahr ein Schwein auf der Pflanzung, da musste der Koch dann den halben Tag den Wolf drehen, bis der Arm lahm war.
„Wie soll ich denn die gute Luise verwursten, ich kann doch, Kreuzbombenelement, nicht das ganze Zweizentnerschwein mit meinem Jagdmesser in Stücke hacken. Aber der Wolf ist weg. Der Teufel muss ihn geholt haben.“
Kaum hatte mich das Kaminfeuer getrocknet, ging ich mit ihm auf die Suche, trotz meiner müden Knochen. Dies Unglück war wirklich eines, denn im Busch kann man nicht leihen oder kaufen, man muss eben finden, was verloren ist.
Wir stießen auf manches Unverhofftes, bei der Suche: Auf Schaben, Tausendfüßler, rostige Scheren, Stopfnadeln, Patronenhülsen, leere Chininampullen, Schlangenhäute, einzelne Socken, verschimmelte Schuhe, auch eine alte Zahnzange, ein Tigergebiss, von Mäusen halb aufgefressene Bücher und verrostete Koppelschlösser.
Manches begrüßte er froh, weil er es lange vermisst hatte. Aber ein so wichtiges und nützliches Ding wie der Wolf, war nicht dabei. Schließlich wurde ich so müde, dass ich bei aller guten Nachbarschaft nicht mehr im Stande war, mich auch nur zu bücken. Ich versuchte ihm also einzureden, dass er das Ding sicher verliehen hätte. Bei uns jedenfalls, wenn etwas Wichtiges im Haushalt fehlte, hatten es immer die Nachbarn entliehen. Er meinte zwar, um etwas auszuleihen würden seine Nachbarn erst zu zehn anderen schicken, ehe sie zum „verkafferten Hauptmann“ kämen. Aber er ging doch hinaus und schlug auf seine Gunga - ein Stück Eisenbahnschiene, die an einer Art Galgen hing. Das war das Signal für seine alte Negerin, im nahen Kimbu, herüber zukommen. Sie sollte ein paar junge Burschen mitbringen, die eine „Mokanda“, eine Botschaft, zu den Nachbarn tragen sollten. Der Hauptmann benutzte seine Gunga, wie die Neger ihre Trommel. Er konnte in einer Art Morsesprache gewisse, öfters wiederkehrende Befehle damit übermitteln.
Luise wurde aber für heute begnadigt und bekam ihr Fressen wie alle Tage, anstatt zu sterben. Nun, da mein Gastgeber sich mit der Lage abgefunden hatte, wurde er auch ganz gemütlich. Er briet uns auf dem offenen Feuer ein wohlschmeckendes, scharfes Gericht, dessen Zusammensetzung nicht zu erraten war, das aber ausgezeichnet schmeckte und mit seinem rauchigen Beigeschmack mich angenehm an Biwakfeuer und Soldatenleben erinnerte. Dann begann er zu erzählen und ich erzählte auch. So wurde es noch ein ganz gemütlicher Tag.
Er erzählte unter anderem, von einem raffinierten Panther der, wie seine Schwarzen erzählten, die Gegend seit einiger Zeit unsicher mache. Er müsse ganz nahe dem Kimbu im Busch wohnen. Die Haustiere der Neger verschwänden, wie durch Zauberspuk aus dem eingezäunten Hof, ja, aus dem Stall. Niemand habe ihn noch gesehen, nur einen, in hohem Sprung herein schnellenden Schatten hatte der Eine und Andere nachts über seinen Hof fliegen sehen.
Es müsse ein über vorsichtiger Bursche sein, er selbst, der Hauptmann, ein alter Großwildjäger habe zwar seine Spur an der Tränke gefunden, ihn aber, trotz aller Mühe, niemals trinken sehen. Manchmal liefen auch zwei Spuren neben­einander und führten einen in die Irre.
Die Schwarzen, die sonst leidenschaftliche Jäger waren, waren von dem unheimlichen Wesen des Tieres ganz verschreckt. Sie glaubten an Zauberei und Teufelsspuk und trauten sich nicht recht, auf das Ungeheuer Jagd zu machen.
Kürzlich war sogar am helllichten Tage ein Kind am Dorfrand verschwunden. Man hatte dem Hauptmann schon eine Abordnung geschickt, mit der Bitte, das Untier mit seiner großen Flinte zu erlegen.
„Das ist es ja, was mich so ungeduldig macht, die verdammte Hausfrauenarbeit hinter mich zu bringen!“, rief er und stieß vor Ärger mit seinem löchrigen Schuh an den Regenwasserbottich, dass das Wasser auf die Diele schwappte. „Ehe ich die Luise nicht fein zerstückelt in Gläsern habe, kann ich gar nichts unternehmen. Dieser lausige Wolf aber...“. Ich unterbrach ihn rasch, um ihn in ein anderes Fahrwasser zu bringen.
„Und dann gehen Sie auf die Pantherjagd?“
„Und ob! Der Bursche muss daran glauben und wenn er noch so ein Heimlicher ist.“, seine tief liegenden Augen wurden ganz kornblumenfarben vor Vorfreude. Er dehnte sich, dass die Knochen knackten: „Höchste Zeit, dass mir Mal wieder ein richtiges Raubtier vor die Büchse kommt, mir rosten sonst die alten Knochen ein.“
Ich wurde ganz aufgeregt. Das wäre doch endlich einmal eine Gelegenheit! Und ich fragte, mit vor Spannung ganz belegter Stimme, ob er mich nicht mit zur Pantherjagd nehmen würde? Aber er erklärte kurz, dass sei nichts für einen dreißigjährigen, jungen Buschmann wie mich.
„Nee Junge, Sie machen mir die Bestie bloß bange. Die wenigen Panther, die wir noch haben sind zu delikat, sie haben schon Nerven. Es ist viel zu viel geknallt worden bei uns. Für so ein Tier muss man Gefühl haben. Ich glaube mir stieg die Zorn- und Schamröte in das Gesicht, denn er klopfte mir auf die Schulter und drückte mich wieder auf den Stuhl, von dem ich aufspringen und vielleicht auch davon rennen wollte.
„Nein, nein, so meine ich es nicht,“, rief er „verstehen Sie mich doch recht! Nicht dass ich Sie für eine Bangebüx halte oder für einen Dummkopf. Aber unser Großwild ist eben heikel geworden, die spüren das sofort, wenn sie keinen „alten Afrikaner“ vor sich haben. Sie sind mit dem Busch noch nicht vertraut genug, verstehen Sie mich?“
Ich verstand zwar nicht recht, aber ich sagte resigniert „Ja!“
Mir war die Ernte heute verhagelt. Es war eben ein verfehltes Unternehmen gewesen, diese Gewalttour durch den Schlamm, es war nichts Richtiges, wie alles in dieser verflixten Regenzeit. Erst das dumme Theater wegen Luise und das Herumkriechen auf der Suche nach dem Wolf und nun diese feine Panthergeschichte, von der ich das Ende nicht mitkriegen sollte. Ich hatte es mal wieder satt, dieses dumme Afrika, von dem ich nur die Flöhe in den Zehen und die Malaria im Blut zu genießen bekam. Immer wenn es romantisch wurde, dann war ich der Geleimte.
Zum Schmollen hatte ich aber keine Gelegenheit, denn ich musste beim Hauptmann übernachten, die Sintflut draußen hatte solche Ausmaße angenommen, dass ich niemals heil Heim gekommen wäre.
Die letzten Worte meines Gastgebers, als er mich zu dem unbezogenen Gastbett geleitete, waren: „Sollten mir wirklich meine Schwarzen den Wolf geklaut haben, das kann ich ihnen einfach nicht zutrauen. Das würde mir hanebüchen auf die Nieren gehen. Ich kenne jede Hütte im Kimbu und ihre Insassen, habe die kleinen schwarzen Bälger aufwachsen sehen und habe sie eigentlich alle ganz gern. Nie ist mir in diesen ganzen Jahrzehnten noch etwas anderes stibitzt worden, als Schnaps oder Patronen. Schnaps und Patronen mausen sie manchmal, das fällt nicht unter die zehn Gebote des Umbundu-Mannes, so männliche Utensilien darf man dem weißen Mann ruhig mal wegnehmen und was, in drei Teufels Namen, sollten sie auch mit einem Wolf anfangen?“
Ich war so unhöflich, keine Antwort zu geben, ich konnte von diesem albernen Fleischwolf nichts mehr hören. Mein männliches Ehrgefühl war bitter angeschlagen und ich wollte der finsteren Nacht meinen zornigen Kummer klagen. Es war mir auch unbegreiflich, wie man etwas so herrliches wie eine Pantherjagd einfach aufschieben könne, um einer alten Sau und ihrer Würste willen. Ich war eben doch noch kein richtiger alter Afrikaner, sonst hätte ich es selbstverständlich gefunden. Die täglichen Haushaltssorgen des Pflanzers kommen immer zuerst. Gelegentliche Jagdvergnügen werden nicht so wichtig genommen, immer noch kannte ich das wirkliche afrikanische Tempo nicht und nahm die kleinen Sensationen für wichtig.
Am anderen Tag kamen die Neger mit verneinenden Mokandas zurück. Der eine hilfsbereite Nachbar aber hatte gleich seinen Fleischwolf mitgegeben, damit der Hauptmann aus seinen Nöten komme.
Am anderen Morgen konnte ich also gleich beim Schlachten helfen. Dieses Geschäft hatte ich auf unserer Pflanzung schon ein wenig gelernt. Mit Begeisterung war ich nicht gerade bei der Arbeit. Lieber wäre mir gewesen, einen erlegten Panther abzuhäuten, anstatt die gute Luise.
Der Hauptmann war auch nicht wohl gelaunt. Es ging ihm nahe, dass er seine Schwarzen verdächtigen musste, seinen Wolf genommen zu haben. So hatten wir jeder unsere eigenen Gedanken.
Heimlich hatte ich im Sinn, noch einen oder zwei Tage bei solchen Hilfsleistungen hier zubleiben und so ganz unversehens in das Pantherabenteuer mit hineinzurutschen. Aber das glückte mir nicht. Wir wurstelten bis zum Abend und der Hauptmann musste seinem eifrigen Helfer wieder ein Nachtlager bieten. Aber am nächsten Tag war der Regen nur noch ein feiner Schleier.
„Das müssen Sie ausnutzen.“, sagte mein Gastgeber, „Den Räucherofen bringe ich alleine in Gang. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe. Sie haben mir über diese verflixte Misere und meine Hausfrauennöte gut hinweg geholfen.“
Ich musste mir meine Flüche für die Heimfahrt aufsparen.
Es verging eine halbe Woche, in der ich regenzeitkranker denn je im Hause herum irrte und meinen Freunden mit meiner schlechten Laune auf die Nerven fiel. Ich hatte in die romantische Atmosphäre beim Hauptmann hinein gerochen, ich hatte einen gefährlichen Panther zu wittern gekriegt. Ich war wie verhext. Der friedliche Schlendrian bei uns und die geradezu luxuriöse Luft in unserem Haushalt, in dem eine weiße Frau herrschte, wollte mir gar nicht mehr schmecken.
„Ich glaube unsere Raupe ist krank,“, sagte die Frau meines Freundes, „wir müssten ihm diese lebensgefährlichen Fahrten im Regen verbieten.“
„Ach wo,“, antwortete Nickel, „dem sitzt bloß der Panther in den Knochen. Er bildet sich ein, der Hauptmann kann ihn nicht alleine kriegen und, wenn er nur rechtzeitig dazukommt, könnte er doch noch Gelegenheit zu einer Heldentat haben.“
Verärgert stand ich vom Tisch auf, so wütend, wie nur irgend einer, dessen verborgensten Ehrgeiz man an das Tageslicht gezogen hat. Nickel ging mir nach und packte mich an der Schulter. „Mensch, fahre hin, dann hast Du Ruh', sag ich Dir.“. Und das tat ich.
Ich schlitterte also, Schmutz- und Wasserfontänen um mich sprühend, den vertrauten Weg hinunter. Jedes Mal, wenn ich fiel, fiel ich recht hart, denn ich hatte heimlich Pistole und Hirschfänger unter der Jacke festgemacht. Ich war ganz vergnügt und spekulierte trotz allem auf ein Waidmannsglück, bis ich die Pflanzung, mit ihrem Hexenhäusel unter dem vor Nässe glänzenden Häuptlingsbaum vor mir auftauchen sah.
Mein Herz wurde ganz still, denn, weithin leuchtend, prunkte eine gelb und schwarz gezeichnete Pantherhaut vor der Haustür, wo sie zum Trocknen aufgespannt war. Der Hauptmann hatte also den Panther pünktlich erlegt, nachdem er Luise fertig verwurstet hatte. Dieser Teufelskerl! Ich konnte ihm aber nicht böse sein, denn er empfing mich so vergnügt, seine blauen Kinderaugen leuchteten voller Zärtlichkeit über den stinkenden Balg. Er zeigte mir Pranken, Gebiss und Schweif des Räubers und streichelte über das blanke Fell, so zärtlich wie eine Mutter bei ihrem Baby. Nur als ich ganz genaues über das Ende des Tieres wissen wollte, verschwand aller Stolz aus seinem Gesicht.
„Ach, wissen Sie, Junge,“, sagte er, seinen borstigen Backenbart kratzend, „da red' ich nu' gar nicht so gerne von. Ich bin vernarrt in das Raubzeug, mancher Schweinekerl von Weißen ist mir verdammt weniger lieb, als diese feinen Katzen. Es ist mir immer ein bisschen fatal, wenn ich ihnen mit meinen Zielfernrohr aus dem Hinterhalt eins aufbrennen soll. Ich brings nicht fertig. Ich warte immer, bis der Bursche auf mich zu kommt. Das tat er auch, die Lefzen noch triefend vom klaren Bachwasser, denn ich hatte ihn an der Tränke gestellt. Die Kugel saß in der Stirn und doch nahm er mich noch an, rasend vor Schmerz und Wut, aber meine Pistolenkugel in den offenen Rachen hat ihn tot gekriegt. Knapp vor mir brach er still zusammen und schlug im Verenden noch nach meinem Bein. Aber meine alte mürbe Militärlederhose schützte mich. Glaube Sie mir, mir war richtig ein bisschen übel, als ich mich hinter den vor Freude johlenden Schwarzen her schlich. Der Triumphzug durchs Kimbu mochte ich gar nicht mitmachen, ich ging auf Umwegen heim. Nee, nee mein Junge, Freude an der Sache macht nur das Pirschen, das war fein, drei Tage lang vor Morgengrauen los und im triefnassen Busch herum gekrochen.“
Die Jagdgeschichte befriedigte mich nicht, ich hatte mir das Erlegen eines Panthers dramatischer vorgestellt und ich verstand auch nicht ganz, das man den Kopf so hängen lassen kann, wegen eines Zielfernrohres. Wenn ich nur das Fell auf meine Couch legen könnte. So miesepetrig wäre ich nicht gewesen. Aber es war mir wohl beim Hauptmann. Ich streckte die Beine lang, ließ mir seinen Honigschnaps durch die Kehle rinnen und hörte seinen Geschichten zu. Er war der geborene Erzähler und heute kam er richtig in Fahrt. Ich konnte nicht genug kriegen und vergaß die Zeit. In diesem düsteren Raum voller Jagdtrophäen, mit der löchrigen Deckenmatte, durch die es leise tropfte, mit den rauchschwarzen altersgebogenen Balken, in diesem Duftgemisch nach ranzigen Häuten, gestocktem Blut und Schmierfett, mit dem narbenzerhauenen Vogelgesicht des alten Buschmannes, vor dem roten, unruhigen Licht des Kaminfeuers kam ich mir endlich vor, wie im afrikanischen Busch.
Als wir mitten im schönsten Schwatzen waren, kamen zwei aufgeregte Neger und berichteten, dass ein neuer Panther vor dem Kimbu gesehen worden sei. Er habe ein Kalb auf der Weide gerissen und alle seien im Dorf nun so ängstlich, dass sie alles Vieh vorzeitig heim getrieben hätten. Gewiss sei es der Dämon des toten Panthers, der umgehe.
Der Sprecher war so erregt, dass sein sonst schokoladefarbenes Gesicht eine graue Blässe ange­nommen hatte. Der Hauptmann aber lachte die beiden Unglücksboten aus.
„Die Kerls haben gestern den ganzen Tag Katschipembe23 gebraut. Ihren Donnerwetterschnaps aus Bohnen und Süßkartoffeln um mein Jagdglück zu feiern. Die ganze Nacht ist ihre Trommel gegangen und heute haben sie wohl auch noch durch gesoffen. Nun sehen sie wohl Gespenster!“, sagte er zu mir. Dann zeigte er den Schwarzen das aufgespannte Fell, das wir in seine Räucher­kammer getragen hatten, als die Sonne sank. Der Schwarze schreckte vor dem Fell erst zurück, als ob es ihn anspringen könne, aber dann bezwang er seine Verstörtheit und beteuerte mit vielem Armfuchteln, die Wahrheit seines Berichtes.
Schließlich schickte der Hauptmann ihn mit der Weisung heim, nüchtern noch einmal wieder zu kommen, wenn er dann noch etwas zu berichten habe.
Natürlich blieb ich wieder über Nacht. Wir hatten schon viel zu viel Zeit verplaudert, als dass ich noch hätte heim finden können.
Bevor wir schlafen gingen, machte der Hauptmann noch eine Runde über den Hof und schob den Balken vor der Tür der Räucherkammer, die schon etwas im Ruinenstadium angelangt war. Er knurrte dabei, man wisse nie, auf was für Ideen unsere Schwarzen kommen, wenn sie zu viel Katschipembe im Leibe haben und ergänzte: „Besser das Pantherfell ist hinter festen Balken. Man weiß nie, ob ein schwarzer Zauberer nicht dringend eine Pantherhaut braucht, um einen bösen Dämon damit kirre zu machen.“
Nach mancherlei Geschichten gingen wir zu Bett. Der Hauptmann hatte in einem Verschlag neben dem Hauptraum, in dem er selber schlief, das Gastquartier, ohne das man sich eine Pflanzung nicht denken kann. Es war nur ein wackliges Bett darin, aus dessen Matratze neugierige Binsen lugten, eine Bank, der ein Bein fehlte und ein Fenster, das anstatt der Scheibe eine Schilfmatte hatte.
Ich fand auch dies Gemach romantisch, kroch behaglich seufzend unter die stockig riechende Decke, stopfte das Moskitonetz fest, so gut es eben ging und schlief im Nu ein.
Ich träumte gerade von der Pantherjagd, als ich von einem kratzenden Geräusch erwachte. Es musste mitten in der Nacht sein. Kein Schimmer von Licht drang durch die Fernstermatte und ich hörte nur das sachte Rieseln des Regens und das Schnarchen meines Nachbarn.
„Wie man nur so aufgeregt träumen kann?“, dachte ich und legte mich auf das andere Ohr. Im nächsten Moment aber war ich wieder in die Höhe gefahren. Da! Das konnte kein Traum mehr sein. Jetzt war es kein Geräusch mehr, jetzt dröhnte es dumpf, dann ein Ächzen, Splittern, Poltern und jählings wieder Stille, nichts als das friedliche Sägen des Hauptmanns.
Ich war aus dem Bett gesprungen und hastig in die Hosen gefahren. Ich pochte mit der Faust an die Tür zum Nebenzimmer, aber mein Gastgeber sägte seinen Baumstamm ruhig weiter.
„He, Hauptmann, Einbrecher im Stall!“, schrie ich und als auch das nichts nützte, drang ich bei ihm ein und rüttelte ihn an der Schulter. Da kam der alte Soldat ganz flink auf die Füße und in die Kleider. Büchse, Hirschfänger, Laterne und Regenumhang, alles war gleich zur Stelle.
„Es wird eine Kuh ausgebrochen sein.“, murmelte er. Wir eilten hinaus und ich hatte plötzlich das scheußliche Gefühl, für mich selbst nicht ganz einstehen zu können, als wir in das friedliche Geriesel unter dem tropfenden Häuptlingsbaum hinaustraten. Hatte meine Fantasie mich doch genarrt? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als wir im Stall die friedlich in der Streu liegen Tiere fanden. Sie sahen uns an, als seien wir nicht recht bei Trost. Ich hatte das Gefühl, der Hauptmann sehe mich genau so an, aber er machte sich nur an der zwinkernden Laterne zu schaffen und sagte: „Bliebe also nur die Räucherkammer.“
„Schockschwerenot, die Tür ist ja eingedrückt!“, rief er gleich darauf und gab mir die Laterne, um die Hände freizuhaben.
Es war ein richtiges, schwarz-gähnendes Loch in der Tür, gerade unter dem schweren Balkenriegel. Mit eine Fixigkeit, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, kroch er in die ringsum gesplitterte Öffnung hinein und schrie nach der Laterne, die ich ihm nach reichen musste. Gleich darauf hörte ich ihn lästerlich fluchen. Ich konnte nicht heraushören, ob es umbundu oder deutsch war, aber es musste etwas ungeheuerliches geschehen sein.
Endlich war ich auch durch die zerborstene Tür gekrabbelt und blieb verblüfft in ihrem Rahmen hocken. Das war ein seltsamer Anblick. Das Pantherfell war nicht gestohlen, wie ich erst gemut­maßt hatte, es war nur vom Haken gerissen und lag, in lauter kleinen Stücken und Fetzen, in allen Ecken des Raumes verstreut. Ja manche Stücke sahen geradezu so aus, als ob sie halb zerkaut wären.
Der Dieb musste, in einem schreckliches Wutanfall, das Fell ganz zerschnitzelt haben. Was war das für ein Kerl? Es lief mir kalt über den Rücken. Wie hatte er das in der Geschwindigkeit zuwege gebracht? Es konnten keine zwanzig Minuten vergangen sein, seit ich das erste Geräusch gehört hatte.
Der Hauptmann gab auf meine überraschten Ausrufe keine Antwort. Er brummelte nur vor sich hin, wie einer, der sehr beschäftigt ist und tappte wie ein Hund suchend in alle Ecken, ja, er schnüffelte geradezu, als ob er die rechte Fährte hätte. Seine unartikulierten Laute wurden immer lebhafter. Jetzt kniete er vor dem Türloch und riss mir die Laterne aus der Hand.
„Das ist doch....!“, schnaufte er, „Kratzspuren einer großen Katze, sehen Sie, hier und da. Ganz deutlich. Hier hat er zugebissen!“ Dann hielt er mir einen Fellfetzen unter die Nase.
„Was ist das – geschnitten? Gerissen? Nee, mein Junge, gebissen ist das, so ein Zornnickel von einem Panther.“
„Panther? Wollen sie sagen, dass der Tote davongelaufen ist, nachdem er bei sich selber einge­brochen hat und sein eigenes Fell zerkaut und zerbissen hat?“
Der Hauptmann schmunzelte bloß und kroch durch des Loch mir voran.
„Nee,“, knurrte er, von draußen, „der Panther war verheiratet.“
Ich war so klug als wie zuvor. Stumm lief ich hinter ihm her, wie er mit der Laterne auf dem Boden leuchtend Schritt für Schritt um das Häuschen herum und dann, an einem Reisighaufen vorbei, bis zur Kaffeepflanzung hin pirschte. Überall konnte man deutlich im zerweichten Boden die Spuren der fünfkralligen Pranke verfolgen.
„Ja, mein Junge,“, brummte er dabei, „diese Katzen sind getreue Ehepaare. Zwei Tage hat die Pantherin geduldig gewartet, bis ihr Mann von dem Beutezug heim käme, dann hat sie die Unruhe gepackt und sie hat seine Spur verfolgt. Überall hin - erst zum Kimbu, wo sie unsere guten Schwarzen so erschreckt hat, dann zum Bach, wo ich ihn erlegt habe, dann, den Schweißspuren nachgehend, auf langen Irrwegen bis hierher. Vielleicht hat sie gestern den ganzen Tag schon hier hinter dem Reisighaufen gelegen und uns belauert. Dann, als wir schliefen hat sie ihren Mann gesucht und als sie vor verschlossener Türe stand, in heiler Wut sich einen Weg zu ihm gebahnt. Ich habe in dreißig Jahren Buschleben schon die seltsamsten Dinge mit Raubtieren erlebt. Man wird niemals aus ihnen klug.
Schließlich gingen wir wieder zu Bett und der Hauptmann schlief auch bald wieder ein, was ich bis herüber hörte. Ich aber sah immer die grünen Augen des Pantherweibchens zum Fenster herein glosen. Wie, wenn sie nun mit einem lautlosen Satz herein spränge, um ihren Gefährten zu rächen. Nur gut, dass der Hauptmann das fertig präparierte Fell noch nicht auf seinem Ruhebett vor dem Kamin ausgebreitet hatte. Da hätte es ihm passieren können, dass die Pantherin zu ihm herein käme und ihm den Platz auf dem Bett streitig mache. Nichts wusste ich noch von den Geheimnissen der Wildnis, das spürte ich in dieser Nacht.
Anderntags fuhr ich heim. Hatte ich wenigstens ein Erlebnis zu berichten, das mir daheim leider niemand recht glauben wollte.
Es war ein paar Wochen später, als ich den Hauptmann wieder besuchte. Diesmal war kein Raubtierfell vor seinem Hause aufgespannt und es lag auch keines vor dem Kamin. Und doch hatte er wieder einen Panther erlegt. Die Geschichte, die er mir nun erzählte, war noch toller, als die, die ich mit ihm erlebt hatte.
„Ja, es war die zornige Pantherin, die er nach langem Pirschen erlegt hatte. Sie war allzu frech geworden und hatte im Kimbu böse aufgeräumt. Er war mit schwarzen Jägern hinterher gegangen, um ihr Lager ausfindig zu machen. Er wollte keine Überraschungen mehr erleben, falls wieder ein Rächer, vielleicht ihr zweiter Gatte auferstehen und ihm den Stall einschlagen wollte.
Sie hatten endlich das Panthernest ausfindig gemacht und ausgeräumt. Schaf- , Ziegen- , Hühner- , und Kaninchenknochen waren zum Vorschein gekommen. Dann hatten sie zwischen Fell- und Knochenresten ein verrostetes Ding ausgegraben, dessen Form dem Hauptmann eigentümlich bekannt vor kam. Die Neger hatten es vom Unrat reinigen müssen und zum Vorschein sei nichts geringeres als sein Fleischwolf gekommen, rostig und schmierig, aber unversehrt und mit deutlich erkennbarem Warenzeichen. Das Pantherpaar war also das Diebsgesindel gewesen. Es musste den Einbruch in seine Räucherkammer also schon früher einmal probiert haben.
Der Hauptmann zeigte mir den etwas verbogenen Fleischwolf, an dem noch Gebissspuren zu erkennen waren und das Fell der Räuberin, das die Schwarzen aus dem Kimbu anderntags abholen wollten, denn er hatte es ihnen zum Geschenk gemacht. Sie würden ihm eine Luise Nummer Zwei als Gegengabe dafür bringen.
Auf dem Heimweg repetierte ich bei mir die Geschichte, um sie weiter zu berichten, dabei wurde mir ganz blümerant zu Mute. Mir war fast, als sei der Hauptmann mit samt seinem Häuptlings­baum, seinem morsenden Gong, dem Wolf und den beiden Luisen gar nicht wirklich gewesen, sondern aus meinen Jugendgeschichten entstiegen.
Ohani
Es war am Ende der Regenzeit. Ich war ziemlich genau ein Jahr im Busch, das heißt, wir alle hatten nun eine gut einjährige Pflanzererfahrung. Wir hatten die Regenzeit leidlich überstanden, aber in unseren Hirnen hatte sich in dieser halbjährigen Nervenprobe eine Art zäher Nebelbrei verbreitet, der keine hellen Gedanken einließ.
Unter uns Weißen herrschte eine Stimmung, wie man sie nur im Busch kennt. Man kann es weder Langeweile noch Hoffnungslosigkeit nennen und auch nicht gerade Stumpfheit. Wir lebten in einer sozusagen verdickten Atmosphäre. Die Luft zwischen uns war zum Schneiden, sie stagnierte. Gleichzeitig aber herrschte eine Reizbarkeit unter uns Weißen, an der die klimatischen Einflüsse schuld waren, die die Widerstandskraft des Körpers immer mehr aufzehrten.
Wir alle miteinander litten unter kleinen Zwangsvorstellungen, die zugleich komisch und unheimlich waren. Bei den Mahlzeiten bildeten wir uns ein, dass an den Speisen der durchdringende Schweißgeruch des Kochs hafte. Vor dem Einschlafen brachte uns die fixe Idee, ein Moskito sei unters Netz gekrochen, an den Rand der Verzweiflung. Bei der Unterhaltung machte uns die Art des Partners, beim Erzählen bestimmte Worte zu dehnen oder Sie halb zu verschlucken, so nervös, dass wir ihm am liebsten den Mund verboten hätten. Wir waren eben ein halbes Jahr völlig auf einander angewiesen gewesen, hatten fast keinen anderen Weißen zu sehen bekommen und hatten uns einfach gegenseitig über.
Etwas so harmloses, wie die liegen gelassene Zahnbürste des Anderen in unserm gemein­samen, improvisierten Bade­raum, konnte einen so heftigen Ekel in einem auslösen, dass man sich schütteln musste.
Trat man, in der Dämmerung in das Schlafzimmer, so sah man, mit erstarrendem Blut, eine schwarze Giftschlange sich einem entgegen schnellen - und doch war es nur der Vorhang­stock, den der Wind der Tür einem entgegen wehte.
Bei Tisch, wenn unser gutmütiges schwarzes Naturkind, der Zimmerboy, hinter dem Stuhl stand und einem über die Schulter hinweg etwas auf den Tisch stellte, fuhr man zusammen, in der plötzlichen Idee, er stoße einem mit einem Buschmesser ins Genick.
Das eigene Abbild im Spiegel, mit einem Schatten der Anämie um die Augen, dem schlecht rasiertem Kinn und dem abgemagerten Hals ging einem so auf die Nerven, dass man gar nicht mehr hinschauen mochte. Mit einem Wort, wir hatten alle einen kleinen Tropenkoller. Wir waren reif für eine erfreuliche Abwechslung, die unser tägliches Einerlei unterbrach und uns wieder normal machte.
Täglich, wenn wir in den Garten hinausgingen, von dem aus man weit über die Hochebene sah, suchten wir den Horizont nach einem herannahenden Besuch ab. Nach dem pilzförmigen Umriss eines Mannes mit Tropenhut, nach einem Fahrrad oder Motorrad oder wenigsten nach dem vorsintflutlichen Auto eines portugiesischen Händlers. Dieser Besuch kam, wenn auch in anderer Gestalt, als wir vermuten konnten; das war Ohani.
Eines Tages, nach dem Essen, gingen Nickel und ich in den Garten. Wir sprachen keinen Ton miteinander. In unserem Magen rumorte die Mahlzeit von muffigen Mehl und angegangenem Fleisch. Wir sahen nicht, wie hübsch und geheimnisvoll die klebrigen Spitzen der Bambusschösslinge aus der Hecke herauslugten, gleich den auf gepflanzten Lanzen versteckter Krieger. Wir suchten nur, ganz unbewusst, den Horizont ab, der dunstig und zitternd in der Mittagsglut brütete.
Da tauchte drunten etwas auf und kam näher. Es war ein Vogel, mit mächtigen Schwingen. Er flog ungewöhnlich tief und merkwürdig schwerfällig. Es konnte keiner der kleinen Raubvögel sein, die in Massen im Busch wohnten. Er hielt gerade auf unser Haus zu und wurde immer größer.
Wir begannen darüber zu streiten, was es für ein Tier sein könne. Wir stritten so leicht in letzter Zeit. Aber der Vogel benahm sich so merkwürdig, dass wir verstummten und gespannt seinem Gehabe zusahen.
Er kam über die Eukalypten heran, flog immer niedriger und reckte einen langen Hals aus, den er bisher eingezogen hatte, um eifrig zu Boden zu sehen, als habe er etwas verloren. Er trug einen gelben, kronenartigen Schopf auf dem Kopf; die Flügeldecken waren schwarz gezeichnet, schwarz waren Häubchen und Kinnband und hoch auf der Wange hatte er einen roten Fleck. Im übrigen hatte er ein silbergraues, glänzendes Gefieder. Es war ein königlicher Vogel, viel majestätischer als ein Storch und auch zierlicher und graziöser. Nun kam er auf unser Haus zu, wir sahen seine blanken Augen funkeln und hatten das Empfinden: Er sieht uns prüfend an.
Wir hörten die Schwarzen vom Kaffee her ihm fröhlich zurufen: „Ohani – Ohani!“, da war uns, wie ihnen auch zu Mute. Wir hätten ihm gleich den Schwarzen auch zurufen mögen:“Bleibe bei uns und bringe uns Glück!“
Er kreiste über unserem Haus, wir verfolgten gierig seine Bewegungen mit den Augen. Er segelte wie eine Fregatte - mit vor gewölbtem Bug, stolz die blaue Luft pflügend.
Ich beschloss im Stillen: Der Vogel soll mein Glücksorakel sein. Bliebe er bei uns, so machte ich mein Glück als Pflanzer.
„Der bleibt nicht, das ist ein Zugvogel.“, sagte Nickel, „Der segelt über alle afrikanischen Flüsse, vom Kongo bis zum Nil, dann zu den hängenden Gärten von Babylon. Er weiß um die Geheimnisse der indischen Tempel und besucht den Kaiser von Japan in seinem Glöckchenhaus.“
Ich schüttelte ärgerlich den Kopf: „Hast Du nicht gesehen, wie er sich umsah? Der sucht eine Bleibe und Du wirst sehen, der fremde Vogel zieht nicht weiter.“
Und wirklich, der Vogel ließ sich in unserer Kaffeepflanzung nieder. Dort konnten wir ihn nun Tag für Tag zwischen den Kaffeebäumen einher stolzieren sehen, er pflückte, graziös und mit gesammelter Miene, Ungeziefer und Samenhüllen vom Buschwerk und kümmerte sich nicht im Geringsten um die Menschen, solange man nur in der Entfernung blieb.
Oft sahen wir nur seinen nach hinten wippenden Schopf, mal hie, mal da, über den Kaffeebäumchen auftauchen. Die Schwarzen hatte ihre Freude an ihm, ließen ihn aber klüglich in Ruhe.
Wir selbst beobachteten ihn, soviel wir nur konnten. Wir hüteten uns aber, in seine Nähe zu kommen, denn wir waren in steter Angst, er könnte seinen Entschluss ändern und seine Wohnung wieder wechseln. Kam ein Mensch in seine Nähe, so stieß er ein missbilligendes: „0 - ha – niii!“, aus und flog, mit seinem schweren, ächzenden Flügelschlag auf.
Das ist ein Ohani, erklärten uns die Schwarzen, solche Vögel gäbe es weiter nördlich im Busch, sie seien des Menschen Freund und brächten ihm Glück. Da wir keinen Brehm besaßen und auch kein gutes Lexikon, mussten wir uns mit dieser Negerornithologie zufrieden geben.
Seinen Namen pflegte der Vogel ja selber zu rufen. Nur klang er in seinem Schnabel nicht wie Umbundu oder sonst einer Bantu-Mundart, sondern eher wie eine fremdartig, hinter asiatische oder indische Sprache.
Sein heiseres Organ, sein scharfer Blick und seine überlegsame Art machten ihn einem nach­denklichen Sonderling von altem Akademiker ähnlich. Er war aber kein Menschenfeind, denn er las seine Käfersammlungen immer in der Nähe unserer Arbeiter und kam auch, wenn es still war, bis an unser Haus.
Wo er schlief, fanden wir nicht heraus, wahrscheinlich in der höchsten Eukalypte. Ohani war jedenfalls unser Pflanzungsgenosse geworden und seine trompetende Stimme im Busch wurde uns ein vertrauter, anheimelnder Laut.
Nach einiger Zeit legte er die erste Scheu ab. Er fing an, sich unsere Siedlung und uns Weiße näher anzusehen. Er kam zu Fuß aus dem Busch, spazierte Kopf nickend bis auf unseren Hof und betrachtete alles mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit.
Die Requa, unseren Wassergraben, ging er sorgfältig ab, vom Anfang bis zum Ende, jeden Wasserfloh und jeden Taschenkrebs und jedes Wasserpfefferminzpflänzchen eingehend beäugend. Er umschritt das runde Gartenbeet, stelzte dann hinein, um die Phoenixpalme besser zu sehen. Auch bei den Zitronen und Mandarinenbäumchen besichtigte er jede Blüte und Frucht. Vor den Bohnen und Tomaten stand er mit schief geneigtem Kopf und er sah von unten in das dichte Astwerk des Häuptlingsbaumes hinauf und erging sich in seinem breiten Schatten.
Wir saßen im Haus, verhielten uns stille und sahen ihm zu. Schließlich kam er heran, umschritt auch das Haus und betrachtete es kritisch, als habe er seine eigenen Gedanken darüber.
Nun war es mit Stumpfheit und Eintönigkeit auf der Pflanzung vorbei. Ohani hatte eine frische Brise mitgebracht, die uns aus unserem Hinbrüten auf pulverte. Von nun an hatten wir immer etwas zu beobachten und zu lachen. Ohani wurde immer kecker und immer vertrauter.
Wenn der Hof ausgestorben war tauchte sein gekröntes Haupt sicherlich bald aus dem Schatten des Eukalypten- oder Mangohains auf und er machte uns einen Besuch.
An einem stillen Vormittag inspizierte er wieder in aller Ruhe. Das Küchenhaus zog ihn besonders an. Darin klapperte der schwarze Koch mit Herdringen und Tiegeln. Ohani sah vorsichtig ins Fenster hinein. Dann betrachtete er sich das Dach, das noch ein Grasdach war. Es trug eine breite Esse, daraus sich ein feines, blaues Wölklein kräuselte. Das Grasdach war ein bisschen zerzaust, Unkraut hatte sich darauf angesiedelt. Ohani machte einen immer längeren Hals, es schien ihn besonders anzuziehen. Ehe wir es uns versahen, hatte er einen Anlauf genommen, um genügend Luft unter die Schwingen zu kriegen und war hinauf geflattert, aber er hatte zu kurz gezielt, er musste es noch einmal versuchen, mit längerem Anlauf. Nun klappte es. Er stelze auf dem Dach herum, die Krallen hatten einen Halt und rutschten nicht ab.
Er sah sich nach allen Seiten um, schlug behaglich mit den Schwingen und betrachtete sich die Esse näher. „O – hani!“, sagte er, und damit war sein Entschluss gefasst. Bei Sonnenun­tergang kam er wieder. Diesmal im sanften Segelflug. Er schwang sich, ohne Umstände auf die Esse und wärmte sich den Bauch an dem letzten, feinen Dunstwölkchen unseres Abendessens.
Als die Nachtkühle einfiel, steckte er den Kopf unter die Flügel, zog ein Bein unters Gefieder und schlief ein. Von nun an war Ohani wirklich unser Hausgenosse. Er gebärdete sich immer familiärer. Wenn er abends heran strich, nahm er von seinem Thron auf der Esse Besitz, wie ein König vom Stamm­sitz seiner Väter.
Er trompetete laut über die Pflanzung hin: „Ohani, da bin ich!“. Dann putzte er sich ausgiebig seine langen Federn, suchte sorgsam Läuse und Flöhe ab und betrachtete sich geruhsam das abendliche Leben auf dem Hof. Er sah zu, wie der Koch schwitzend und schnaubend die vollen Schüsseln über den Hof trug und wie er sie leer wieder zurück brachte, wie die Weißen im Garten promenierten und die Enten im Gänsemarsch ihrem Stall zustrebten. Dann blinzelte er wohlig, ohne sich von den kleinen Rauchwolken stören zu lassen und nickte uns schläfrig zu mit seinem nun zurückgelegten Kopfpinsel, wenn wir zum Schlafen ins Haus gingen.
Auch morgens begrüßte Ohani die aufgehende Sonne in schallendem Fanfarenton. Bald sahen wir, dass er ein guter Wächter war, der, von seiner hohen Warte aus, jeden herannahenden Fremden mit seinem Rufen anmeldete. Damit stellte er sich in die Reihe der Hausbewohner.
An Temperament war er alle über, was auf dem Hof kreuchte und fleuchte. Das besinnliche Professoren­naturell war nur die eine Seite seines Wesens. Nicht lange, so merkten wir, dass er alles andere war als ein Phlegmatikus.
In der Frühe hatte er gar nicht mehr so große Eile, in den Busch fort zufliegen. Er fing an, den für die Hühner gedeckten Morgentisch auf dem Hof auch als den seinen anzusehen. Sowie Hühner und Enten gelockt wurden, rauschte er mit seinem mächtigen Flügelschlag vom Küchendach herab und machte sich über die besten Brocken her. Ja es kam vor, dass er der Erste auf dem Plan war, wenn nur einer von uns, mit dem Speicherschlüssel klirrend aus der Haustür kam. Er hatte von oben den besten Überblick über sein Reich. Wenn das Hühnervolk gackernd herbei gestürzt kam, stelzte er schon, eifrig pickend hin und her. Und wehe dem Huhn, das es wagte, ihm ein Korn vor der Nase wegzupicken! Da wurde er so gereizt, dass er anfing zu tanzen. Ich glaube, er ist das einzige Lebewesen auf der Welt, dass seinen Zorn tänzerisch zum Ausdruck bringt. Es war eine ganze Pantomime, die er aufführte: Zuerst stellte sich sein Kopfpinsel steil auf, er entfaltete die schweren Flügel, stelzte gewaltig ausgreifend auf den Übeltäter los, verhielt den Schritt, sprang unvermittelt mit wuchtigem Schlagen der Flügel in die Luft, landete schräg auf dem linken Bein, stieß drohend den langen Hals vor, sprang sofort wieder in die Höhe und landete diesmal rechts. Das wiederholte er in gewissem Rhythmus. Immer Flügelschlag und Sprung wechselnd, wie ein Sprungtänzer. Dabei bewegte er sich in einem engen Kreis. Es war drollig und doch auch unheimlich, weil es so menschlich wirkte.
Die erschrockenen Hühner standen, starr vor Überraschung, nicht im Stande vor dem erzürnten Riesen davon zulaufen. So überraschte er jählings seinen Feind, indem er, mitten aus dem Wirbel heraus, einen Anlauf nahm und ihm mit vorgestreckten Stelzen schräg in das Genick sprang. In blindem Entsetzen stiebte das getroffene Huhn davon, obgleich er gleich losließ, wie wenn der Sieg ihm nicht lohnte.
Nun hatte er einen freien Kreis, in dem er mit dem gewohnten Bedacht die Körner pickte. Den Kronenpinsel hatte er ganz friedlich nach hinten gelegt. Die Hühner merkten sich das wohl und nahmen auf seine aufgeregten Nerven Rücksicht, indem sie ihm beim Futter nicht zu nahe kamen. Ohani war Herrscher auf dem Hof.
Wenn Ohani tanzte liefen alle Schwarzen und Weißen auf dem Hof zusammen und bestaunten sein Temperament. So gravitätisch er sonst einher ging, so hitzig war er, wenn man ihm seine Rechte streitig machte. Sein Temperament war erregbar, wie das eine jungen Burschen, wenn er Alkohol im Blut hat. Ohani hatte aber noch andere Schwächen, die ganz menschlich anmuteten. Er war nicht nur neugierig, er war auch eitel.
Er hatte eine Schwäche für alles was spiegelte: Pfützen, Wassertümpel, Waschbottiche, Fenster­scheiben, Bilder, Spiegel und Glasflaschen. Wenn es ganz still um unser Haus war, spazierte er rund herum und spiegelte sich in jeder Fensterscheibe ohne Ausnahme. Dazu wendete er den Hals und den Kopf, wippte mit dem kecken Schopf und benahm sich so töricht wie ein langhalsiges Frauenzimmer, das nicht genug vom eigenen Bilde kriegen kann.
Zwischendurch klopfte er mit dem spitzen Schnabel ans Fenster, als wollte er sagen: „Gefalle ich, Sir?“. Und was konnte er für ein dummes, enttäuschtes Gesicht machen, wenn das Fenster ihm sein Bild nicht zeigte, weil ein heller Vorhang dahinter war. Dann versuchte er es von allen Seiten mit immer schiefer gelegtem Kopf und ging schließlich mit gekränkter Miene davon. Die Hart­näckigkeit, mit der er sein Spiegelbild suchte und die uns so unwiderstehlich zum Lachen reizte, brachte uns aber auch auf den Gedanken, dass er vielleicht einen Spielgesellen in seinem Spiegel vermutete, dem er etwas erzählen wollte.
In dieser Zeit hatte ich in meinem Zimmer eine Vergrösserungsanlage für Fotos angelegt. Dazu gehörte ein Loch im Dach, aus dem ich mehrere Ziegel herausgenommen hatte und dann eine Glasscheibe einsetzte. Darunter improvisierte ich meine Dunkelkammer, denn ich war bei meinen Vergrößerungen auf Tageslicht angewiesen.
Wie alles Neue erregte diese Einrichtung Ohanis Wissbegier. Bisher hatte er unser Hausdach meist gemieden, weil er sich auf den glatten Ziegeln mit seinen Krallen nicht halten konnte. Nun aber kam er immer wieder an, maß von unten die Höhe bis zum Dach, flog an und landete hüpfend und rutschend auf den Schindeln. Mit großen Schwierigkeiten gelang es ihm, bis zu dem Dachfenster zu kommen und er musste erst einige Zeit üben.
Aber als er es erst einmal heraus hatte, sich auf dem Fensterrand zu halten, betrachtete er diesen Spiegel als ausschließlich für seine Unterhaltung bestimmt. Dies war der einzige Fensterspiegel, der ihn niemals enttäuschte, weil die schwarzen Tücher darunter das Spiegelbild klar wiedergeben halfen. Kopfnickend, sich drehend und wendend, balancierte er da oben auf und ab. Ab und zu mit dem Schnabel anklopfend, als ob er seiner Zufriedenheit Ausdruck geben wollte.
Es dauerte nicht lange, so wurde meine Lichtquelle Ohanis Lieblingsplatz. Ich lachte mit den Anderen über seine Seiltänzerschaustellungen auf unserem Dach und freute mich an seiner wachsenden Zutraulichkeit, ohne mir Gedanken über die Auswirkung seiner steten Anwesenheit auf meine Arbeit zu machen. Denn bisher hatte ich länger keine größere Arbeit vorgehabt.
Aber eines Tages fing ich an, meine neue Einrichtung allen Ernstes zu benutzen. Da musste ich entdecken, dass Ohani die Anlage ganz unbrauchbar machte, weil er mein mühsam errungenes Oberlicht für den Vergrößerungsapparat verdeckte.
So war ich der Erste, der unseren Glücksvogel laut beschimpfte und ihn an schrie, er solle sich zum Donnerwetter davonmachen. Aber er war nicht gewöhnt Schelte zu kriegen; er dachte gar nicht daran, meine Worte ernst zu nehmen. Alles, was ich mit immer lauterem Schimpfen erreichte war, dass er im Spiegeln inne hielt und mir freundlich : „Ohaniii?“, zu rief. Dazu nickte er heiter mit dem Kopf. Es sah aus, als lache er. Nun lief ich fluchend hinaus und stellte mich unter das niedere Dach.
„Ohaani!“, schrie ich, „Runter du Mistvieh!“. Er droben legte den Kopf schief und antwortete bedächtig: „Ohaniii?“ „Wie bitte?“.
Ich kriegte einen roten Kopf, hinten im Hof kicherten die Schwarzen. Ich riss eine kleine grüne Apfelsine vom Baum: „Runter Halunke, oder...“, und ich warf. Das erste Geschoss ging über ihn hinweg, er sah ihm bloß verblüfft nach. Das zweite flog zwischen seinen Stelzen durch, weil er hoch hüpfte, das dritte streifte ihn leicht am Flügel, den er schüttelte. Alle drei hüpften sie mit drolligen Sprüngen die Dachschräge hinab, Ohani sah ihnen, sich drehend und wendend, voller Interesse nach, aber von seinem Posten rührte er sich nicht.
Mir wurde es zu dumm. Ich schickte einen leichten Hagel von Geschossen hinauf, bei denen ein Treffer war, der Ohanis Fuß traf. Unter Protestgeschrei und Flügel schlagend hüpfte er den Dachfirst hinauf, wo er sich besser an krallen konnte und guckte erwartungsvoll herunter. Die Belagerung schien ihm Spaß zu machen. Weiteren Geschossen wich er aus, indem er graziös auf dem Dachfirst entlang tanzte und dazu vergnügt trompetete.
Als ich ihn so bis an das Firstende gejagt hatte, betrachtete ich mich als Sieger, weil ich einsah, dass es das Äußerste war, was ich erreichen konnte. Ich ging wieder an die Arbeit, die Lichtbahn war frei. Aber nicht lange. Als ich gerade mitten in einer kniffligen Vergrößerung war, ging es oben „tapp, tapp, tapp“. Ein langer Schatten strich über die Bildfläche und es klopfte, „ping, ping“ aufs Glas: „Da bin ich wieder!“.
Es war offensichtlich, dass das Spiel Ohani gefiel. Ich aber fluchte wüst, das Papier war verdorben. Ich musste wieder hinaus rennen und mich nach neuen Geschossen umsehen, denn die Apfelsinen gehörten zum Pflanzungskapital. Ohani stand friedlich auf einem Bein, hörte auf, sich zu spiegeln und sah mir freundlich entgegen. Nun begann der Kampf um meine Autorität von Neuem.
Und so trieben war es manches Mal, bis ich endlich so weit gekommen war, dass er, wenn ich wild aus dem Haus stürmte und mein galliges „Ohaanii!“, schrie, von der Glasscheibe wich und schimpfend auf den Dachfirst retirierte, ehe das erste Geschoss flog. Zeternd tänzelte er den Dachfirst hinauf und hinab und blieb schließlich am letzten Ende stehen, bis ich, mit meinem roten Kopf, im Hause verschwunden war. Ohani war ein intelligenter Bursche, er verstand recht gut, was verboten und was erlaubt war. Aber er liebte seinen Spiegel zu sehr.
Eine Weile behielt er das Verbot im Gedächtnis und blieb fern. Aber je länger, je lockender blinkte das Glas herüber. Er konnte nicht mehr widerstehen und vergaß alle grünen Apfelsinen.
Aber es war sicher nicht das Spiegeln allein, was ihn immer wieder zu unserem Haus zog. Blanke Wassertümpel gab es ja draußen genug und oft standen die rundbauchigen, dunklen Zehnliterflaschen, in denen wir Petroleum holen ließen, auf dem Hof. Ohani hatte eine Art Geselligkeitssinn, er hatte entschieden ein Familienzugehörigkeitgefühl zu uns Weißen im Wohnhaus. Auch die Wirtschaftsgebäude interessierten ihn wenig, obwohl es da sicher Käfer und allerlei Getier für seinen Schnabel gab. Er promenierte am Liebsten im Hausgarten rings ums Haus herum oder auf unserem Dach. Und wenn einer aus dem Haus kam, empfing er ihn mit freund­schaft­lichem Zuruf.
Auch Tejo, unser Skyterrier mit dem langen Stammbaum, der im Anfang eifersüchtig auf den neuen Hausgenossen gewesen war, hatte sich an ihn gewöhnt und bellte nicht mehr wie besessen, wenn der große Vogel sich unserem Haus näherte. Ohani, seinerseits beachtete den langhaarigen, kurzbeinigen Gesellen gar nicht. Tejo aber war gewöhnt, dass jeder in Haus und Hof ihn verwöhnte und mit ihm spielte.
Eines Tages sprang er blaffend, mit fliegenden Ohren auf Ohani zu, um ihn zum Spiel aufzufordern. Ohani aber fasste das als eine Aufforderung zum Duell auf und begann seinen Zornestanz. Ehe der dumm und schwindelig zuschauende Tejo sich versah, war Ohani ihm ins Genick gesprungen. Das war der tödlichste Schreck in Tejos verspieltem und verhätscheltem Hundeleben. Er verschwand für den Rest des Tages unter einem Bett und war noch am nächsten Tag wie vor den Kopf geschlagen. Nur mit eingeklemmten Schwanz, das verkörperte Grausen, schlich er über den Hof. Aber Ohani beachtete den kleinen Wollpuschel nicht weiter. Wie alle jähzornigen Leute vergaß er seinen Groll rasch, wie er überhaupt nicht nachtragend war.
Er wusste genau, wer ihm wohl wollte und mit uns Hausbewohnern unterhielt er eine Freundschaft auf Distanz. Mit der Zeit wurde er so zutraulich, dass er mich ganz nahe zu sich herankommen ließ, wenn ich mit einem Stück Brot in der ausgestreckten Hand, ihm freundlich zusprechend, mich näherte. Er zögerte und überlegte eine Weile, sah mich von der Seite wohlwollend an und nahm dann, ganz vorsichtig das Brot mit spitzem Schnabel aus meiner Hand. Man durfte ihm aber nicht zu lebhaft entgegenkommen, sonst betrachtete er das als Aufdringlichkeit und zog sich reserviert zurück.
Wollte sich aber ein Anderer ihm nähern und sei es mit dem fettesten Brocken, so stellte er den Pinsel auf und geriet in seinen heftigen Trampeltanz. Der Zudringliche musste gewärtig sein, dass Ohani ihm genau so ins Genick fuhr, wie dem vor witzigen Sky.
Ohani war schon lange Zeit unser Hofgenosse und mein Freund, trotz unserer ständigen Differenzen wegen des Lichtfensters. Da wurde ich sehr krank. Ohani konnte viele Wochen lang mein Lichtfenster ungestraft blockieren. Auf die Dauer muss ihm dabei aber etwas aufgefallen sein, denn eines Tages, als ich ganz allein im Hause lag, benutzte er die Gelegenheit und trat durch die Haustüre ein. „Ohani?“ rief er, als suchte er jemanden. Er hatte zwar schon oft in alle Fenster hineingeguckt, aber meines war mit einem Laken verhängt. Er hatte auch den Hals schon zur Haustür herein gesteckt, war aber nicht weiter gegangen.
Nun hörte ich ihn, wie er über den Gang schritt, auf den alle Zimmer mündeten, meines als Letztes. Alle Türen standen offen, aber ich konnte im dunklen Gang wenig erkennen. Nun rief er wieder halblaut, lauschte einen Moment und „Klitsch, klatsch“, tappten seine Krallen wieder über die Fliesen. Er trat, in seiner ganzen Manneshöhe ins erste Zimmer ein, ich sah nun seine Silhouette deutlich. Er schaute sich gründlich um. Alle ihm neuen Dinge betastete er mit dem Schnabel und stelzte so von einem Zimmer ins andere. Er kam bis ins Esszimmer neben mir, immer zuerst den langen Hals durch die Tür reckend und dann erst die Schwelle überschreitend.
Endlich, trat er bei mir ein, mit langem Schritt und wippendem Schopf und sagte: „O - ha - nie!“, „Na also, da ist er ja!“. Ich war froh überrascht, dass mein unerwarteter Anblick mit wucherndem Bart, gelbem Gesicht und bläulichen Schatten um die Augen ihn gar nicht aus der Fassung brachte.
Er hatte wohl nicht anderes erwartet, als mich in diesem letzten Raum aufzustöbern. Befriedigt wandte er sich von mir ab und unterwarf den Raum einer eingehenden Untersuchung. Er befasste sich lange mit dem großen Glasballon voll Wasser und wollte ihn durchaus mit dem Schnabel hin und her wenden. Als ihm das nicht gelang, beklopfte er ihn von allen Seiten mit seinem gesammelten Forscherausdruck. Dann machte er sich über die Bücher auf dem Tisch her. Mit den Schüsseln und Fläschchen daneben befasste er sich eingehend und wandte sich endlich dem großen Wandspiegel zu. Da war er in seinem Element. Er wippte auf den Sohlen, wendete Kopf und Hals und klopfte mit der langen Schnabelspitze vergnügt an das Glas. „Ping“, sagte es, er horchte und ich prustete vor Lachen. Daran kehrte er sich nicht. Er war völlig absorbiert von seinem kopfnickenden, silbergrau gefiederten Gegenüber. Er versank in Beschauen.
Als ihm das Spiel genügt hatte, wandte er sich dem zweiten Bett zu und begann mit heftigem Eifer eins der fest gespannten Laken nach dem anderen mit dem Schnabel herauszuzerren. Nun fand ich die Sache nicht mehr komisch, ich beschimpfte ihn. Aber auf einen kranken Mann hörte er schon gar nicht. Da er anfing, das schön gemachte Bett in einen wüsten Zustand zubringen, blieb mir nichts anderes übrig, als zum gewohnten Mittel zu greifen und mir ein Geschoss zu suchen. Ich erwischte einen Decktennisring, den ich von der Überfahrt pietätvoll aufgehoben hatte und schmiss ihn im wahrsten Sinne des Wortes hinaus. „O-ha-nii“, rief er verärgert und wollte protestieren, erinnerte sich aber im gleichen Moment etlicher verdienter Strafwürfe von mir und zog sich gehorsam aus meinem Krankenzimmer zurück, ohne Eile durch die Wohnung schreitend. „Tapp, tapp“, hörte ich noch ein Weilchen seinen Schritt auf der Diele, dann schrie er draußen mit lustigem Fanfarenton und erhob sich in die Lüfte.
Er war mit seiner Suchaktion zufrieden und ich nahm es als ein gutes Omen, dass ich ihn im glänzenden Sonnenlicht weit hinaus fliegen sah, dafür dass ich auch bald in die Freiheit hinaus könnte. Und so kam es auch. Ohani besuchte mich noch einige Male und sah nach dem Rechten, bis ich wieder arbeiten konnte und meine Strafexpeditionen wegen verbotenen Lichtschachtspiegelns wieder aufnahm. Nun war wieder alles beim Alten und er brauchte nicht mehr in der Wohnung nach einem ab gängigen Familienmitglied Ausschau zu halten.
Einige Jahre später, in Europa hörte ich im Zoo eine trompetende Stimme, die mich anheimelte. Es war ein Artgenosse Ohanis, „Kronenkranich“ stand an seinem Gatter. Nun wusste ich endlich, was es für ein seltsamer Vogel gewesen war, der damals auf unsere Pflanzung kam und nun wusste ich auch, dass Ohani mir Glück gebracht hatte, trotzdem ich nicht in Afrika geblieben war. Die lange Lehrzeit draußen hatte mir geholfen, hier in Europa vorwärts zu kommen. Ich hatte Fuß gefasst und es hatte mir nichts geschadet, dass ich drüben den Boden unter den Füßen verloren hatte. Ohani blieb länger auf der Pflanzung als ich.
Die Generalin im Busch
In einem Punkt waren wir bald richtige Pflanzer geworden: an den Schicksalen unserer Nach­bar­pflanzer nahmen wir lebhaften Anteil und in gewisser Weise waren ihre Erlebnisse auch die unseren. Man lebt ja wie in einer großen auseinander gesprengten Familie im Busch. Stenglin war der nächste und der liebste Nachbar für und er erlebte immer etwas.
Über die Jugendtorheiten, von denen er so gut erzählen konnte, war er längst hinaus. Er war grau geworden und die tiefen Falten, die alle „alten Afrikaner“ sich in dieses Klima bald erwerben, durchfurchten auch sein Gesicht. Er hatte sich aus Europa eine Frau mitgebracht und war Besitzer einer der saubersten Pflanzungen im Umkreis. Er hatte sechzig tausend Kaffeebäumchen, von denen er die letzten Zehntausend in diesem Jahre in ruhigem Pflanzertempo setzte. Alles bei ihm machte den Eindruck einer gewissen Wohlhabenheit, die unter den deutschen Pflanzern selten genug war. Er konnte es sich sogar leisten, ein paar Passionen zu haben. Er hatte immer das neueste Jagdgewehrmodell, die vorletzten Grammophonplatten, ein kleines Fässchen portugiesischen Wein im Keller und ab und zu leistete er sich einen Europabesuch.
Aber allein auf seinen Kaffeebäumchen wuchs dieser Reichtum nicht. Im Gegenteil. Von dem was man auch im tiefsten Busch für diese kleinen Freuden braucht, hatte er nie genügend Bargeld. Das übliche Leiden im Busch. „Olombongo kakuli24“, auf deutsch „Das Geld ist alle“, war auch das seine.
Aber Stenglin hatte eine Tante. Sie wohnte in Berlin und hatte in ihrem alten Herzen eine große Buschleidenschaft. Sie half ihrem Neffen immer wieder aus der Verlegenheit. Wir Nachbarn und Freunde kannten alle diese Tante Generalin gut. Ihr etwas männliches Gesicht, an dem man sogleich am Kinn einige Barthaare zu entdecken glaubte, schaute streng vom Kamin des Pflanzers im Wohnzimmer herab. Sie sah immer etwas missbilligend aus. „Hier möchte ich wohl Ordnung machen!“, schien die Fotografie vom Kamin herab zu verkünden von ihrem Neffen hörte, wie sie in jüngeren Jahren nicht nur den General, ihren Mann, sondern durch ihn sein ganzes Regiment in Zucht gehalten hatte, glaubte man dem Bild sofort. Stenglin war noch von seinen Knabenjahren an voller Respekt vor dieser Tante. Ihre scharfen Augen hinter dem Lorgnon25 hatten auch die winzigsten Spuren begangener Untaten an seinem Gesicht, seinem Anzug, seinem Körper oder nur am Senken seiner Augenlider entdeckt. Auf seine Frau hatte sich, trotzdem sie die Tante Generalin nie gesehen hattet, dieser Respekt übertragen und es war ein stehendes Scherzwort zwischen den Beiden, wenn irgend etwas in Unordnung im Haus und Hof war, auszurufen: „Wenn das die Generalin wüsste!“. Natürlich war immer etwas in Unordnung, denn auf so einer großen Pflanzung wäre ein kleines Heer von Bedienten nötig gewesen, um alles nach europäischen Begriffen „herrschaftlich“ zu halten.
Es ging nicht preußisch zackig zu bei den Stenglins. Militärische Sauberkeit und Ordnung herrschte nur in der Kaffeepflanzung. Dort allerdings in vorbildlicher Weise.
In den Briefen mit vielen Ausrufungszeichen, die die Generalin zu schreiben pflegte, kamen seit Jahren Besuchsandrohungen vor. Dabei aber blieb es.
Die Gemütlichkeit war nun so lange nicht gestört worden, dass unser Nachbarwitz, beim Herannahen durch die hohle Hand zu rufen: „Die Generalin kommt!“, nicht mehr verfing.
Nun aber geschah es. Sie kam wirklich.
Mit dem Brief war es gegangen, wie es eben im Busch mit besonders wichtigen Briefen manchmal geht. Er kam verspätet und ganz zerweicht an. So kam es, dass das Eintreffen dieses wichtigen Besuches erst kurz vor der Ankunft des Schiffes in Lobito bekannt wurde. Tagelang wollte nun die immer noch leicht auftretende Röte auf Stenglins Gesicht nicht mehr weichen. Alles im Haus und Hof wurde von oben nach unten gekehrt.
Nicht nur die schwarzen Hausboys, sogar die Pflanzungsarbeiter wurden nervös gemacht. Wenn sie von der Arbeit im Kaffee heim in ihre Lehmhütten im Kimbu kamen, hockten sie um das Feuer und erzählten sich von dem großen Ereignis, das auf der Pflanzung erwartet werde.
Die alte Frau, für die der weiße Mann das Gastbett richtet, müsse eine Art Häuptlingsfrau sein. Sie habe ihr Leben lang über viele Männer befohlen. Sie sei gewöhnt, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und müsse mit großen Ehren empfangen werden. Unglaublich, was man alles für sie tun müsse. Alle Möbel aus des Gästehaus würden auf den Hof geschleppt. Sogar die Betten würden in der Sonne ausgebreitet, auf Stricke gehängt. Dort schaukelten sie den ganzen Tag im Wind. Dabei achte niemand darauf, dass in einem unbeobachteten Moment Dämonen hinein schlüpfen könnten. Man klopfe auf Decken und Pantherfelle, dass es bis in den Busch, wie die Trommel, die zum Batuk26 rufe, klänge. Man wasche die präparierten Schlangenhäute ab und haue sogar mit Stöcken auf den Diwan, wie auf eine Schlange, der man das Rückgrat brechen will. Vom guten Bachwasser, das man den ganzen Hügel herauf tragen müsse, mache man ganze Kübel voll mit scharfem Pulver trübe, schütte es auf den Dielen aus und reibe darauf herum, wie wenn man Palmenmark zermahlen will. Man müsse Fische fangen, Wild schießen, Honig im Busch sammeln. Pilze suchen. Dazu Eier und Bananen heran schleppen und einen kleinen Ochsen schlachten. All dies soll in den Bauch der Häuptlingsfrau, der müsse so groß wie ein Maisbottich sein. Die Arbeit auf dem Hof nehme kein Ende. Sogar den Hühnern würden die Kalkbeine abgekratzt. Der Hund würde gelaust und gebadet. Die kleine Herrin (Stenglins Frau) nähe bei Tag und Nacht an einem gestreiften Kittel für den Koch. Der knistere nur so von Feinheit. Er habe blitzblanke Knöpfe, die wie Wassertropfen im Bach strahlten. Man müsse sogar vor der Planzungstür das Gras aushacken, zu was das wohl nütze? Der leere Termitenhügel, in dem immer Brot gebacken würde,werde überhaupt nicht mehr kalt. Eigenhändig schöbe die kleine Herrin süß duftende Laibe hinein und weiche nicht von der Stelle, bis sie gar gebacken seien.
Als der Hausherr den Besuch in einem gemieteten Camionet27, einem schnaufenden ausgedienten Lastwagen, von der Bahnstation brachte, war auf der Pflanzung alles auf Draht. Die Generalin stieg von ihrem hohen Sitz herab. Dabei huschten ihre scharfen Äuglein hinter dem Lorgnon flink über das ganze Empfangsbild und schon hatte sie alle Mängel herausgefunden. In allen Punkten war sie schließlich zu beschwichtigen, nur in einem nicht. Das war die „schwarze Bedienung“, wie sie es nannte.
„Da habt ihr nun ein ganzes Dorf voller Schwarzer, die tun nichts, als ihre Kinder zu lausen und ihr spannt sie nicht ein, zur persönlichen Bedienung. Im Haushalt schleifen überall die Zügel.“. Die Hausfrau wollte etwas einwenden, wurde aber durch eine scharfen Blick zum Schweigen gebracht.
„Dabei kribbelt es nur so von Schwarzen, wenn ihr Mais oder Salz verteilt. Aber wenn man mal ein Buch oder ein Glas Wasser gebracht haben will, ist keiner da. Und wenn mir ein Taschentuch herunterfällt und ich bin allein im Zimmer, wen soll ich rufen? Das schwarze Zeugs hört ja nicht!“
Es hätte keinen Sinn gehabt, der alten Dame zu korrigieren. Außerdem stellt es für einen Schock28 Schwarzen schon eine hohe Aufgabe dar, ständig im Kaffee zu arbeiten, trotz dem der Lohn sehr niedrig ist. Mehr trägt auch die beste Pflanzung nicht, wenn sie sich rentieren soll.
Stenglin zerbrach sich den Kopf, wie er die Erbtante bei Laune halten könne. Er nahm sich vor, ihr wenigstens den größten Wunsch zu erfüllen, ihr eine schwarze Garde zu verschaffen. Die solle sie draußen spazieren tragen und ihr auf Schritt und Tritt zur Verfügung stehen.
Die Sache war nicht einfach. Die alte Dame hatte zwar gehört, im Busch mache man eine Tipoia29 eine Art Hängematte an einer langen Stange, die von mehreren Schwarzen getragen werde, so könne man nach Herzenslust durch Busch und Steppe streifen. Diese Sitte stammte aber aus einer Zeit, als es noch keine Straßen und überhaupt keine andere Bewegungsmöglichkeit für einen Weißen im unwegsamen Dickicht gab. Außer für einen Schwerkranken kam das Fortbewegungsmittel schon lange nicht mehr in Frage. Stenglin wusste, dass seine Neger noch nie eine Tipoia getragen hatten, so lange er die Pflanzung hatte. Er kannte seine Leute gut, sie arbeiteten nicht gerade gern für Weiße, aber für gutes Zureden und für eine extra Hand voll Salz, auf das sie leckrig sind, wie Kinder auf Süßigkeiten, taten sie auch Extradienste. Diese erledigten sie um so lieber, je mehr sie unter sich sein durften und sich nicht hetzen brauchten. Eile ist dem Schwarzen so zuwider wie Zahnweh. Wenn man ihn zur Eile antreibt, wird er missmutig.
Nach all den Überlegungen suchte sich Stenglin drei Schwarze heraus. Die Generalin einem Schwarzen allein zu überantworten hätte er wohl kaum übers Herz gebracht.
Er zimmerte mit den dreien eine Tipoia zurecht und zeigte ihnen, wie sie sie tragen müssten und instruierte sie, wie sie der Dame heraus und hinein helfen und sie überallhin zu begleiten hätten. Von ihrem dicken Knotenstock sollten sie sich nicht erschrecken lassen, selbst wenn sie damit herumfuchtelte. Er sei zur Abwehr von Schlangen, Skorpionen und anderem Viehzeug gedacht.
Endlich war alles so weit. Die erlebnishungrige alte Dame schaukelte mit ihren drei Sklaven vom Hof, um den schwarzen Erdteil zu erkunden. Stenglin mit seiner Frau atmeten auf. Die ersten Tage hatten sie ihren Gast auf Schritt und Tritt begleitet. Dabei mussten sie ihm Rede stehen und mussten sich von ihm erziehen lassen. Nun war sie von der Pflanzung und allen häuslichen Angelegenheiten abgelenkt. Es war die glücklichste Lösung. „Wenn nur unsere Schwarzen durchhalten!“, sagten die beiden zueinander.
Man muss nicht denken, dass die Schwarzen der alten Dame nicht genug zur Unterhaltung gewesen wären. Sie waren ihr eben recht, ihr Erziehungsbedürfnis hatte ein weites Feld. Sicher und wohl gewiegt lag sie mir Kissen und Plaid auf dem Segeltuch. Vor sich sah sie auf einen nackten braunen Rücken, auf dem die Muskeln sichtbar spielten. Der Träger trug das Stangenende auf dem schwarzen Wollkopf, den er durch ein Graskissen gepolstert hatte. So schritt er frei und federnd dahin. Zur Seite sah sie das Profil des zweiten Schwarzen, der ihren großen Baumwollschirm trug, um sie vor der Sonne zu schützen. Über sich aber sah sie geradewegs in die weiten Nasenlöcher des dritten Schwarzen, der das andere Ende der Bambusstange trug. Es kam ihr wie eine Huldigung vor, als ihre Garde einen murmelnden Singsang anstimmte. Dessen Worte konnte sie nicht verstehen. Er lautete etwa so:
Die Häuptlingsfrau ist eine harte Frau,
Und eine schwere Frau, ist die Häuptlingsfrau
Und weil die Häuptlingsfrau so schwer ist
Schlachtet der Patrão, wenn wir heimkommen
einen weißen Ochsen, einen weißen Ochsen
Schlachtet der Patrão, wenn wir heimkommen;
Weil die Häuptlingsfrau so schwer ist
Die Generalin genoss in vollen Zügen das gelobte Kaffernland, darin alles dem Weißen zu Diensten ist und ihm alles in den Mund wächst. Dabei hielt sie scharf Ausschau nach naturwissenschaftliche Objekten, um zu erziehen und um selbst zu lernen. Es gab einige Verständigungsschwierigkeiten, die sie mit Stockfuchteln und scharfen Kommandos überwand. Die Generalin brauchte keine fremde Sprache zu lernen. Ihr Gebärdenspiel und ihre Miene war unmissverständlich für jedermann. Sie versuchte im Gegenteil den Negern die deutsche Bezeichnung für die herbei gebrachten Dinge beizubringen. Wenn sie einen merkwürdigen Vogel erspähte, eine violett geflügelte Heuschrecke oder eine Rieseneidechse trompetete sie ihr „Haalt!“ und begann ihr Examen.
„Wie heißt das da, Kerl?“. Wenn der angerufene Schwarze dann nur fasziniert auf das Funkeln ihres Brillantringes auf dem erhobenen Zeigefinger starrte, wedelte sie ihm mit dem Stockknauf vor der Nase herum. „Antworte! Wie heißt das? Na, und?“ Und wenn er endlich, um Ruhe zu haben sein „O-bjia-jam-gulu“ hervorstieß, schüttelte sie missbilligend den Kopf. „Das klingt wie eine Schnapssorte. Alberner Name für einen Schmetterling.“ Und sie buchstabierte, phonetisch betonend: „Schmet-ter-ling“. Dann musste er nachsprechen, bis er es konnte. War es soweit, so nickte sie vor sich hin. „Lernt noch deutsch, der Kerl“ und kommandierte: „Loos!“
Die Karawane wippte weiter. Die Generalin fühlte sich in tiefstem Herzen wohl, in dem Bewusstsein, einen großen Schritt weiter zur Kolonialisation des schwarzen Erdteils getan zu haben.
Die Schwarzen schmunzelten zuerst über diese Lektionen, aber, als sie nicht mehr neu waren, fingen sie an, sie zu hassen. Das lag eigentlich nur am Ton der Generalin, der ihnen auf die Nerven ging. Schreien mögen die Neger nicht. Unsere Schwarzen waren von den Pflanzern seltsame und ihnen überflüssig erscheinende Aufträge aller Art gewöhnt. Sie wurden jedoch immer in möglichst ruhigem Ton gegeben und nur im Notfall mit Strenge gegeben. Es wurde stets alles gemieden, was uns in ihren Augen lächerlich oder verhasst machen konnte. Wir schonten auch ihre Kräfte, wo es anging. Wir handelten ganz nüchtern, aus Selbsterhaltungstrieb in dieser menschenleeren Gegend war ja der Schwarze nicht nur die einzige Arbeitskraft, sondern oft genug auch der einzige Mitmensch für den Pflanzer im weiten Umkreis. In der Weltabgeschiedenheit der Savanne oder des Busches und Moores konnte man in manche Not geraten, wo er der einzige Helfer war. Es kam vor, dass man nach langem Irrweg im tückischen Sumpfgelände, allein in der mit unsichtbaren Stimmen redenden Einöde, endlich die klatschenden nackten Sohlen eines herannahenden Schwarzen kommen hörte. Dann möchte man ihn am liebsten um den Hals fallen, bloß weil endlich ein Mensch da ist, in all der Verlassenheit. Die Hautfarbe und die Sprache sind in einem solchen Augenblick völlig gleichgültig.
Die Generalin, die diese Erfahrung nie gemacht hatte, kannte die schwarze Seele nur aus ihren Leihbibliothekromanen. Sie wusste nichts von dem heiteren, spielfrohem Naturell des Negers, der gar nicht schwer zu leiten ist, wenn man ihn nicht mit langweiligen Kommandos vergrämt und ihm nicht die Freiheit nimmt, zu albern und zu reimen, wie er mag. Ihre Devise war: Dienst ist Dienst.
Die Schwarzen wurden von Tag zu Tag unlustiger bei ihren Spaziergängen. Die Tipoia entwickelte den seltsamen Hang zu schaukelten und zu stuckern. Der Schirm der Generalin warf seinen Schatten immer woanders hin, als er sollte. Manchmal hinkte er hinterher und die ganze Karawane musste warten, bis er aufgeschlossen hatte. Die Wege erschienen immer holpriger, steiniger und krummer zu werden. Immer mehr Ungeziefer fiel aus dem Strauchwerk auf die Tipoia herab. Sogar dürre Äste, Spinnen und Rindenstücke flogen der alten Dame ins Gesicht. Die Pads schienen an Unwegsamkeit zuzunehmen. Dazu kam, dass die Kommandos „Haalt!“ und „Loos!“ oftmals überhört wurden. Erst nach nachdrücklichem Stockklopfen hielt der Zug mit starkem Schaukeln an. Diese kleinen Sturmzeichen waren unmissverständlich genug. Aber die Generalin war instinktlos und ließ sie unbeachtet. Sie nahm nur immer öfter den Stock zu Hilfe, mit dem sie nun auch auf Arme und Schultern der Neger klopfte, um rascher Gehör zu finden. Nein, an Mut fehlte es ihr nicht, einschüchtern ließ sie sich noch längst nicht von misslaunigen Sklaven.
Ihr Neffe riet ihr vorsichtig, ihre Spazierfahrten wegen der stark ansteigenden Hitze zu unterlassen, aber sie versteifte sich nun gerade darauf. Stenglin ermahnte seine Schwarzen, ihrer Herrin gut zu gehorchen, die sich über die Unachtsamkeit schon beklagt hatte, und versprach eine weitere Hand voll Salz. Das nützte ein paar Tage.
Aber nun hatte die Generalin so viel Gefallen an ihren Entdeckungsfahrten gefunden, dass sie größere Nachbarbesuche auf diese bequeme Reiseart machen wollte. Kein Abreden half, nun gerade wollte sie weiter fort. Ein paar Mal ging es gut, aber dann kam ein Tag, da passierte das Malheur.
In aller Frühe, kaum hatte die Gunga zur Arbeit gerufen, da brach sie auf, mit Tropenhelm, Staubmantel und hoch geknöpften Stiefeln, den Mückenschleier ums Kinn gebunden. So schaukelte sie vom Hofe, den zurückgebliebenen Gastgebern huldvoll mit dem Lorgnon zuwinkend.
Es war ein wundervoller Morgen, alles blinkte und blitzte vor Tau. Der weite Weg durch Busch und Savanne, den sie vor sich hatte, versprach ein Genuss zu werden. Die Traggarde schien heute besonders willig und eifrig. Sie schritt flott aus, trotzdem wiegte die Tipoia nur sanft. Allen entgegen kommenden Pflanzungsarbeitern wurde ein lustiges „lalapo30“ zugerufen, der Sonnenschirm beschützte die Generalin ohne Fehler und ein fröhliches Reimlied begleitete den Schritt. Die Generalin war zufrieden. Hatte sie sie also endlich kirre gekriegt! Sie vergaß eine Weile zu examinieren und zu kommandieren und ließ sich in leichtes Dösen hinein wiegen, zumal die Wege heute ungewöhnlich glatt zu sein schienen. Es stuckerte nicht. Keine Blätter und Insekten fielen ihr in den Schoß, keine Äste streiften ihren Kopf. Die Sohlen der Schwarzen klatschten in sanftem Rhythmus dahin. Himmlischer Morgenfriede lag über dem Busch. Die Wildtauben gurrten munter, der Busch lichtete sich, nun kam die weite, sonnige Savanne. Hohes Gras und einzelne Büsche wechselten mit Geröll und karstigen Stellen ab. Manchmal ragte eine Agavenstaude mit ihren dicken, fleischigen Blättern mit darauf sitzenden Stacheln aus dem Gelände. Dies interessierte die Generalin besonders, sie kommandierte: „Halt!“ an der einen und der anderen und betrachtete sie durch das Lorgnon. Sie war weitsichtig wie alle alten Leute und benötigte ein Vergrößerungsglas für die Nähe.
Die Schwarzen waren heute bereitwillig wie lange nicht. Sie führten ihr gehorsam von allen Seiten die Riesenkakteen vor. Sie sagten ihr das Umbundu-Wort für das Gewächs. Sie brachte ihnen das deutsche Wort bei. Alles war in schönster Ordnung. Sie kam mittags auf der Nachbarpflanzung an uns ließ sich am Spätnachmittag wieder heimwärts tragen. Die Garde schien wohl gelaunter noch als am Morgen. Sie schwätzten und kicherten zusammen und liefen beinahe im Trab, trotzdem es noch immer glühend heiß war. Gut die Hälfte des Weges hatten sie schon hinter sich, das Savannenstück war fast überwunden, als die Generalin wieder mal ihr „Haalt!“ kommandierte, um irgendeine zoologische Seltsamkeit zu erkunden.
Die Neger gehorchten fast augenblicklich. Eine Sekunde sah sie das Weiß in ihren Augen vergnügt funkeln, ehe sie sich bückten und dann gab es einen sanften Schwung. Ohne zu ahnen, was ihr geschah, flog sie in sicherem Bogen mitten hinein in die Agavenstaude, mitsamt der Tipoia. Ehe sie zu Atem gekommen war, waren die drei Neger verschwunden, spurlos wie die Mittagswölkchen vom blauen Himmel. Sie hatten die Bambusstange bloß losgelassen, weiter nichts.
Die Generalin hatte nicht die Muße, um Hilfe zu rufen oder auf Beistand zu warten. Ihr Schwerpunkt saß fest auf den Stacheln, die durch das Segeltuch stachen und sie musste aus eigener Kraft, so rasch wie möglich heraus krabbeln. Das war nicht leicht, denn eine Agave wächst rings um einen niederen Kern mit immer höheren, stärkeren, steil aufragenden Blättern. Sie saß wie in einem Bienenkorb drinnen. Es war ein Glück, dass sie ihren Stock und eine ganze Portion Zorneskraft zur Verfügung hatte. Sie half mit Flüchen, die selbst ihren Mann, den alten Militär beschämt hätten und angelte sich schließlich aus dem Gefängnis. Ihren Sonnenschirm hatten ihr die Ausreißer da gelassen, so konnte sie ihre kochende Seele wenigstens vor dem verbrannt werden durch die glühende Tropensonne bewahren.
Als die Sonne sank und Stenglin und seine Frau gerade nach Buschmannssitte den herrlichen Sonnenuntergang, der immer das großartigste Schauspiel des ganzen Tages war, betrachteten, kam die alte Dame, hinkend und abgerissen auf den Hof geschlichen.
Sie ließ sich auf keine Fragen ein, sondern verlangte nur kategorisch nach Bohnenkaffee und nach Schnaps und wurde auf den Diwan gebettet.
Als ihre Lebensgeister wieder etwas erholt waren, beantwortete sie die immer eindringlicher werdenden Fragen mit einem kurzen: „Es war ein kleines Malheur. Die Tipoia müsst ihr am Rand des Busches suchen lassen. Die drei Schwarzen dürfen keinen Schritt mehr auf die Pflanzung kommen.“
Nach und nach erst bekam der Gastgeber heraus, was geschehen war und zwar durch die schwarzen Sünder und durch den Fundort der Tipoia, nicht aber durch die Generalin. Die Schwarzen behaupteten, eine große, große Schlange habe sie erschreckt, dass sie davongelaufen seien. Wer die große, große Schlange war wusste Stenglin wohl, aber er tat klüglich, als glaube er ihnen und bestrafte sie nur strenge für ihre Ängstlichkeit.
Die Generalin reiste bald wieder ab. Sie hatte genug vom schwarzen Erdteil entdeckt und genug für die Kolonisation getan. Es muss noch zu ihrer Ehre gesagt werden, dass sie Stenglin die Sache nicht nach trug, sondern auch weiterhin, im Notfall mit kleinen Geldsendungen ein half. Das rechnete er ihr hoch an und in Zukunft durfte das große Schmunzeln über die Generalin im Kaktus in der ganzen Nachbarschaft nur hinter seinem Rücken geübt werden. Die Generalin sah weiterhin strenge vom Kamin in seinem Wohnzimmer herab, aber es war, als hätte sie nicht mehr so viele Haare am Kinn. Afrika hatte sie ihr abgenommen.
Ruinen im Busch
Je ruhiger und gleichmäßiger die Tage auf der Pflanzung sich aneinander reihten, desto unruhiger wurde ich. Es wollte mir gar nicht glücken, mir das Pflanzerphlegma an zueignen. Aber gegen diese Unruhe war kein Kraut gewachsen und ich hatte auch meine Fantasien vom Diamantendistrikt und von den Goldfeldern aufgegeben.
Das einzige Mittel, den Tatendrang, der stets an mir nagte, zu besänftigen, waren meine Streifereien im Busch. Diese Erkundungsgänge waren mein eigentlicher Lebensinhalt geworden. Jeden Nachmittag - der Vormittag gehörte den kleinen Pflanzerpflichten - unternahm ich einen solchen Streifzug. Und jeden Tag trat ich mir einen anderen Pfad, denn immer noch gab es unerkundete Stellen, die ich noch nicht durch forscht hatte. Ich glaube, diese immer neuen Entdeckungsgänge waren im Grunde das Einzige, was mich noch im Pflanzerberuf hielt. Ich trug immer eine heimliche Furcht in mir, dass der Tag kommen könne, da ich kein Fleckchen Erde rings um unseren Berg mehr zu erforschen hätte.
Auf diesen Wanderungen geschah es immer wieder, dass ich auf Ruinen verlassener weißer Siedlungen stieß. Im tiefsten Busch, in mitten eines Dickichts von Gras und Strauchwerk, tauchten plötzlich Mauerwerke auf, die von Grün überwuchert und doch nicht so alt waren, dass man sie als längst vergangene Dinge abtun könnte. Der Neger baut ja bloß mit Lehm und Gras, mit Schilf oder Bambus ein Flechtwerk, das er mit Kuhfladen und Lehmerde zusammen kleistert.
Diese Ruinen waren aber aus geformten Ziegeln errichtet. Trotz der verschiedenen Stadien des Zerfalls, in denen diese Bauten begriffen waren, ließen die Grundmauern die Weitläufigkeit der Anlagen erkennen. Stallungen, Scheune, Store oder andere Nebengebäude erkannte man noch.
Der einst bearbeitete Boden des Gartens hatte einen guten Grund für das Stangenholz des Busches gegeben. Es stand besonders dicht und üppig. Hin und wieder sahen halb erstickte, verwilderte Obstbäume aus dem Dickicht hervor. Sie trugen nicht mehr.
Am jüngeren Pflanzenwuchs erkannte man, das einst ordentliche Wege zwischen den bebauten Flächen gelaufen waren. Hie und da war noch eine zähe Bohnen- oder Erdbeerenstaude übrig geblieben. In den alten Eukalypten, die darauf schließen ließen, dass die Pflanzung nicht älter als eine Generation sei, hausten ganze Familien von Wildtauben, die mit erregtem Gurren alle Schritte beobachteten, die man auf ihrem Gelände tat. Wenn man in das Mauerwerk kletterte, bröckelten einem Mauersteine unter den Füßen fort, große, grasgrüne Eidechsen flitzten verschreckt davon, und bunte Käfer stießen, kopflos vor Schreck, einem an die halt suchenden Hände.
Meist war das Zerstörungswerk der Wildnis so vollkommen, dass nur ein geübtes Auge diese alten Siedlungen im dichten Grün finden konnte. Aber mein Auge war scharf geworden, für solche Dinge. Hier war ein Stück Auswanderergeschichte, das spürte ich und das zog mich so an, dass ich geradezu auf die Suche nach Ruinen zu gehen begann.
Es kam vor, dass ich vor Bauten stand, deren Dach fast unbeschädigt war; die schmucken roten Ziegel sahen, mitten im Busch, seltsam genug aus. Schwarz und leer gähnten die Fensterhöhlen, wo nicht die Spinne ihr hübsches, glitzerndes Netz in den leeren Rahmen gezogen hatte.
Versuchte ich einzudringen, so entdeckte ich, dass die Tür lose in den Angeln hing, als habe der Besitzer nur eben rasch angelehnt.
Ging ich durch die Zimmer, so entdeckte ich manchmal sogar Tapetenreste, die in Fetzen von den Wänden hingen. Tapeten im Busch? Ein unerhörter Luxus, dem ich bei keinem unserer Nachbarn begegnet war. Der Bauherr musste im Geld geschwommen sein.
Ich ging hinein, durch eine ganze Reihe leerer Räume. Das Hallen meines eigenen Schrittes machte mir Unbehagen, so dass ich leiser auftrat. Ich empfand es wie eine Aufdringlichkeit, dass ich ins Haus eingedrungen war, dass ich in das Schicksal eines anderen weißen Mannes ungebeten Einblick suchte.
Warum hatte der Mann sein schönes Haus verlassen? Ein Haus, das sicher nicht nur für einen Sommer, sondern großzügig für ein ganzes Menschenleben eingerichtet war. Man spürte, dass irgendein Fehler in der Rechnung gesteckt hatte. Der Mann hatte ja jeden Balken selbst zurecht geschlagen, jeden Ziegel selbst formen müssen. Zumindest hatte er seinen Schwarzen die notwendigen Handgriffe genau vormachen müssen, bis sie es gelernt hatten.
Ein halbes Jahr war es zumindest gewesen, das er für den Bau hatte dran geben müssen, selbst wenn er ein reicher Mann gewesen war, der Hunderte von Negern beschäftigen konnte. Nicht nur das Haus hat der weiße Mann nach seinem Geschmack aufgebaut, auch den Platz hatte er selbst ausgesucht. Das Land wählte man im Busche selbst, wenn man sich ansiedeln wollte. Also konnte er auch nicht fortgegangen sein, weil ihm die Lage nicht gefiel.
Wie oft hatte mich dieser verlockende Vorgang des Landnehmens zu heimlichen Fantasien gereizt. Der neue Siedler kann sich, hunderte Kilometer weit in der Wildnis herum streifend, eine Stelle aussuchen, die ihm zusagt und dort zu roden anfangen. Das ist nun sein Land, wenn es auch noch Eigentum der Regierung ist, die es nun an ihn verleiht.
Nachdem er sich nun fünf Jahre eingerichtet und herauf gearbeitet hat, muss er die ersten Abgaben zahlen. Dafür ist er dann auch Eigentümer des Bodens. Das packt einen wie einen Rausch, der Gedanke, an dieses leicht zu gewinnende, eigene Land.
Wenn ich nicht mit meinen Freunden auf Hieb und Stich verbunden gewesen wäre und es so gut bei ihnen gehabt hätte, hätte ich der Versuchung sicher nicht widerstehen können, meine eigene Pflanzung aus dem Boden zu stampfen. Ich würde alle meine Habseligkeiten verkauft haben, denn, so schön das alles klingt, man kann nicht ohne Geld bauen, viele schwarze Arbeitskräfte entlohnen und Kaffeekulturen einrichten.
Ich war vernünftig genug, mit diesem Gedanken immer nur zu spielen und ihn als unausführbar in diesen schlechten Zeiten zu erkennen. Aber das Schicksal eines Anderen, der es gewagt hatte, interessierte mich brennend.
Ich schnüffelte in so einem unheimlichen Haus herum, auf der Suche nach einem liegen gebliebenen Gegenstand oder sonst einem Überbleibsel des Besitzers. Ich sah an der Weitläufigkeit des Stalls und Wagenschuppens, dass er mit einem Fuhrwerk über Land gefahren sein musste und an der großen Räucherkammer, dass er einen wohl bestellten Tisch gehabt haben mochte.
Sonst aber hatten Ratten, Mäuse, Termiten, Ameisen und allerlei Käfer alle Spuren seiner Persönlichkeit sorgsam weggeräumt. Vielleicht war auch der Tod auf die Siedlung gekommen und hatte den Unternehmer geholt.
Ich erinnerte mich an das Grab auf unserer Pflanzung, das an den frühen Tod unserer Vorgängerin gemahnte; es war noch nicht einmal eingesunken.
Es konnte einen ein leichter Schauder packen, in dieser stummen und doch sprechenden Einöde. Der Gedanke, dass das Schicksal dieses weißen Mannes auch mich selbst treffen könne, grinste einem sozusagen von allen Wänden entgegen.
Schließlich tappte ich hastig wieder hinaus und atmete freier in der feuchtigkeitsgesättigten, schweren Luft, im wuchernden Grün des alten Gartens. Wie gut, dass die Sonne noch so hell wie sonst schien und die Tauben mich mit vielfältigem Gurrkonzert empfingen.
Von einem solchen Streifzug in den Ruinen, kam ich immer ganz benommen heim. Ich redete aber nicht viel darüber, denn ich wollte die Stimmung im Hause, die ohnedies selten rosig war, nicht noch mehr trüben.
Unsere Pflanzung machte eigentlich nur Sorgen. Das Geld wurde immer weniger, das Verdienst der letzten Kaffeeernte war längst wieder in die notwendigen Arbeiten in den Kulturen hineingesteckt worden. Die neue Ernte, die bald bevorstand, würde zwar nicht schlecht sein, aber wie die Preise aussehen würden, das wusste man noch nicht genau. Ob die Transportfrage gelöst werden würde, wusste man auch noch nicht. Es war immer ein Rechnen mit vielen Unbekannten.
Sicher wussten wir nach diesem ersten Buschjahr nur, dass wir immer Not haben würden, uns von einer Ernte zur nächsten zu halten.
Das Problem der Ruinen ließ mir keine Ruhe. Eines Tages ging ich zu einem unserer Nachbarn, einem gescheiten und vernünftigen Hannoveraner und fragte ihn danach aus. Sein Gesicht, das, ob des unverhofften Besuches, eben noch über und über gestrahlt hatte, wurde ernst.
„Nein - gestorben sind diese Unternehmer nicht alle, kaum einen davon hat das Fieber so schlimm erwischt. Man muss unser Klima hier nicht so schlecht machen. Es ist im Allgemeinen gesund, viel gesünder als an der Küste. Unsere Medikamente sind ziemlich ausreichend. Da stecken andere Ursachen dahinter. Krankheiten und gefährliche Tiere haben die Kolonisation des Landes nicht verhindern können; aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die können es.“
Im Stillen seufzte ich ein bisschen. Wieder die alte Leier! Drüben, in Europa, könnte ich lange und breite Zeitungsartikel über das Thema „Wirtschaftskrisen“ in allen Erdteilen, lesen. Mein Nachbar merkte nichts von meiner Ungeduld. Er war bei seinem Lieblingsthema, das spann er weiter: „Wenn ich könnte, würde ich heute noch nach Europa zurückgehen. Ich bin nur zu alt, um ganz von vorn anzufangen. Dies ist der Hauptgrund, weshalb wir alten Pflanzer alle hier bleiben. Das Zurück ins Unbekannte ist uns zu hart. Selbst wenn das Dableiben auch hart ist.“
Er machte ein Pause und holte tief Atem, wie einer, der nicht seufzen will: „Ja, die Ruinen, das sind die Überreste der beiden Blütezeiten, die Angola vor nicht allzu langer Zeit erlebt hat. Fragen sie irgend einen hier und sie kriegen zur Antwort: 'Ja, als der Gummi noch war', oder, 'ja, als die Eisenbahn gebaut wurde.' Viele waren ins Land gekommen, um den wertvollen Wurzelkautschuk zu gewinnen. Sie machten gute Geschäfte, bauten weitläufige Häuser, lebten gut, sie schrieben stolze Briefe nach Hause und zogen Neue nach sich. Einmal ging aber der unerschöpflich scheinende Vorrat zu Ende, das Ausbeuten lohnte sich nicht mehr. Man hatte dem Kautschuk im Raubbau geerntet, ohne System, jeder soviel er eben kriegen konnte. Es kam auch die Konkurrenz des Plantagengummis aus den anderen Exportgebieten hinzu. Jedenfalls war es ziemlich plötzlich aus damit, es gab viele gestrandete Existenzen und auf blühende Siedlungen wurden wieder vom Busch verschlungen. Die Glücksritter zogen heim, nur ganz wenige hielten hier durch. Die, die sich vom leicht gewonnen Gold auf die zähe Geduldsarbeit des Pflanzers umstellen konnten, fassten festen Fuß. Auch heute ist es noch so, dass fast jeder mit solchen Glücksritterideen herüberkommt. Da gilt es dann, mit der harten Wirklichkeit fertig zu werden.“
Bei diesen Worten hatte ich das Gefühl, er sehe mich besonders scharf an. Auch ich hatte die harte Wirklichkeit schon kennen gelernt, hätte aber um keinen Preis zugegeben, wie bitter sie mir manchmal schon vorgekommen war. „Und die Eisenbahn?“, fragte ich ablenkend.
„Damit war es ähnlich. Der Bau brachte Aufträge und Geld ins Land, plötzlich ging in ganz Angola das Verdienen an. Alle profitierten, direkt oder indirekt: die Händler, die Pflanzer, die Transport­unternehmer, die Gasthäuser, die Schwarzen und die Regierung. Es sah aus, als ob es sich in Angola flott leben ließe. Das sprach sich herum und wieder zog eine Schar Einwanderer ins Land.
Es kam aber der Tag, da war die Bahn im Kongo angelangt und nun wurde es merkwürdig still in Angola. Die Neugekommenen bemerkten, dass magere Jahre angebrochen waren. Sie warteten noch eine Weile, ob nicht wieder fette in Sicht kämen, aber vergeblich. Wieder wurden wir um ein paar Ruinen im Busch reicher.
„Aber eigentlich liegt doch hier der Hund begraben“, unterbrach ich, „das Land ist viel zu schwach besiedelt, für eine Kolonie, die etwas bringen soll.“
„Ja,“ fuhr er fort, „und um alle Schätze, die es wirklich besitzt, heben zu können. Es fehlt an großen Unternehmungen, die das in die Hand nehmen. Die Zeiten einzelner Glücksritter und des leichten Verdienstes sind endgültig vorbei. Die Europäer haben aber immer noch die Vorstellung, wenn ein Einzelner nur Mut fasst und für kurze Zeit ein gefährliches und primitives Leben auf sich nimmt, dann kann er als Krösus nach Europa zurückkehren. Diesem schlimmen Irrtum fallen sogar Familienväter zum Opfer, die voller Hoffnung hierher kamen. Es ist ganz gut, dass wir die Ruinen immer vor uns haben, sonst würden auch wir Pflanzer manchmal ausbrechen und uns in irgendeine lockere Spekulationsgeschichte einlassen. So ein langsam anwachsender Pflanzungsbetrieb ist schon das Reellste, aber...“.
Mein Nachbar machte eine große Pause und rieb sich gedankenvoll den Nasenrücken. „Auch dazu fehlen, sie spüren es ja auch, die Voraussetzungen. Billige Frachten, neue Straßen, genügend Arbeitskräfte, geregelte Absatzmöglichkeit und, nicht zu vergessen, Kredite. Sehen sie, was ich aufgebaut habe, sieht ganz nett aus. Ich bin auch stolz auf meine fünfzigtausend Kaffeebäume, sauber stehen sie da, wie die Haare einer Bürste, so regelmäßig, mehr kann man gar nicht tun. Und doch fehlt der richtige Gewinn. Der Preis, den ich hier im Hochland bekomme, ist so, dass ich mit meiner Familie ganz gut leben kann. Aber mehr auch nicht. Wenn eine Europareise fällig wird, weil etwa meine Frau ihr Baby in Europa zur Welt bringen will, was immer besser ist, dann kommt meine ganze Buchhaltung durcheinander. Die Reise ist teuer, wichtige Pflanzungsarbeiten müssen unterlassen werden. Da kommt mir der ganze Betrieb ins Schleifen. Fährt der Pflanzer gar selbst mit, so muss er sich einen Verwalter leisten, für den wieder kein Geld da ist. Außerdem gibt es keine verlässlichen, man weiß nie, wie man seine Pflanzung wiederfindet. Man dreht sich immer im Kreise, es ist schon ein Elend!“
Er hatte heute scheinbar keinen guten Tag, so ernst hatte ich ihn noch nie gesehen. Wahrscheinlich hatte er auch heimlichen Kummer in der Familie - die Achillesferse der meisten Pflanzer.
„Pflanzer sollten hier eben unverheiratet sein,“ sagte ich, „mit den Frauen ist das immer eine teure Sache. Sie halten es hier nicht lange aus. Frauen taugen eben nicht im Busch.“ Er wiegte den Kopf hin und her, als ob ihm meine Ansichten zu kategorisch erschienen.
„So leicht kann man die Ehetragödien und Familiendramen unter uns nicht abtun,“, sagte er ein wenig streng, „die weiße Frau hat es hier schwerer als der Mann. Sie kann keine richtige Arbeit in Haus und Hof tun, weil sie eine Weiße ist und auch weil es das Klima nicht zulässt. Muss sie die Hände schon in den Schoß legen, so möchte sie wenigstens ihr Leben genießen. Es gibt aber weder Mode, noch Kino, noch Einkaufsgänge, noch Feste, noch Kunst, um diese Leere auszufüllen. Sie kann nicht einmal zu anderen Frauen gehen, um ihr Leid zu klagen, denn draußen herum streifen und über Land gehen kann sie auch nicht. Im Kimbu hat eine weiße Frau nichts zu suchen und mit den Schwarzen kann sie nichts reden. Sie hat zwar nicht, wie sie sich ausgemalt hat, romantische Abenteuer mit Löwen oder Riesenschlangen zu bestehen, dafür aber den zermürbenden Kleinkampf mit dem hässlichen, kriechenden Ungeziefer, dessen sie doch niemals Herr wird. Zudem setzt ihr das Klima und die Malaria mehr zu, als dem Mann. Die Blutarmut wird schließlich so groß, dass sie sich eine Europareise leisten muss. Kommt sie zurück, so kann sie sich erst recht schwer wieder eingewöhnen. Eintönigkeit und Untätigkeit scheinen ihr unerträglich. Hat sie Kinder, so ist zwar ihre Zeit ausgefüllt, sie muss aber immer tausend Ängsten um die Gesundheit der Kleinen ausstehen. Die Kinder sind das größte Problem bei uns, denn wenn sie in die Schule müssen, bleibt nichts, als sie nach Europa zu bringen. Ein Hauslehrer ist zu teuer, man muss ja die Überfahrt mit bezahlen. Außerdem müssen die Kinder, die ja nicht verkaffern sollen, sich frühzeitig unter Weißen bewegen und durchsetzen lernen. Es ist also gar nicht so merkwürdig, dass mancher Pflanzer seine Frau bald wieder nach Europa schickt, wenn sie ihm nicht davon läuft.“
Mein Gastgeber bückte sich, um das Feuer, das er angebrannt hatte vor dem Zug zu schützen und mir fiel plötzlich ein, dass es mit seiner ersten Frau auch eine „Geschichte“ gegeben hatte. Es gab eine kleine Pause, ich überlegte krampfhaft, wie ich ablenken könne. Anderseits interessierte mich gerade dieses Thema, denn wie ein Pflanzer ohne Frau wird, das hatte ich ja am Hauptmann31 gesehen. Ich würde also nicht Junggeselle bleiben können, wenn ich hier etwas werden wolle.
„Die Meisten bringen wohl ihre Frauen von drüben mit?“, fing ich zaghaft an, um ihn zum Reden zu bringen.
„Ach wo,“, antwortete er, „fast immer kommen sie allein herüber, da man sich allein besser durch schlägt. Wenn sie nur ein bisschen Fuß gefasst haben, wollen sie eine Frau haben, weil sie die Langeweile nicht mehr aushalten. Fragen sie mal rum, bei unseren Nachbarn. Entweder sie haben ein Anzeige in eine deutsche Zeitung gesetzt oder sie haben Bekannte drüben gebeten, ihnen eine Frau zu vermitteln oder sie haben sich bei einem vierwöchentlichen Europaurlaub etwas angelacht, das sie mit herbringen. Wie diese Ehen dann aussehen, haben sie wohl auch schon gemerkt. Wir haben viele Probleme hier zu bewältigen, aber dies, mein junger Nachbar, ist das Schwierigste.“
Ich spürte, dass er mich unter gesenkten Wimpern forschend ansah und er setzte plötzlich hinzu: „Verdammter Scheibenhonig, das Leben hier, ich kann ihnen nur raten, fahren sie so bald wie möglich wieder nach Hause. Drüben können sie noch etwas werden, ich sehe es ihnen an.“
Über diese Zumutung war ich so gekränkt, dass ich nicht weiter darauf einging. Ich wusste ja schon, dass das Leben hier verflixt schwierig war, war aber entschlossen irgend ein Loch zu finden, durch das ich schlüpfen und das Glück doch bei einem Kleiderzipfel erwischen könnte. Ich sah, dass er lächelte. Wahrscheinlich hatte er mich durchschaut, denn er fuhr noch unbarmherziger mit seinen ernüchternden Darstellungen des Pflanzerlebens fort:
„Sie brauchen sich nur unsere Arbeiterfrage anzusehen.“, begann er, „Das ist eine abgedroschene europäische Bezeichnung, aber sie ist hier sehr gewichtig. Unsere Schwarzen sind ja eigentlich in dem beneidenswerten Zustand, noch freie Männer zu sein. Sie brauchen nicht arbeiten, um zu leben. Die Natur gibt ihnen alles, was sie brauchen. Sie jagen, fischen, bauen Mais an und als Bekleidung brauchen sie nicht mehr, als ein Stückchen Stoff, das sie jahraus, jahrein tragen. Sie haben keine Bedürfnisse, weil sie die Segnungen der Zivilisation nicht kennen. Ein Händler würde bei ihnen gar nicht leben können. Wenn die Regierung nicht eine Kopfsteuer für jeden Eingeborenen ausgeschrieben hätte, die die meisten natürlich nicht bezahlen, hätte sie keine Handhabe, sie zum Arbeiten zu zwingen. Sie wissen ja, wie wir es machen, wenn wir Arbeiter zum Roden, Hacken oder Ernten brauchen. Wir gehen zum Postenchef und sagen ihm, dass wir fünfzig oder hundert Mann brauchen, er schickt seine schwarzen Polizisten in den Busch und lässt alle, die die Kopfsteuer noch nicht bezahlt haben einfangen und bei uns abliefern. Nun müssen sie die Steuer bei uns abarbeiten und der Postenchef kassiert das Geld für sie. Ich brauche ihnen nicht zu erzählen, wie gern unsere Schwarzen diese Arbeit machen. Wenn wir Fünfzig brauchen, bestellen wir Hundert, weil wir wissen, dass die Hälfte immer wegen Krankheit nicht kommt. Der Vertrauensarzt aber, der ins Kimbu ginge, alle „Kranken“ untersuchte, der muss auch erst erfunden werden. Die drastischen Strafen wenden wir ja doch nicht an, weil sie einem zuwider sind. An unserer Arbeiterfrage hat sich schon mancher Unternehmer die Zähne aus gebissen. Und die Ruinen im Busch, die sie gesehen haben, sind noch nicht das Ärgste.
Ich kenne da noch ganz andere Sachen: Da hat sich, zum Beispiel, eine Gesellschaft, die Kapital zur Ausbeutung des Landes zusammengebracht hatte, Land von der Regierung geben lassen, in der Größe einer mittleren deutschen Provinz. Diese Leute hatten das Problem richtig erkannt und auch angepackt. Sie wollten das Land an viele Pflanzer aufteilen. Mitten darinnen wurde an einem Wasserfall ein Kraftwerk angelegt und Aufbereitungsanlagen für Kaffee und Sisal, so dass alle anfallenden Produkte rasch und billig zum Verkauf fertig gemacht werden konnten. Das war also eine große Organisation, wie wir sie uns hier wünschen, mit allen Vorteilen für den Pflanzer, aber - und nun kommt das große aber - der angebaute Sisal blieb zehn Zentimeter unter der Länge, die auf dem Weltmarkt gehandelt wird und der Kaffee trug nicht so gut wie voraus berechnet war. Man hatte zu viel Gewicht aufs Geschäftliche gelegt und das Wichtige übersehen, dass man genügend Erfahrung in dieser Gegend haben musste. Man hatte wohl einige Versuche gemacht, die auch zufriedenstellend ausgingen, aber zu kurz. Wir alten Pflanzer wissen, dass man erst nach Jahren bestimmte Aussagen über ein Gebiet machen kann. Für solche langwierigen Experimente sind nur wir kleinen Pioniere in der Lage. Wir machen eigentlich die Arbeit für die, die nach uns kommen. So brach dieses große Unternehmen zusammen, die Beteiligten verließen Hals über Kopf das Land. Wohl über eine Million Pfund gingen bei dem Unternehmen drauf. Es lohnte nicht einmal, die eingebauten Maschinen und die Kraftstation wieder abzubauen, weil der Transport zu teuer war. Diese kostbaren Maschinen verrosten noch heute im Urwald, wenn sie Lust haben, können sie sie sich holen - aber ich fürchte, ihr Geld wird dazu auch nicht langen.“
Dabei sah mein Nachbar mich von der Seite an. „Ja, aber alles was dieses Land hergeben könnte, was so notwendig in der Welt gebraucht wird, müsste doch zu gewinnen sein!“, rief ich, „Fassungslos steht man vor diesen riesigen Weiten, auf denen man Kaffee, Sisal, Mais und alle Zitrusfrüchte ernten könnte, ganz abgesehen, von den ungehobenen Schätzen an Holz, Kupfer, Gold, Diamanten, Kohlen und einer Reihe weiterer Bodenschätze. Das habe ich auch schon gesehen, dass der Einzelne hier zu schwach ist. Aber wenn auch der Großunternehmer scheitert und die Arbeitskräfte nicht zu gewinnen sind, wie soll man das Problem dann lösen? Einmal muss sich das doch ändern, dass wir hier im Lande des Überflusses sitzen, nicht vor und zurück können und fast kein Bargeld in der Tasche haben.“
„Das wird sich auch einmal ändern.“, sagte er und sah gedankenvoll über seine musterhaft geordneten Kaffeebäumchen hin. „Aber erst, wenn die da draußen sich vertragen und eine ineinander greifende Weltwirtschaft entstanden ist, dann werden auch die Kolonien ein gesünderes Klima für uns Weiße haben. Die Welt muss aber lernen, uns Vorposten der westlichen Zivilisation hier draußen mit einzuspannen in ihren Lebensrhythmus, anstatt uns als Konkurrenten und lästige Anhängsel mit unbequemen Forderungen zu empfinden.“
Kater Scipio
Nicht nur bei den Schwarzen war das Matabischu, das kleine Geschenk, beliebt, sondern auch die Portugiesen kannten die erfreuliche Sitte der kleinen Aufmerksamkeiten. Ich hatte eine Freund­schaft mit einem Portugiesen, die uns mancherlei Nutzen brachte. Er war der wichtigste Mann im Umkreis, der portugiesische Postmann der nächsten Bahnstation, Senhor Jose. Er war zugleich der Enfermeiro, der Heilgehilfe für die ganze Gegend und hatte eine reichhaltige Apotheke, die immer wieder Nachschub von der Regierung erhielt.
Von ihm bekam ich nicht nur zum Fasching den unter Portugiesen üblichen Süßigkeitsregen ins Haus gebracht, sondern eines Tages auch ein lebendes Matabischu, das mir fast teuer zu stehen gekommen wäre.
Es war ein hübscher, junger Kater, kohlpechrabenschwarz, noch etwas wacklig auf seinen Beinen, aber so frech und händellustig, dass wir ihm den Namen „Scipio africanus32“ gaben. Er hatte bald Freundschaft mit jedermann im Hause geschlossen und das Nächste war, dass jedermann im Hause in verhätschelte. Sogar Tejo erkannte Scipio schließlich an, nachdem er ein paar Mal bei gelegent­lichen Übergriffen des kleinen Kerls scharfe Krallen über die Schnauze gekriegt hatte. Nun respektierten sich die zwei und spielten zusammen.
Mir war Scipio zugetan, so wie eben ein Kater des Menschen Freund ist. Ohne Sentimentalität, Demut und blinden Gehorsam. Ab und zu kam er zu mir, schnurrte auf meinem Schoß, strich liebkosend um meine Waden und ging dann wieder seinen Abenteuern nach. Ich hatte ihn lieb gewonnen und duldete es sogar, dass er meinen Decktennisring von der Überfahrt, meine alten Filmspulen und meine aufgerollten Strümpfe zum Spielen verwendete.
Scipio war über einen Monat auf unserer Pflanzung, als er sich plötzlich merkwürdig veränderte. Bisher war er unternehmungslustig, forsch und frech gewesen, jetzt wurde er ein klägliches, weiner­liches Schoßtier, das mir Schritt und Tritt auf den Fersen nach schlich, wie ein kleiner Hund. Keine Maus konnte ihn mehr reizen, so atemlos und aufgeregt er sie sonst verfolgt hatte, keine Grille konnte ihn mehr verlocken, die er sonst, mit heftigem Eifer aus den Mauerritzen heraus gekratzt hatte. Der schönste, bunte Falter konnte ihn nicht mehr zum Haschen reizen.
Es war klar: „Scipio africanus esta doente“, er war krank und brauchte den Medizinmann. Ich hätte ihn heilen müssen, aber ich konnte ja nicht einmal eine Diagnose stellen. Katzenkrankheiten schlugen nicht in mein Fach, da war guter Rat teuer. Ich konnte Scipio weder mit Chinin noch mit Jod und Rizinus behandeln, so etwas wie ein Tierarzt war natürlich im Busch nicht vorhanden.
Es wurde immer schlimmer mit ihm, anstatt besser. Er miaute kläglich, keuchte und japste, als ob er argen Durst hätte. Seine kleine Nase war heiß und trocken. Er rührte aber weder Milch noch Wasser an, wenn man es ihm hinstellte.
Ratlos sah ich seinem seltsamen Gehabe zu. Ich hätte meinem kleinen Matabischu so gerne geholfen.
Als ich in den Garten ging, um die Tomaten hoch zubinden, warf er sich japsend unters Bohnenkraut und sah mir zu. Seltsam vorwurfsvoll, wie es mir vor kam. Ich beugte mich nieder und streichelte ihn, da beißt er plötzlich zu, ganz wild, mit seinen scharfen Zähnchen, tief in das weiche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein dicker Blutstropfen erschien auf meiner Hand.
Mehr gekränkt als erschrocken sehe ich Scipio an, ich hatte ihm doch gar nichts getan! Er hatte niemals auch nur seine Krallen an mir versucht. Er hielt sie stets behutsam eingezogen, wenn er mir nahe kam. Und jetzt biss er sogar? Ich wusste gar nicht, was ich daraus machen sollte.
Wie ich noch so sinnend vor dem Kater stehe, kommt unser schwarzer Koch daher. Er sieht das Blut an meiner Hand, dann den japsenden Scipio an, ruft erstaunt „ha ka“ und bleibt bei mir stehen. Ehe ich noch etwas sagen kann, schreit der Koch auf. Scipio ist rasch vor geschnellt und hat ihn in den nackten großen Zeh gebissen. Beide stehen wir da, verblüfft und blutend und sehen dem kleinen Katervieh nach, das nun durch den Garten läuft, auf das Tor zu, wo Freund Nickel gerade auftaucht. Ehe ich noch einen Warnruf ausstoßen kann, hat Nickel sich, wie es seine Gewohnheit ist, nieder gebeugt um Scipios Fell zu kraulen und schon ist auch er in die Hand gebissen. An dem gekränkten Nickel und seiner blutenden Hand vorbei lief ich zum Haus, im Gehen noch rasch dem Koch zurufend, er solle Scipio sofort in eine Kiste sperren und keinen Menschen an ihn heran lassen. Mir dämmerte ein schlimmer Verdacht.
Ich warf in meinem Schrank alles durcheinander, weil ich das Handbuch der Tropenmedizin nicht schnell genug herausfischen konnte. Hastig schlug ich unter „T“ nach. Tollwut, richtig! Die Symptome stimmten. Mir wurde schwindelig. Mir wirbelten die verschiedenen Vermutungen in meinem Kopf herum. Scipio hat Tollwut. Es waren schon drei Personen, die er gebissen hatte und ich, der Medizinmann hätte das verhindern müssen! Mir wurde schwül und wieder kühl. Tollwut, einmal zum Ausbruch gekommen, ist unheilbar. Sofortige Schutzimpfung ist die einzige Hilfe. Ich sah auf die Wunde über meiner Hand und öffnete die Hausapotheke. Das war eine leere Geste; ich wusste, dass wir keinen Tollwutimpfstoff hatten. Bis zum Postmann, der im aller günstigsten Falle welchen da hatte, war es ein Tagesmarsch.
Während ich noch mit benommen Kopf vor meiner Hausapotheke stand, trat Tuthorn bei mir ein. Tuthorn war ein Gast aus Europa. Wir hatten ihm seinen Namen („von Tuten und Blasen keine Ahnung“) nicht umsonst gegeben. Er berichtete mit dem gleichen gekränkten Gesicht, wie die anderen es auch gemacht hatten, Scipio habe ihn gebissen und hielt seinen blutenden Daumen hoch. Er erzählte, das arme Tierchen habe ihn so gedauert. Japsend vor Durst habe es in seiner Kiste gehockt. Da der Koch ihn gewarnt habe, habe er sich umsichtig einen Lederhandschuh angezogen, um die Milchschale hinein zustellen. Scipio habe den Handschuh glatt durchgebissen.
Nun waren wir also vier Tollwutkandidaten. Es galt, rasch zu handeln. Ich ließ den besten Läufer aus dem Kimbu kommen und schickte ihn zu Senhor Jose. Dieser sollte allen Grund haben, sich mit der Hilfeleistung zu beeilen.
Der brave Schwarze bewältigte den Weg in einem halben Tag. Inzwischen hatte ich die verflixte Aufgabe, den anderen klar zu machen, was auf dem Spiel stand. Wir sollten nämlich vier Wochen täglich den Impfstoff spritzen, falls wir ihn bekämen. Danach müssten wir abwarten, ob es uns nicht doch erwischt habe.
An diesem Nachmittag waren wir alle etwas blass und Scipios durchdringendes klägliches Maunzen, das man in allen Zimmern hörte, machte die Stimmung noch unheilschwangerer. Nur gut, dass wir nicht wussten, dass diese Nervenfolter nur eine Vorübung für die noch Kommende war.
Der Neger kam mit seiner Botschaft auf dem Stecken zurückgetrabt, als gerade die Sonne sank. Er war verschwitzt und atemlos, hatte ein Schriftstück, aber kein Gläschen dabei. Die Augen aller Hausgenossen waren auf mich gerichtet, als ich das Schreiben von Senhor Jose öffnete.
Ich musste mich setzen. Es war kein Impfstoff da. Man hatte alles im Ort verbraucht und zwar vor gar nicht langer Zeit, weil ein tollwütiger Hund achtundzwanzig Personen gebissen hatte. Sicher hatte da der junge Kater etwas mitbekommen. Senhor Jose beteuerte, bei der Mutter Gottes und allen Schutzheiligen, dass er augenblicklich bei der Regierung ein Flugzeug mit einer Kiste Impfstoff anfordern werde.
Wir wussten, dass die Kolonialverwaltung für solche Fälle eingerichtet ist, da Tollwut im Busch häufig ist. Wir wussten auch, dass an der Küste die wichtigsten Impfstoffe für solche Fälle lagerten. Aber ob alles rechtzeitig kommt? Ob der Telegraph auch funktioniert? Ob der Pilot nicht gerade einen Malariaanfall hat? Ob das Flugzeug, eine ausgediente Sportmaschine, die für solche Fälle. eingesetzt wurde, nicht gerade in Reparatur oder aber zu einer anderen Gefahrenzonen unterwegs ist? Und ob, wenn wir auspackten, nicht etwa Schlangenserum anstatt Tollwutimpfstoff zutage kommt? Es kann so vieles Unvorhergesehenes vorkommen, im Busch. Der gut eingespielten Technik des zwanzigsten Jahrhunderts fällt hier so mancher Knüppel vor die Füße.
Es waren zermürbende Tage, die nun folgten. Scipio, dessen Krankheit immer schlimmer wurde, mussten wir erlösen. In unseren Tischgesprächen entwickelten wir einen Galgenhumor, der mit jedem neuen Wartetag etwas mühsamer wurde. Tejo sahen wir mit schiefen Blicken an. Ob er plötzlich auch anfing, den eigenen Herrn anzufallen?
Wir hatten Glück. Endlich kam doch die Medikamentenkiste, wir konnten uns spritzen. Nun war es wieder an mir, fünfundzwanzig Tage lang jedem gebissenen (mich eingeschlossen) eine Injektion „in den Bauchspeck“, wie die Vorschrift lautete, zu geben. Das war gar nicht so leicht. Denn wo liegt der Bauchspeck? Wir fanden ihn nicht, denn wir hatten keinen. Tropenhitze und Malaria lassen es nicht zu so etwas kommen.
Alle ertrugen meine Bauchstechereien, bei denen mir selbst gar nicht wohl war, mit Fassung. Nur Nickel, der sonst so forsche Herr des Hauses und Schöpfer starker Kampfszenen auf dem Papier wollte es sich nicht gefallen lassen. Nein, nein, lieber wollte er die Tollwut haben, als alle Tage wie ein Schwein in den Bauch gestochen zu werden. Nach vielem Zureden besann er sich eines Besseren und schließlich gewöhnte er sich an die fatale, lange Nadel.
Bei mir selber aber rief der heimliche, uneingestandene Widerwille (wie könnte ein Medizinmann sein Grausen eingestehen) ein übles Geschwür hervor. Ich musste mich, mit meinem misshandelten Bauch acht Tage ins Bett legen, um das faustgroße Ding auszukurieren.
Aber der Lohn blieb auch nicht aus. Die nächsten Monate vergingen, ohne dass einer von uns zu beißen angefangen hätte. Lebende Matabischus habe ich seit jener Geschichte in Afrika nicht mehr angenommen.
Batuk
Wir wollten ein Fest feiern auf der Pflanzung. Unsere Donne di Casa33, Nickels Frau, hatte Geburtstag. Das Wiegenfest einer weißen Frau im Busch ist immer eine große Sache. Schon lange vorher zerbrachen wir uns die Köpfe, was wir besonderes veranstalten könnten, um den Tag recht großartig zu gestalten. Es sollte möglichst nichts kosten und viele Gäste konnte man auch nicht dazu laden, wir hatten ja keine Fahrzeuge und es war auch schwer, unsere Pflanzernachbarn aus ihrem Bau herauszulocken.
So blieben nur unsere mit viel Liebe selbst gebastelten Geschenke, zu denen sogar eine Frisier­toilette gehörte, die beinahe aussah, als wäre sie in einer europäischen Möbelfabrik zur Welt gekommen. Damit waren wir aber noch nicht zufrieden und berieten lange herum. Nickel war es, der auf den großen Einfall kam: wir machen einen Batuk!
Batuk nennen die Schwarzen ihr Tanzfest, das sie auf einem Platz im Dorf halten. Da die weißen Frauen fast nie in den Busch kommen und noch weniger in die Negerdörfer, wissen sie vom Leben und Treiben der Neger nur sehr wenig. Dabei sind sie neugieriger als ihre Männer, auf die Tanzkostüme und -bräuche der Eingeborenen.
Auch wir Männer wurden natürlich nicht zum Batuk ins Kimbu geladen. Dabei wollten unsere Schwarzen unter sich sein. Aber wir hatten doch ab und zu Gelegenheit, heimlich vom Busch her zuzusehen, was sie die ganze Nacht durch draußen trieben.
Wir gingen also an die schwierige Ausführung unseres Vorhabens. Unseren Negern, die im Haus und auf der Pflanzung arbeiteten, erzählten wir, unsere Hausfrau habe Geburtstag. Sie wolle, dass wir ihr zu Ehren, Mais, Zuckerrohr und Bohnen für Schnaps und Bier spendieren sollten, damit das Dorf einen Batuk feiern könnte, der aber diesmal auf unserem Hof stattfinden solle. Unsere Neger berieten eine Weile, dann erklärte ihr Sprecher, mit vergnügtem Augenrollen: „ótimo, Patrão, ótimo34!“, „Ja, Herr, das wird sich wohl machen lassen“. Wir machten ihnen klar, dass sie dann auch ihre Medizinmänner mit ihren Masken mitbringen sollten. Nun wurde die Sache schwieriger. Unsere Unterhändler drucksten herum, taten sehr geheimnisvoll und gefährlich mit ihren Zauberern. Sie müssten erst fragen, ob so etwas überhaupt möglich wäre. Sie wollten aber alles tun, was sie könnten. Man merkte ihnen wohl an, dass sie nur ungern auf Maisbier und Bohnenschnaps verzichtet hätten.
In den nächsten Tagen kam dann die Nachricht, dass die Medizinmänner ihr Erscheinen zugesagt hätten. Gleichzeitig baten sie um Mais und Bohnen, damit die Vorbereitungen für das Schnaps- und Bierbrauen beginnen könnten.
Mit diesen Vorbereitungen begann für uns schon der Geburtstagsspaß. Bierbrauen und Schnaps brennen auf Kaffernart, das wollten wir schon immer gern lernen. Frühmorgens stimmte Ohani auf seiner Esse ein ungewöhnlich lautes Trompeten an und stelzte aufgeregt mit seinen Flügeln schlagend auf seinem Dach umher. Was da schnatternd und kichernd die Pad vom Kimbu heraufkam, mit großen Körben auf den Köpfen und kleinen Kindern an der Hand, das war nicht unser täglicher Arbeiter­trupp. Er hatte es gleich gemerkt. Da waren die Frauen des Kimbus, die sich in respektvollem Bogen um meine Morgenordination herum aufbauten. Sie warfen erwartungsvolle Blicke nach dem Store, wo unsere Vorräte aufgestapelt waren. Sie konnten es kaum abwarten, bis ich fertig war. Sie waren schon ganz aus dem Häuschen vor Vorfreude auf das große Fest.
Wir füllten ihnen die Körbe und sie schleppten zuerst den Mais an den Wassergraben und wuschen ihn dort. Das merkwürdige an den Negermädchen und -frauen ist, dass man sie von den Männern kaum unterscheiden kann, wenn sie nicht anstatt des Lendentuches ein Tuch trügen, in das sie von der Brust bis zu den Knien eingewickelt sind. Sie sind schmalhüftig und breitschultrig, langbeinig und sehnig von der steten Tätigkeit im Freien. Das Haar wächst ihnen nur in winzigen Ringel­löckchen, die wie festgeklebt auf der Haut sitzen. Auf den ersten Blick wirkt ihr Kopf wie geschoren. Die Kinder, mit ihren dicken Bäuchen, kribbelten und krabbelten splitternackt zwischen ihnen herum und waren angesteckt von der Erwartung auf das Vergnügen, an dem sie gar nicht teilhaben durften.
Der feuchte Mais stand nun zum Keimen überall am Grabenrand. Jetzt wurde ein großes Feuer geschürt, Töpfe hinein gehängt, geschürt, gerührt, gekocht - und geschnattert.
Sie waren wie ein Haufen Spatzen um die Futterkörner. Sie machten einen Lärm, dass die Wildtauben in den Eukalypten gekränkt schwiegen und Ohani sich in den Busch ver­zog. Als die schwarzen Hexen im roten Feuerschein geschmort und gebraut hatten, als ihnen die glit­zernden Schweißtropfen auf den flachen Nasen saßen - sie schafften ja in der doppelten Hitze von Mittags­sonne und Feuer - da gingen sie daran, den Zuckerrohrsaft aus den Stängeln zu gewinnen. Das schien der angenehmere Teil der Vorbereitungsarbeiten zu sein. Denn nun machten sie sich bequem und hockten sich im tiefen Kreis um den Bottich nieder. Jede nahm sich einen Rohrstängel und begann darauf herum zubeißen. Wenn sie eine Weile gekaut hatte, spie sie den gewonnen Saft in hohem Bogen in den Kessel hinein. Die aus gekaute Faser spuckte sie dann sorgfältig beiseite. Es war ein erstaunlicher Anblick: Wo man auch hinschaute, mahlende schneeweiße Gebisse und schwarze Kinnbacken und das Geräusch des Spuckens. Klick, klack, klick, klack. Von allen Seiten in den Kessel hinein. Diese Fabrikationsart musste ein großes Vergnügen sein, denn die Frauen grinsten dabei über die glänzenden Gesichter. Die weißen Augäpfel waren in ständiger Bewegung. Sie äugten umher, wie eine Schar neugieriger Vogelweibchen.
Wir Weißen sahen uns untereinander an und taten, ohne Worte, alle denselben Schwur: Niemals von dem so gewonnenen Alkohol zu kosten. Besonders ich, als Medizinmann mit meiner recht eingehenden Kenntnis der kariösen Negergebisse und ihrer verschiedenen, wenig appetitlichen Krankheiten, konnte einen kalten Schauder nicht hindern, der mir den Rücken hinauf und hinunter kroch.
Die so gewonnene Brühe wurde mit dem gestampften Mais gründlich vermischt und dann zur Gärung angesetzt. Je tiefer die Sonne in ihrem Lauf am Horizont stand, desto intensiver roch es, bis in alle unsere Zimmer hinein, nach Zuckerrohr und desto ausgelassener wurde das Kichern und Albern unserer Arbeiterinnen.
Wir hatten den Eindruck, dass schon das bloße fabrizieren des Festtrunkes den schwarzen Weiblein prickelnd ins Blut ging, wie der Alkohol, der doch erst heraus gären sollte.
Als die Frauen fertig waren, rollte der Koch, unser Vertrauensmann, das Gebräu zur Überwachung in seine Hütte. Wir aber waren so müde von dem Lärm und dem Treiben der Festvorbereitungen, als hätten wir schon den ganzen Tag getanzt. Wie müde aber Zusehen und vor allem Zuhören macht, das sollten wir noch gründlich zu spüren bekommen.
Anstatt unseren Bastelarbeiten noch den letzten Schliff zu geben, saßen wir schwatzend um den Kamin und mutmaßten, wie der bestellte Batuk sich wohl entwickeln würde. Wir waren aus unserem täglichen, eintönigen Trott geraten. Die Aussicht auf ein Fest war ein großes Ereignis in unserer Abgeschiedenheit. Es hatte doch einen fernen Beigeschmack an die alten Zeiten in Europa, wenn man sich pfeifend Lackschuhe und Smokinghemd heraus suchte und das Zigarettenetui extra blank polierte. Wir gestanden es uns gegenseitig nicht ein, wie aus gehungert wir nach ein bisschen festlicher Stimmung waren. So wie wir uns gegenseitig unser Heimweh nie recht eingestanden, damit es nicht vollends Herr über uns würde.
Ich erzählte den Anderen von meinen nächtlichen Beobachtungen im Kimbu, als die Neger­trommeln mich mit ihrem pochenden, lockenden Rhythmus aus dem Bett geholt hatten. In meinen Bademantel gehüllt war ich hinaus geschlichen. Auf den leisen Sohlen meiner Hausschuhe, lautlos, wie ein Jäger auf der Pirsch. Es war eine Vollmondnacht. Zum Batuk gehört der Vollmond. Ich hielt mich immer von Büschen gedeckt, auch als ich am Kimbu angelangt war. Um ein mächtiges Feuer bewegten sich schwarze Gestalten zum Rhythmus der Trommeln. Ab und zu tauchten sie groß vor mir auf und glitten wie ein Spuk wieder in das Dunkel zurück. Dies Bild kennt der Busch wohl seit undenklichen Zeiten. Uns, die wir aus der Zivilisation kommen, kommt es unwirklich und wie eine Szene aus einem Film vor.
In solchen Nächten wird einem klar, dass man in diesem Land niemals eine wirkliche Heimat haben wird. Zu fremd und rätselhaft ist alles an diesen dunklen Menschen. Ich kannte doch fast jeden einzelnen der Tänzer genau von den Arbeiten auf unserer Pflanzung. Aber nachts, beim Tanz waren sie ganz andere. Das waren nicht die ruhigen, unterwürfigen Schwarzen, die man in manchen Teilen Afrikas auch heute noch für geringe Vergehen mit Prügel bestraft. Die da tanzten, dass waren freie Geschöpfe, losgelöst von jeder Fessel, im geheimen Bund mit allen Naturkräften. Menschen, die sich voll ihrer Leidenschaft hingegeben konnten. Ich sah, dass ich bisher keine Ahnung gehabt hatte, was ein Naturkind wirklich ist. Etwas Starkes, Unbändiges und Leidenschaftliches, trotz aller kindlichen Freude am Spiel der Bewegungen. Wie oft hatten wir das Wort „Naturkind“ gedankenlos in den Mund genommen, wenn wir unsere Arbeiter ansahen, ohne etwas von diesen Temperaments­ausbrüchen zu wissen.
Der weiße Mann glaubt Herrscher über so ein kindliches Naturvolk sein zu können, ohne dass er dessen Seele auch nur entfernt begreifen kann. Ich verstand, dass reine Träume vom Herrentum im dunklen Erdteil an diesem Problem scheitern mussten. Wie zweifelhaft die Macht über die Leiber der Eingeborenen war, das hatte wir ja erfahren. Jetzt verstand ich, dass eine Macht über die Seelen zu bekommen, erst recht unmöglich war. Diese Menschen kannten eine Art von Freiheit, die wir zivilisierten Völker schon längst vergessen haben. Deshalb ist es wohl auch so schwer, ihnen die christliche Religion nahe zubringen. Sie ziehen sie an, wie das Kleid des weißen Mannes und wenn es ihnen unbequem wird, draußen in der freien Natur, werfen sie es wieder ab.
Als ich dann heim ging, das dumpfe Trommeln im Ohr und im Blut, war auch der Busch mir fremd geworden. Die vielen Pads, die von Tieren und Negern getreten waren, nahmen im harten Vollmondlicht geisterhafte Formen an. Aus langen Schatten von blattlosen, dürren Ästen entstanden Leiber von erstarrten Riesenschlangen. Man geht noch behutsamer in dieser gläsernen, körperlosen Welt als sonst, denn das Geräusch der eigenen Schritte schreckt einen. Ich bin nachts zwar nie einer Schlange begegnet, aber nach der fremdartigen Szene am Feuer glaubt man an jede Art von gefährlichen Tieren und Dämonen. Das klebrige Netz der goldenen Spinnen, in das man hinein rennt, macht einen ganz verwirrt. Und wenn es irgendwo raschelt, fährt es einem bis in die Kniekehlen, denn nun glaubt man alles, was von den Schwarzen gemunkelt wird. Trotz aller Verbote von Regierung und Missionen werden auch heute noch im tiefsten Busch heidnische Sitten und grausame Rituale gepflegt. Wenn ein Weißer sich neugierig zu solch einem heimlichen Fest heranschleicht, soll er bald nachher ohne ersichtlichen Grund sterben müssen. Immer wenn ich die nächtliche Trommeln dröhnen hörte, brachte ich ihr dumpfes Pochen mit diesen geheimnisvollen Zusammenkünften und barbarischen Sitten in Verbindung.
Wir hatten uns verplaudert. Plötzlich waren wir mitten in den Problemen unserer schwarzen Heimat angelangt und es war doch nur ein harmloser Anlass, ein Spiel der Schwarzen auf unserem Hof, aus dem vielleicht, bei Trommel und Bohnenschnaps, unwillkürlich ernst, nämlich ein wirklicher Batuk werden konnte.
Der Festtag kam. Den Vormittag verbrachten wir ganz europäisch mit Gratulationstour, Gabentisch und Festmahl. Dann begann der zweite Teil unseres Programms, von dem wir nicht wussten, wie er ausgehen würde.
Zuerst fragte der Koch, ob er schon Maisbier aus schenken dürfe. Wir sagten zu und gingen auf den Hof hinaus, wo wir eine nie gesehene Zahl von Negern vor fanden. Das Freibier hatte seine Anzieh­ungs­kraft bewiesen, genau wie in Europa.
Hof und Pflanzung waren schwarz vor Schwarzen. Die Fülle war geradezu beängstigend, ich muss gestehen, dass uns zwei weiße Männer ein Gefühl der Ohnmacht befiel. Stehende, hockende, trinkende, schwätzende Neger, wohin man sah. Bis in die Kaffeestauden wogte die Menge und immer kamen noch neue Gäste vom Busch herüber.
Nachdem ich in Afrika eingewöhnt war, habe ich mich nie von einem schwarzen Mann bedroht gefühlt; aber diese Überzahl war einfach erdrückend. Uns war zumute, wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, gern wieder los geworden wäre. Jetzt konnte ich mir auch vorstellen, wie es früher auf einer einsamen Faktorei35 gewesen war, wenn von allen Seiten feindliche Eingeborene heran rückten, um sie einzunehmen.
Aber nun hieß es, gute Miene zum Spiel zu machen. Wenn sie gewollt hätten, hätten sie unter unseren Augen die ganze Pflanzung leer stehlen können, ohne dass wir in dem Gekribbel etwas gemerkt hätten.
Aber wir waren mit unserem europäischen Misstrauen ganz auf dem Holzwege. Alles entwickelte sich programmgemäß, es ging friedlich zu, wie auf einem Jahrmarkt. Im Küchenhaus hatte der Koch seinen Ausschank aufgeschlagen, er hatte mit seinen Helfern alle Hände voll zu tun. Ohani hatte seine Residenz verlassen müssen und flatterte nun ruhelos von Hausdach zu Hausdach, unent­schlossen, ob er nun bleiben oder das Feld räumen solle. Auf dem Hof war nicht mal so viel Platz, dass er unbehindert ein fliegen konnte. Aber er war an dem großen Fest doch zu interessiert, um sich ganz in den Busch zu verziehen.
Unserem Geburtstagskind ging es ähnlich wie Ohani. Sie traute sich nicht mitten in das schwarze Gewühl hinein. So kam es, dass wir Weißen uns auf der Treppe vor der Haustür gruppierten und unseren schwarzen Besuch von hier aus betrachteten.
Dieser ging auch ganz gesittet im Hof umher und schielte ab und zu zu uns herüber. Noch gab es keine aufregenden Ereignisse, die uns einander näher gebracht hätten. Wir freuten uns an mancher originellen Type. Sie hatten ihr bestes Gewand angelegt oder was sie dafür ansahen. Bei manchen war es ein Nachthemd mit völlig zerfransten Rändern, bei manchen nur eine feierliche, schwarze Hose, einige trugen zum üblichen Lendentuch einen Zylinderhut oder eine Melone, manche auch nur einen bunten Schlips und Lackschuh. Irgendwie dokumentierten sie nach Kräften ihre Zuge­hörigkeit zur zivilisierten Welt.
Unser Hausboy kam mit wichtiger Miene, um uns feierlich eine Häuptlingstochter vorzustellen. Es war ein dralles Negermädchen, in knall bunter Bluse mit einem großen, weißen Handtuch als Haube, das sie wie die Spreewälderinnen aufgesteckt hatte. Leider war es schwierig, die gesellschaftlichen Formen einzuhalten, den selbst mit einer Häuptlingstochter ist es fast unmöglich, eine Unterhaltung zu führen. Wir überlegten krampfhaft, ob wir uns nach ihrem würdigen Vater erkundigen sollten und wie viel Kühe und Hammel er habe. Oder ob wir fragen sollten, wie es um ihre Heiratsaussichten stehe und ob sie ihrem Vater einen hohen Kaufpreis bringen würde?
Da sie auf die einfachste Frage aber nichts als ein verlegenes Kichern hatte, als ob sie von hinten gekniffen oder gekitzelt würde, gaben wir es schließlich auf mit ihr.
Jetzt kam Bewegung in die Menge und es hieß, dass die Zauberer da seinen. Richtig, die Schwarzen wogten auseinander und am anderen Hofende erschien ein Trupp Maskierter, die sich im Gegensatz zu ihren schreckens­erregenden Masken etwas verlegen hin und her bewegten. Sie schienen nicht recht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollten. Was sollten sie auch am helllichten Tag, ohne Feuer, ohne Tanz, ohne das Spiel von Schatten und Flamme bei Dunkelheit?
Ich spürte, dass es ihnen selbst nicht recht gelingen wollte, sich auf diesem Terrain als Beschwörer von Dämonen zu fühlen. Wir waren genau so ratlos wie sie; wir wären gern bereit gewesen uns tüchtig zu gruseln. Wir studierten also nur ihr Verkleidungen, die aus einem trikotartigen Gewand, mit Schweifen und Hörnern versehen, bestanden. Das Beste waren die Löwenmasken, mit einer gewaltigen Mähne aus Bast oder Faser, die sich zu den Sprüngen des Trägers sträubte und flatterte.
Nach einigen Sprüngen blieben sie stehen und wussten nicht weiter - es waren keine Geister zum austreiben da - dafür hatte die Festordnung nicht gesorgt. Gewohnheitsgemäß griff ich nach meiner Leica, aber der Anblick des kleinen Apparats hatte eine unvorhergesehene Wirkung. Plötzlich machten die Medizinmänner ganz echt wirkende, große Sprünge und stürmten davon, dem Busch zu.
Am komischsten sah der Fersengeld gebende Löwe aus. Es machte mir aber gar keinen Spaß, meine Leica als Dämon zu benutzen. Nun war ich drauf versessen, meine Bilder doch noch zu kriegen. Ich schickte also einen Unterhändler, der den entschwundenen Zauberern ein Körbchen Salz für noch­maliges Erscheinen am anderen Tag bieten sollte.
Otschimbombo und Katschipembe, Maisbier und Bohnenschnaps waren den ganzen Tag in Strömen geflossen, ohne dass ich einen Berauschten entdeckt hätte. Es wurde nacht, wir gingen zum Abend­brotessen. Wir hörten an dem Geräusch, dass von draußen herein drang, dass die Stimmung unserer Gäste keineswegs nachließ, sondern immer munterer wurde. Bald kam zu den Geräuschen das Gedröhn der Trommeln hinzu, die zum Tanz riefen. Man macht sich keinen Begriff, was so ein ausgehöhlter Baumstamm für eine weittragende Stimme haben kann.
Als wir wieder auf den Hof kamen, hatte die schwarze Jugend ein mächtiges Feuer angezündet, darum bildete sie ein weiter Kreis. Menschenleiber wippten im Rhythmus der Trommel auf und ab. Wir stellten uns hinter sie, wir waren ja geladen. Gleich packte uns wieder das Unwirkliche und Lockende der Szenerie.
Die hohen Eukalypten, die den Hof säumten, bildeten eine hohe Halle für das Fest. Falter, Käfer und Mücken schwirrten, angelockt vom Feuer, von allen Seiten über unseren Köpfen. Der Trommler stand mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, hielt die kleine, helltönende Trommel zwischen die Knie geklemmt und bearbeitete mit beiden Händen das Kalbfell so fleißig, dass Schweißtropfen auf seiner Stirn erschienen. Die schwarzen Jungs und Mädels bildeten je einen Halbkreis um das Feuer, das jeweils erste Paar wippte in eine Art Stechtrab aufeinander zu, sie tanzten, ohne sich zu berühren, um einander herum und gingen dann, ohne aus dem Schwung zu kommen, seitlich ab, um sich ihrem Trupp hinten wieder anzuschließen. Einige Ältere, die sich nicht eingereiht hatte, standen beiseite, ohne einen Blick von dem Schauspiel zu verwenden. Ab und zu sprang einer von Ihnen heraus, in die glatt gestampfte Mitte der kleinen Tanzfläche und tanzte ein temperamentvolles Solo. Dazu begleitete er die Stimme der Trommel mit seinen Rufen, die immer lauter und immer rascher wurden, bis sie den Trommler zu heftigerem Rhythmus mitgerissen hatten. Der springende Schatten dieser Tänzers tauchte die Gesichter der Zusehenden in ein rasch wechselndes Licht, das eine neue, leidenschaftliche Stimmung in das bisher so wohl geordnete Reigenfest brachte.
Nun genügte die kleine Trommel nicht mehr. Das Fest war in Schwung gekommen, aus dem Kimbu wurde die große Trommel herbei geschleppt. Gleich zwei Mann machten sich darüber her. Der Baumstamm lag flach auf dem Boden, ein Mann stellte sich grätschbeinig darüber und schlug, mit flachen Händen und mit geballten Fäusten abwechselnd auf das Fell, indes der Zweite sich an das Ende des Stammes hockt und mit zwei Stöcken kräftig auf das hohle Holz einschlug. Es gab ein Gedröhn, dass einem in allen Nerven zuckten und, ob man wollte oder nicht, in die Beine ging. Jetzt tanzten die Paare in zwei Reihen aufeinander zu, entfernten sich wieder, näherten sich erneut, um endlich die Figur in Einzeltänzen aufzulösen. Sie waren eigentlich nicht ausgelassen dabei. Sie tanzten mit einem leidenschaftlichen Ernst und einer Hingabe, wie sie das unheimliche, monotone Klopfen der Trommel hervorruft.
Diese Trommeln! Wie sie mir ins Blut gingen - aber ich musste meine zuckenden Füße bändigen. Ein Weißer ist eben ein Weißer. Er darf seinem Temperament nicht die Zügel schießen lassen; er muss das Gesicht wahren. Schließlich hatten wir das Gefühl, dass wir die entfesselten Geister lieber sich selbst überließen. Es war nicht mehr unser Fest. Wir fühlten uns nicht mehr als Gastgeber. Es war eben Batuk.
Die Flammen flackerten, der Vollmond schien, die Trommeln pochten, das war die Nacht der Schwarzen. Wir Weißen verdrückten uns und saßen noch eine Weile beisammen und besprachen den glücklichen Verlauf unseres Geburtstagsfestes des Langen und Breiten, in der Meinung, der große Tag und damit der Batuk sei nun vorüber. Aber wir kannten Afrika noch nicht. Die Geister, die wir gerufen hatten, konnten wir nicht wieder loswerden.
Bis zum Morgengrauen währte das Vergnügen auf unserem Hof, ohne Unterlass dröhnten die Trommeln und stampften die Tänzer. Wir trauten uns nicht, ein Machtwort zu sprechen und das schwarze Volk energisch nach Hause zu schicken. Wir konnten unsere Autorität nicht so leicht­sinnig aufs Spiel setzen. Denn was sollten wir tun, wenn sie einfach nicht gehorchten? Was konnten wir zwei gegen hunderte von Berauschten und ausgelassenen Schwarzen ausrichten? Wir gaben nach, wie es der Klügere tut und gingen seufzend in unser Bett.
Am nächsten Morgen legte ich mich beizeiten auf die Lauer, um die Zauberer mit meiner Kamera zu überraschen. Hinter einem kleinen Fenster im Store richtete ich mich auf einem Bündel Mais­stroh ein, um Schnappschüsse zu machen.
Die Medizinmänner kamen richtig, wie versprochen und stellten sich am hinteren Hofende, wo der Store lag, auf. Die anderen Weißen hatten sich als dankbares Publikum vor der Haustür aufgestellt. So fiel unseren Zauberern nichts auf, sie verloren ihre Befangenheit und hüpften in grotesken Sprüngen dicht vor meinem Objektiv herum. Sie hatten wohl gewusst, warum sie meine Kamera fürchteten und vor ihr Reissaus nahmen. Es war nicht die Furcht des primitiven Geschöpfs vor einem unbekannten Produkt der Technik. Sie kannten, wie fast alle Schwarzen, die Kamera gut genug. Es war einfach Buschmannsweisheit. Sie wussten, dass sie vor dem unbestechlichen Auge des Apparats von ihrer Dämonie und ihrem Zauber ein gutes Stück verlieren würden. Zu ihrem Handwerk gehörte das Dunkel, die Flamme, die Trommel und der Maisbierrausch.
Die Tänzer zogen ab, nachdem sie ihr versprochenes Matabischu erhalten hatten. Wir hatten ihnen auch von dem übrigen Maisbier aus schenken lassen. Es blieb aber immer noch eine ganze Menge zurück. Da wir es, da wir das Fabrika­tions­geheimnis kannten, nicht selbst trinken wollten, gaben wir dem Koch auf seine Bitte die Erlaubnis, es weiter aus­zuschenken. Als es dunkelte, kamen unsere Gäste, um das Geburtstagsfest fortzusetzen.
Sie hatten von ihrer Stimmung und ihrem Schwung nichts eingebüßt. Der Batuk mit Feuer, Trommel und Reihentanz begann von neuem. Es wurde eine lange Nacht. Es zeigte sich, dass wir von der Vitalität unserer Schwarzen bei ihren Arbeiten auf unserer Pflanzung einen recht unvollkommen Begriff bekommen hatten. Wir hatten, als wir nicht eine kategorische Grenze für das Fest setzten, mit der natürlichen Ermüdung des menschlichen Körpers gerechnet. Wir mussten erfahren, dass wir die Einzigen waren, die der Sache müde wurden.
Schließlich verzogen wir uns in unsere vier Wände, aber es war unmöglich, das Dröhnen der Trommel zu überhören. An Schlafen war gar nicht zu denken. Unser gefeiertes Geburtstagskind sah so abgespannt aus, als ob es zu früh von einem Malariaanfall aufgestanden wäre. In meinen Füßen zuckte es nicht mehr, dazu dröhnte mein Kopf zu heftig. Nickels Begeisterung, vor dem Feuer springende Negermädchen zu malen, war verraucht.
Am anderen Tag waren wir alle zu erschöpft, um einen Widerstand aufzubringen, als unsere fröhlichen Gäste sich pünktlich bei Dunkelwerden einfanden. Wir konnten auch schlecht zurück, denn die Erlaubnis, das Maisbier aus zutrinken hatten wir einmal gegeben. Es war unser Fehler gewesen, zu glauben, dass die Schwarzen ohne Maßen trinken und so schnell in einen Zustand gerieten, dass sie ihren Rausch ausschlafen mussten.
Bei diesem Batuk lernten wir über die Mentalität unserer Neger etwas hinzu: Dass sie einen anderen Rausch kennen, als den des Alkohols, nämlich den Rausch des Rhythmus und der fessellosen Lebensfreude. In dieser dritten Nacht hätten wir am liebsten im tiefen Busch kampiert, um den Festfreuden zu entgehen. Wir saßen am Kamin, weil unsere Betten uns verleidet waren. Afrika zeigte sich wieder einmal von seiner maßlosen Seite. Dieser Erdteil kennt nicht das goldene Mittel im Guten, wie im Bösen.
Das Buschtelegramm
Ich war schon ziemlich lang Kaffeepflanzer in Angola, West-Afrika. Weder Sandflöhe, Schlangen, noch Panther konnten mich aus der Fassung bringen. Aber an eines konnte ich mich nicht gewöhnen, dass Telegramme oft zwei Wochen von der Küste bis zu unserer Poststation brauchten. „Ich begreife diese Schlamperei nicht!“ rief ich, als ich bei einem im Busch ergrauten Nachbarn zu Besuch war. „Das werde Sie gleich begreifen.“ sagte er schmunzelnd und zog mich auf den Korbsessel neben sich.
„Sehen sie,“ begann er, „Don Jose, unser Postmeister ist ganz brav. Aber die Post kommt nur zweimal wöchentlich. Wozu soll er da immer im Amtszimmer hocken? Er sitzt im Familienkreise, liest eine alte Zeitung, bedient dabei ein uraltes Grammophon, spielt mit dem Jüngsten und so kommt es, dass er es einige Male überhört, dass sein schwarzer Gehilfe von draußen ruft: „Die Máquina36 ist arbeitend, Patrão!“ Erst als der Postmeister das Grammophon frisch aufziehen muss, erreicht das Rufen sein Ohr. Er stärkt sich mit einem schwarzen Kaffee, während er die Amtsmütze aufsetzt. Dann schlendert er über den backofenwarmen Hof ins Amtszimmer hinüber. Drei Worte kann er aus dem Papierstreifen des Telegraphenapparates heraus buchstabieren, dann verstummt das tack-tack. Kein Tippen auf die Morsetaste hilft. Don Jose spuckt gedankenvoll aus: „Caramba!“
Dann geht er erst mal heim, zum Mittagessen. Vielleicht besinnt sich das Teufelsding inzwischen, denkt er.
Erfrischt vom Mahl und Kaffee kommt er dann zurück, tippt auf die Taste: Nichts!
Don Jose spuckt in gewaltigem Bogen aus dem Fenster. Es muss etwas geschehen. Er pumpt die Lungen voll und ruft mit dröhnendem Bass: „Mo-cum-ba!“
Es dauert nicht sehr lange, so erscheint ein Neger grinsend in der Tür. Don Jose erklärt ihm, dass die Máquina kaputt sei. Man müsse sich sofort aufmachen und nachsehen, ob ein Schaden an der Leitung sei. Damit drückt er Mocumba die Werkzeugtasche der Post in die schwarze Hand. „Aber beeile dich, ein Telegramm ist da!“
Vergnügt trabt Mocumba mit der Tasche davon. Aber die Landstraße mit der Leitung lässt er links liegen und biegt in sein Heimatdorf ab. Er muss doch den Verwandten Bericht erstatten, was für eine Niederlage diese schwächliche Technik der Weißen erlitten hat! Und nur er kann den Schaden auffinden! Es gibt ein gemütliches Palaver über dem die Sonne untergeht. Mocumba schläft fein auf der heimatlichen Matte.
Am andern Tag aber kann ihn nichts aufhalten, seinen eiligen Auftrag auszuführen. Er macht nur einen kleinen Umweg mit seinem Vetter, der ihm die Wildschweinspuren auf seinem Maisfeld zeigen muss. Schließlich geht Mocumba zur Landstraße hinüber. Dort harrt er ein bisschen mit dem Vetter am Straßenrand, prüft den Inhalt der Werkzeugtasche. Dann geht er los, langsam und sorgsam von Mast zu Mast. Immer schaut er zur Leitung hinauf. Ebenso oft aber sieht er hinunter in das Gras vor seinen Füßen, ob sich dort keine Schlange regt.
Was dann, wenn Mocumba den Fehler oben am Draht findet? Zugleich ihn aber eine Schlange in den Zeh beißt? Ein toter Mann kann keine Leitung reparieren! Also langsam und vorsichtig! Bald ist es Mittag. Zu der Zeit werden schlafendene Schlangen besonders leicht getreten und zum Biss gereizt. Besser etwas ausruhen! Mocumba hockt sich unter einem Strauch auf seine Fußsohlen nieder und raucht eine Kippe. Darüber döst er ein. Es ist zu heiß um zu wachen.
Indes tut Don Jose was er nur kann, für das Telegramm. Alle paar Stunden lässt er Frau und Kinder im Stich und geht zum Amtsraum hinüber, wo er auf die Morsetaste tippt. Aber am zweiten Tag wird ihm das zu dumm. Was ist das für ein Leben? Dauernd auf den Füßen! Er erhebt, vor dem stummen Telegrafen sitzend, seine Bärenstimme und ruft: „Ba-tuc-ca!“.
Schon nach dem dritten Ruf schlendert ein grinsender Schwarzer herbei. Don Jose macht ihm klar, dass er laufen müsse, um Mocumba, das Stinktier einzuholen, der die Telegrafenleitung nachsehen soll und schon einen Sonnenuntergang ausgeblieben ist. Er soll sich beeilen, der faule Teufel! Batucca trabt vergnügt davon. Auch Batucca kann nichts unternehmen, ohne den Verwandten im Heimatdorf zu berichten, was an der Poststation passiert ist. Er hört dort auch von den Wild­schwein­spuren. Es wird nacht über den Dorfneuigkeiten. Am andern Tag aber lässt er sich nicht verführen, die Spuren zu betrachten, er ist ja in Eile. Er macht nur einen kleinen Umweg an einem hohlen Baum vorbei, in dem es neulich so verheißungsvoll summte. Wahrhaftig, es summt wieder! Er lauert eine Weile und sieht den Bienenschwarm ausfliegen. Er markiert frohlockend den Baum. Honig! Das gibt ein gutes Geschäft.
Als die Sonne schon tief steht, hat Batucca Mocumba endlich eingeholt. Nun schlendern sie zusammen weiter, aufmerksam Gras und Telegrafendrähte abwechselnd betrachtend. Bald haben sie die Schadensstelle gefunden. Ein Mast ist umgebrochen. Sie beklopfen ihn gerade gemütlich von allen Seiten, als Kissenge, der nächste dringende Abgesandte der Poststation, eintrifft. Zu dritt stellen sie nun befriedigt fest, dass der Mast den angolanischen Höhenwind nicht ausgehalten hat und sie reden wie von einem weißen Mann, der schlapp gemacht hat. Dann tun sie, was getan werden kann: Sie rollen das abgerissene Drahtende auf und bergen es. Bald dunkelt es. Sie gehen in das Heimatdorf, um Bericht zu erstatten und auszuschlafen. Als sie sich endlich, am andern Morgen früh aufmachen wollen, trifft gerade der vierte Abgesandte von Don Jose ein: Ossenge. Nun verweilen Mocumba, Batucca, Kissenge und Ossenge noch etwas, um mit den Männern des Dorfes diese neue Niederlage der Technik eingehend zu besprechen.
Dann wandern die vier zusammen heim, zur Poststation, von Verwandten ein Stück begleitet. In frohester Laune und mit stolzgeschwellter Brust kommen sie bei Don Jose an.
Nun beginnt eine bewegte Zeit: viele Verwandtenbesuche, Palaver, Zusammenkünfte unter Männern und Bewunderern ihrer Arbeit. Denn nun muss ein neuer Mast im Busch ausgesucht, gefällt, frisiert, abtransportiert werden. Wie viele Spaziergänge, Pirschgänge, Besuche, Jagden können da nebenbei erledigt werden! Dann muss der alte Stumpf ausgegraben, ein tiefes Loch ausgehoben, der neue Mast aufgerichtet, Porzellanköpfe müssen eingeschraubt, die Drähte gespannt werden. Muntere zehn Tage sind in Sicht! Wenn aber der neue Mast endlich steht, dann -...“
Da unterbreche ich den gemütlichen Redefluss meines buschfesten Nachbarn und fahre, anstatt seiner fort: „Dann aber kommt die Termiten, betrachten das schöne, frische, gesunde Holz, schnüffeln lüstern, wetzen die Zähne und beginnen zu nagen!“
Mein Nachbar nickte lachend: „So ist es! Und ehe sie noch ihr Zerstörungswerk vollendet haben, hat es drüben, 50 km weiter, ihre Base mit einem andern Mast bereits geschafft. Er bricht um.“
Nun lachte ich auch: „Jetzt also weiß ich, weshalb Ihr „alten Afrikaner“ von den viel gerühmten technischen Einrichtungen Angolas so wenig Gebrauch macht und immer nur Briefe mit der gewöhnlichen Bahnpost bekommt! Ein Kabel ist eben dem Appetit der Termiten, der Gemütsruhe der Postmeister und dem Familiensinn der Schwarzen nicht gefeit.“
Wilde Bienen
Im Lexikon hatte ich gelesen, dass Angola Wachsausfuhrland war. Genauso wie die Diamanten, das Gold und das Kupfer beschäftigte mich das Wachs.
Im Busch summte und brummte es von Bienen. Sie suchten die Blüten der Bohnen und der Orangen in unserem Garten. Sie kamen sie in Scharen, aber nie konnte ich entdecken, wo sie eigentlich hausten. Oft untersuchte ich bei meinen Streifzügen die Stämme dickerer Bäume, ob ich nicht ein Loch mit einem Schwarm darin entdecken könnte. Vergeblich. Ich war wieder der blinde, weiße Mann, der sich auf die schwarzen Naturkinder verlassen musste. Mit den Bienen war es das gleiche Mysterium wie mit den Bambis, Fischen, Pilzen, die wir selbst nicht finden oder fangen konnten.
Hin und wieder brachten uns die Schwarzen einen Ballen frisches Bienenwachs und ab und zu auch eine Wabe voll Honig. Wir gaben ihnen dafür eine Hand voll Salz.
Salz aber war rar in unseren Haushalt, wie alles, was auf der Station gekauft werden musste. Wir konnten uns nicht allzu oft den guten Honig für den Kaffeetisch leisten.
Außerdem war die Freude beim Essen eine geteilte, denn der Honig, der einfach so wie er war, aus dem Baumloch heraus gefischt worden war, nachdem der Schwarm mit Rauch verjagt wurde, war immer recht unsauber. Tote Bienen, Fliegen, Blättchen, Kerbtierchen saßen darin.
Wir nahmen das so hin, wie man eben alle kleinen Unannehmlichkeiten des Buschlebens hin­zu­nehmen sich gewöhnt. Mit der Zeit wurde aber unsere Bargeldkasse immer schmaler. Das bisschen Butter, das wir von unseren Kühen bekamen, begannen wir nach Lobito zu liefern und ich hatte das ewige Schmalz bald satt, denn es ranzelte zu gerne.
So kam ich auf die Idee selber Honig zu ernten und ihn geschleudert und gereinigt auf den Tisch zu bringen. Meine Freunde waren wohl einverstanden, aber sie schmunzelten ein bisschen über mich, wie meist, wenn ich mit einem neuen Projekt herauskam.
Ich packte die Sache systematisch an, so wie ich im Busch jede Arbeit mit großen Umschweifen und eine Art von Leidenschaft begann. Eine richtige Arbeit, das war ein Genuss, den man ausnutzen musste.
Ich machte die Runde bei hilfreichen Nachbarn und trieb auch schließlich eine alte Imkerzeitschrift auf. Mit Hilfe zweier englischer Margarinekisten baute ich ein ganz vorschriftsmäßiges Bienenhaus. Ich bastelte aus Bambusstöcken kleine Rähmchen für die Waben, brachte dafür Führungsleisten in der Kiste an und bohrte ein Schlupfloch. Davor kam eine kleine Anflugleiste. An den Deckel machte ich wohlweislich Scharniere, damit ich ihn wie eine Tür öffnen und den Honig bequem herausholen konnte, ehe mein Volk anfinge, ihn selber aufzuessen. Das Ganze stellte ich voll guter Hoffnung hinten auf den Hof.
Erst kamen nur alle möglichen, unerwünschten Besucher dorthin. Die schwarzen Pflanzungsarbeiter auf ihrem Wege zum Kaffee mutmaßten, was wir wohl darin aufbewahren könnten. Dann kamen die Hühner, die es erst neugierig betrachteten, dann auf das Dach flogen und von droben zeterten, dass man gar nicht hinein könne um Eier hineinzulegen. Tejo, der Skyterrier, ein richtiger Berliner und Hans Dampf in allen Gassen, verscheuchte das Hühnervolk, um seinerseits das Haus zu prüfen ob es zum Beziehen als Hundehütte geeignet sei. Aber er musste hupfen, um bloß mit der Nase am Ausschlupfloch zu riechen. Das war ihm zu unbequem. Er zog wieder ab. Natürlich bewunderten auch meine Freunde das Häuschen und sie prophezeiten düster, dass eine angolanische Biene nie in eine ordinäre Margarinekiste einziehen würde. Aber sie behielten nicht recht.
Als sich die allgemeine Neugierde gelegt hatte und mein Bienenhaus vergessen und still unter dem Häuptlingsbaum stand, zog ein Schwarm ein.
Stolz lungerte ich nun immer um mein Bienenhaus herum, das wilde kleine Volk beim Ein- und Ausfliegen beobachtend. Ich blieb jedoch in respektvoller Entfernung, denn die Bienen stachen. Eine Weile wartete ich, bis sie sich eingerichtet und alles trocken gewohnt hatten, aber dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste wissen, was sie darin trieben.
Frühmorgens, als das Volk ausgeflogen war, versuchte ich das Häuschen zu öffnen, aber sie hatten die Tür fest und gründlich mit Wachs verklebt. Ebenso alle Ritzen und das Einschlupfloch. Sie flogen durch einen Spalt ein und aus, der durch die Hitze aufgesprungen war. Durch diesen Spalt lugte ich vorsichtig und sah, dass sie wohl die Waben in meine Rahmen eingebaut hatten, aber so schief und krumm, dass man diesen gar nicht herausziehen konnte. Es war also noch nichts mit unserem Eigenbauhonig auf dem Tisch, denn die Waben enthielten vorläufig noch Brut und keinen Honig. Ich störte also die Bienenkinderstube nicht und wartete wieder eine Weile, so geduldig wie es mir eben möglich war.
Endlich glaub­te ich, nun hätte ich sie lange genug in Ruhe gelassen. Diesmal öffnete ich die Tür mit Gewalt und nahm die unordentlich in die Rähmchen eingebauten Waben heraus. Das war eine schwierige Geschichte, trotzdem ich mich abenteuerlich genug heraus staffiert hatte. Ich hatte Tropenhelm und Handschuhe an, einen fußlangen Regenmantel und oben drüber, vom Hut an über den ganzen Körper, hatte ich das Moskitonetz aus meinem Bett befestigen lassen. Es wallte an mir herab und bildete eine lange Schleppe. Wie ein richtiges Gespenst war ich an zusehen.
Es ging auch erst alles ganz gut. Die Bienen schienen sich vor dem Gespenst zu fürchten. Als ich aber die Rähmchen halb heraus hatte und sie fluchend betrachtete, denn die kleinen Biester hatten den halben Honig wieder aufgefressen, da hatte es sich wohl herumgesprochen, dass ein Räuber das Bienenhaus plündere. Von allen Seiten stießen sie in zornigem Sturzflug auf mich herab, es brummte und dröhnte in den Ohren. Ich konnte nicht einmal richtig gucken, denn sie setzten sich auf meinen Schleier und die frechsten krochen mir unten unter der Schleppe an die Beine. Ich fing an zu hüpfen, hielt den Korb mit den eroberten Waben krampfhaft fest und trat vorsichtig den Rückzug an. Das war schwierig genug, denn ich trat dauernd auf meine Schleppe, als ich in Eile versuchte, unter das Dach zu kommen, um die infam stechenden Viecher aus meiner Hose herauszuschütteln. Nickel stand in der Tür und hielt sich die Seiten vor Lachen.
Aber die Wut des Volkes, die sich an meiner Gespenstergestalt nicht gesättigt hatte, war geschürt. Sie brauchte ein Opfer. Das nächste war Tejo. Der vorwitzige Kerl, der Süßigkeiten leidenschaftlich liebte, war schon immer um das süß riechende Häuschen herum gestrichen, hatte aber nicht hinein gekonnt. Nun stand es offen und das Lachen seines Herrn reizte ihn wohl zur Tollkühnheit. Auf sein dickes, langhaariges Fell vertrauend, kletterte er am Häuschen hoch und steckte die Nase hinein. Im Nu fuhr er mit furchtbarem Geheul zurück. Eine ganze Schar hatte sich, nicht nur auf der Nase, sondern auch auf seinen Scheitel, der das ganze Fell auf dem Rücken teilte, festgesetzt und in hellem Zorn darauf los gestochen. Wie toll raste er über den Hof, hüpfte wie ein Gummiball, kreiselte um sich selbst, verzweifelt jammernd, wälzte sich schließlich im Aschenhaufen und wühlte sich in seinem Schmerz hinein, bis er unkenntlich war vor grauem Puder.
Gleichzeitig hatte sich noch ein zweites Opfer eingefunden. Ein Nachbar, glücklicher Besitzer eines Leichtmotorrads, war durch die Kaffeekulturen unbemerkt herangekommen. Gerade bog er auf unseren Hof ein. Unverhoffter Besuch, eine Riesenfreude fürs ganze Haus. Aber die auf gestörten Bienen dachten anders. Der ganze Schwarm fiel über den Ahnungslosen her, der mit offenem Hemd und nackten Armen völlig hilflos war. In blindem Schrecken gab er Gas, wendete in halsbrecherischem Tempo und brauste wieder davon, als sei der Teufel hinter ihm her.
Nickel, der schon ganz schwach vor Lachen war, wurde ernst; ein Besuch, der vom Hof gegrault wurde, das war für den Pflanzer ein Grund zum Jammern, eine unmögliche Sache.
Indessen hatte ich meinen kleinen Raub in aller Ruhe betrachtet. Es war ein ganz schönes Stück Wabe, mit duftendem, sauberem Honig darin.
Nun kam das nächste Kapitel meiner Imkerkünste. Ich hatte bereits eine Honigschleudermaschine erfunden. In unserem Milchhaus baute ich die Milchzentrifuge als Honigschleuder um, in dem ich die sich drehenden Teile innen durch einen Topf ersetzte und die Waben in ein Drahtgestell hinein hängte. Dann setzte ich, im stolzen Bewusstsein meiner Erfinderkünste, das Ding in Gang. Das Resultat war verblüffend, der Honig kam heraus und wie. Er preschte mit Vehemenz im Topf hoch und versprühte von dessen Rand aus nach allen Seiten, so dass mein Bauch mit Honig gebadet war, ehe ich den Gewalten, die ich gerufen hatte, Einhalt gebieten konnte.
Da klebte er auf mir, an der Wand und am Boden, der kostbare Bienenfleiß! Ich war nur froh, dass weder ein Weißer, noch ein Schwarzer dieser Vorstellung beigewohnt hatte. Ich kratzte in aller Stille meine süße Ernte überall ab. Dann brütete ich eine neue Erfindung aus.
Ich steckte die Wabe an einen Siebeinsatz und band ihn an einen sehr langen Strick. Dann ging ich damit auf den Hof, wo inzwischen wieder Frieden und Ruhe eingetreten war. Ich begann den Strick mit seinem Anhängsel im Kreise um mich herum zu schwenken, dass es nur so summte.
Zuerst machte es Spaß, aber, je mehr mein Karussell in Schwung kam, desto rasender lief mir der Schweiß herunter. Es war ein Wahnsinn in dieser Treibhaustemperatur so gewaltsame Gymnastik zu machen.
Bald war ich so kreiselig und erschöpft, dass ich aufhören musste. Immerhin, es hatte geholfen, aber der geschleuderte Ertrag war zu klein, gemessen an dem Kraftaufwand, den er gekostet hatte.
Ich wusch mich kalt ab, wobei der Schwamm immer langsamer arbeitete, den ich brütete etwas Neues aus. Der Schauplatz für die nächste Erfindung war das Küchenhaus. Ich ließ den Herd anheizen und legte die Waben über einen tiefen Topf. Darüber kam ein Gazeschleier. Der schwarze Koch sah mir interessiert zu.
Es ging! Ja es ging - und wie! Kaum hatte ich mir in Ruhe eine Zigarette gedreht, da war es schon geschehen. Das Wabenwachs war ganz verschmolzen und in den dünn gewordenen Honig hinein gesickert, Wachs und Honig waren untrennbarer vermählt denn je.
Ich juckte meine brennenden Beine und tröstete mich damit, dass es nur ein Temperaturfehler gewesen sein musste, den ich begangen hatte. Dann probierte ich solange, bis ich den richtigen Schnelligkeits- und Wärmegrad herausgefunden hatte.
Es kostete viel Geduld und Schweiß, denn ich war es nicht gewohnt, an solch einem heißen Tag auch noch am Kochherd zu stehen.
Immerhin konnte ich nun in unserem winzigsten Zuckernapf meinen klaren Eigenbauhonig auf den Abendbrottisch bringen. Gekostet hatte mich diese Arbeit den ganzen Tag. Er wurde sehr gelobt. Er wurde so sehr gelobt, dass ich schließlich genug davon bekam.
Von nun an gab ich den Imkerberuf auf und überließ es den Schwarzen, mit ihren wilden Bienen fertig zu werden und ihre Stöcke auszuplündern. Es kostete zwar jedes mal wieder eine Hand voll Salz, aber diesen Honig schleuderte ich nun mit Sachkenntnis und wir brauchten nun keine Ungezieferleichen mehr mitzuessen.
Ich war immerhin einen Schritt weiter gekommen um ein richtiger Pflanzer zu werden.
Das zweite Grab
Einen weißen Mann auf unserer Pflanzung habe ich noch nicht erwähnt. Aus gutem Grund, denn ich hatte in meinem Freund, dem Hauptmann, den „verkafferten alten Tropenhasen“ kennen gelernt, wie er sein soll. Raubeinig, romantisch, menschenfeindlich, ritterlich und zuverlässig, ein bisschen verwahrlost, aber nur äußerlich. Wohingegen der alte Sauter in unserer Siedlung zwar auch ein verkafferter alter Tropenhase war, aber so, wie er nicht sein sollte, nämlich nicht nur äußerlich verwahrlost. Dass wir das trübselige Bild eines Verkafferten vom ersten Buschtage an immer vor Augen hatten, war nicht erfreulich für uns.
Wir hatten den alten Sauter als Inventar der Pflanzung mit übernommen und die Verpflichtung, ihm lebenslängliche Wohn- und Kostrechte zu gewähren. Unser Vorgänger hatte ihn bei sich auf­genommen und er hauste in einem kleinen Hofgebäude ganz allein, bruzzelte sich geheimnisvolle Mahlzeiten, handelte mit den Schwarzen und redete mit keinem weißen Mann je ein Wort.
Einst sollte er voll großartiger Geschichten gesteckt haben und ein ausgezeichneter Kenner Angolas gewesen sein. Wir merkten nichts mehr von alle dem. Er sah, mit seinen nach verschiedenen Richtungen einzeln hochstehenden Haarbüscheln aus, wie ein seltsamer Buschvogel, der dem Rupfen im letzten Augenblick entronnen ist. Er war aus­getrocknet von Fieber und Hitze und von vergangenen Leidenschaften. Über den Augenbrauen hatte er zwei dicke Wülste, wie jemand, der leicht grollt. Wenn er hinten über den Hof ging, sah er aus wie ein Taschenmesser, des nicht richtig aufgemacht ist, weil er so dünn war und weil er sich so gebeugt hielt. Sein Anzug ähnelte dem mancher Neger bedenklich. Er war voller Risse und franste an den Enden aus. Nichts was er trug hatte mehr eine richtige Farbe. Ich weiß nicht, ob er sich manchmal rasierte, jedenfalls war sein Gesicht voller grauer Stoppeln, die sich nie zu einem richtigen Bart aus wuchsen. Vielleicht reichte dazu seine Vitalität nicht mehr aus.
Wir bekamen es nie ganz heraus, ob unsere Schwarzen den Alten fürchteten oder sich über ihn lustig machten; ich glaube beides. Alles in allem war er wie ein wandelnder Prestigeverlust der weißen Rasse und für uns ein abschreckendes Menetekel: Lass dich nicht so unterkriegen vom afrikanischen Busch!
Er kam nie zu uns herüber, machte immer einen Bogen um unser Wohnhaus und wir respektierten seine Wünsche und betraten auch sein Haus nicht. Wir schickten ihm durch Schwarze das Essen hinüber, wenn er seine Fieberanfälle oder seine schlechten Tage hatte. Unsere Boys berichteten, dass er dann von morgens bis abends auf seinem Lager läge, das man nicht ein Bett nennen konnte und starr an die Decke sah, wie ein Gefangener in seiner Zelle, der auf das Todesurteil wartet.
Er ging allem, was weiß war so sorgfältig aus dem Wege, wie ein scheues Tier in der Wildnis. Und wenn wir nicht durch unsere Schwarzen immer über ihn informiert gewesen wären, dann hätte er gestorben sein können, in seiner Höhle, ohne dass wir es ahnten.
Er schätzte es auch nicht, wenn man an seiner verfallenen Hütte zu dicht vorbei kam oder in das spinnwebverklebte Fenster sah. Wir taten überhaupt alles, um ihm nicht zu missfallen. Wir hatten ein Art von Respekt vor ihm, trotz seines unsauberen Äußeren. Es war wie ein Schauer vor dem Gespenst der eigenen Zukunft.
Ich glaube, dass ich mich auch in meinen schwärzesten Buschtagen, wenn das Leben mir überhaupt keinen Spaß machte, täglich rasierte. Dies hatte ich dem alten Sauter zu danken, dessen Anblick zu abschreckend war, um in seine Fußstapfen zu treten.
Die erste Zeit war es uns immer peinlich, ihm zu begegnen. Wir hatten so etwas wie ein schlechtes Gewissen vor ihm, weil wir frisch gewaschen und mit gebügelten Hemden einher gingen. Wenn man ihm im Busch unversehens gegenüber stand, was auf den schmalen Pads leicht passieren konnte, fuhr man zusammen wie vor einem bösen Omen.
Mit der Zeit hatte wir uns aber an ihn gewöhnt, gerade so wie Ohani, der lange Zeit die Gewohnheit hatte, von seinem Dach zu trompeten, wenn der Alte auf dem Hof auftauchte. Dies tat er sonst nur, wenn ein Fremder kam. Wir ließen ihm seine Ruhe und übersahen ihn schließlich genau so diskret, wie er uns.
Um so erstaunter waren wir, als er mich eines Tages zu sich rufen ließ, weil er krank war. Wir alle auf der Pflanzung waren Krankheit gewöhnt, die Malaria gehörte zu den ständigen Hausübeln und dass der Alte eigentlich immer am Fieber litt, wussten wir wohl. Er hatte noch niemals Hilfe haben wollen, auch niemals Medikamente von uns holen lassen. Und als Medizinmann glaube ich, verachtete er mich. Immer hatte ich bei meiner morgentlichen Ordination auf dem Hof ein kribbelndes Unbehagen im Nacken, wenn ich glaubte, Sauter schaue mir aus dem Hüttenfenster zu. Ob er eigentlich Atebrin und Chinin schluckte, was jeder weiße Sterbliche im Busch tut, wussten wir nicht. Es hätte ihm ähnlich gesehen, lieber, wie manche Neger, langsam zu krepieren. Aber vielleicht überschätzten wir darin seine Lebensverachtung. Er war undurchschaubar, wie viele Geschöpfe des dunklen Erdteiles.
Ein bisschen Herzklopfen hatte ich, als ich in den dunklen Eingang der Hütte trat, deren Inneres ich noch niemals gesehen hatte. Es war wie eine Erinnerung an die Vorstellungen vom Hexenhäuschen aus meiner Kinderzeit. Unwillkürlich erwartete ich, dass mir Skalpe von den Wänden entgegen grinsen und ausgestopfte Schakale das Bett bewachen würden.
Aber kaum war ich über die Schwelle des dumpfigen Zimmers gestolpert, da vergaß ich alles Andere, denn ich spürte, wie ernst es um den Alten stand. Ich brauchte nicht ein wirklicher Arzt zu sein, um das Ende, das hier in der Luft hing, nahen zu sehen. Das sagte mir der Geruch nach kaltem Fieberschweiß, die spitzig gewordene Nase des Kranken, der seltsame Blick seiner ausgebrannten Augen, die ganz woanders hin sahen, als in dieses Zimmer. Das sagten mir seine Hände, die auf dem speckigen alten Woilach hin und her tasteten, der ihm die Bettdecke ersetzte. Sein Atem ging mühsam, er sagte gurgelnd etwas, das ich nicht verstand und ich setzte mich am Bett nieder und saß da, wie ein Wächter, der auf etwas wartet, das er nicht verhindern kann, das kommen muss.
Meine Taschenapotheke, die ich in der Hand hielt, wie es sich für einen Medizinmann ziemt, war mir im Wege und ich legte die Hände darüber. Sollte ich ihm Morphium geben? Er deutete mir nicht an, dass er Schmerzen habe. Die Zeit verrann. Der Hausboy hatte uns längst allein gelassen. Ich tat nichts, als ab und zu an der blakenden Lampe zu schrauben. In dem unruhigen, rötlichen Licht sah die wüste Behausung mit dem stummen Kranken seltsam unwirklich aus. Und dieses Gefühl der Unwirklichkeit ließ mich in einen Wachschlaf des Abwartens versinken. Keine Uhr tickte, aber ein Heimchen, das gerade hinter der Bettwand hausen musste, zirpte hin und wieder, als ob es die Stunden zählte. Ohne das ich es mir klar machte, hatte ich begriffen, dass ich mit dem Alten zusammen warten solle, bis der Tod kam.
Es mochte Mitternacht sein, als mein Freund Nickel kam, um mich zu holen. Der leise Gruß, den er sagen wollte, blieb ihm im Hals stecken, als er hereinkam. Auch er sah, wie es stand. Wir machten dem Kranken ein paar kleine Hilfsleistungen, wie man sie aus Verlegenheit für einen tut, dem man doch nichts helfen kann. Es war, als sei es gar nicht mehr der alte Sauter, der da lag, sondern ein Fremder, der ab und zu aus seinem anderen Land mühsam zu uns kam, uns etwas undefinierbares zu murmelte und uns dann wieder entglitt.
Wir lösten uns in dieser Nacht bei ihm ab, aber am anderen Tag war es immer noch das Selbe. Der Kampf dauerte noch lange. Wir wollten ihn nicht mit einem Schwarzen allein lassen, nun, da er uns das erste Mal hatte rufen lassen, war er auch das erste Mal ein weißer Mann für uns geworden.
Es wurde noch eine lange zweite Nacht. Erst im Morgengrauen verließ ihn der Atem. Nickel und ich, wir waren beide bei ihm. Als es vorüber war, flüchteten wir aus der Hütte des Kranken, hinaus in die frische Luft. Es war nicht der Tod, der uns verjagt hatte, es war der furchtbare Geruch im Zimmer, der uns schon seit zwei Tagen halb krank gemacht hatte. Wir hatten, da der Kranke hilflos war, nicht gewagt, sein Verbot zu durchbrechen und die Fenster zu öffnen, was er all die Jahre nicht getan hatte. Es wäre auch nur schwer möglich gewesen, den das Fenster war völlig verquollen und eingerostet. Unsere Nerven hatten standgehalten, bis zum letzten Moment, aber nun war es aus damit.
Ich war geradezu dankbar, für die Arbeit draußen im Freien, die ich nun bekam. Ich hatte noch nie im Leben ein Grab gegraben, aber es widerstrebte mir, diese Arbeit einem Schwarzen zu überlassen. Zudem hatten wir unsere Leute in alle Winde mit Mokandas hinaus schicken müssen, um die Nachbarn zum Begräbnis zu laden. Wir konnten den Toten nicht lange liegen lassen. Es war die heißeste Zeit des Jahres.
Nach der Anspannung der letzten Tage, in der dumpfen Krankenzimmerluft, war es nicht schlecht für mich, die Muskeln richtig auszuarbeiten. Dies war eine traurige Arbeit, aber es war doch eine richtige Männerarbeit. Ich glaube, die erste in meinem ganzen Buschleben und ich konnte sie mit reinem Gewissen tun; sie war auch eines weißen Mannes würdig. Indes ich grub und die Schollen auf warf, wanderten meine Gedanken. Ich dachte, ob ich wohl auch auf der Pflanzung sterben und ob wohl auch ein weißer Mann mir mein Grab schaufeln würde? Vor allem aber dachte ich, ob der Alte so einen einsamen Tod verdient habe. War es nicht jedermanns Sache, was er mit seinem Leben beginnt. So sein Dasein zu verbringen, von Fieber und Hitze langsam ausgedörrt, abgeschlossen von dem pulsenden Leben der Welt, einer, der draußen nicht mehr mitspielt. Bloß ein winziger weißer Krabbelkäfer, auf diesem ungeheuren Erdteil, der einfach alles auf schluckt, den Menschen und sein Werk.
Sollte ich auf alles verzichten, was daheim den Inhalt des Lebens ausmacht: Liebe, Freundschaft, Familie, Feste, Kunst, Wissenschaft? Alles, was man hier hat ist eine bedingte Freiheit, die man vor Einsamkeit nicht recht genießen kann. Und am Ende sich ein scharren lassen, wie ein Tier in der Wildnis? War der Alte auch wie ein Mensch gestorben, wie ein aufrechter sogar, gelebt hatte er doch nicht wie ein richtiger Mensch. Wenn er auch der „alte Afrikaner“ war, der im Umkreis am Meisten verkaffert war, richtig drin im Leben waren auch die anderen nicht.
Es kam mir immer vor, als lebten die Pflanzer am Rande und begnügten sich mit einem Ersatz für das wirkliche Leben. Das bisschen Europaurlaub, das sie ab und zu genossen, war wie das Nippen an einem Becher, der doch nicht für sie gefüllt war, sondern nur geliehen. Alles Gute, was sie hier hatten, die unberührte Natur, die Tiere, den Besitz, all das war nicht das, was ich bei mir „das richtige Leben“ nannte.
Mit jeder Scholle, die ich auswarf, kam ich näher auf den Grund meiner Gedanken. Ich wollte hier raus. Ich wollte nicht für alle Zeit abseits von der Gemeinsamkeit leben, die ich daheim haben konnte. Ich wollte mitten drin sein, in all den kleinen Lebensfreuden, wenn auch als unbekannter Mann und unbedeutender Steuerzahler, einer von vielen.
Ich sah, dass ich nicht genug Eigenbrötler war, um ein Held der Wildnis zu werden. Lieber wollte ich ein normaler Mensch unter normalen Weißen sein. Was ich hier tat, das war ein hin Wursteln ohne Ziel geworden, weil die Initiative nicht bei mir lag. Ich konnte mich eigentlich immer nur wehren, um überhaupt oben zu bleiben. Ein wirkliches „Oben“ gab es aber gar nicht, in diesen schwierigen Zeiten für den Pflanzer.
So sollte es nicht bleiben! Ich wollte noch ein oder zwei Jahre aushalten, bis meine Freunde sich ganz eingelebt hätten, damit ich nicht wieder heim liefe, wie ein Feigling und ein Gestrandeter.
Das Abenteuer hier sollte ein Abenteuer bleiben und kein Lebensschicksal werden. Es war vorbei mit meinem Ehrgeiz, ein „alter Afrikaner“, wie er im Buche des Lebens steht, zu werden und als solcher einst in die Grube zu fahren. Ehe dies geschähe, wollte ich erst einmal leben - und zwar draußen leben, mitten drin.
Es hatte mich richtig gepackt. Mir war, als müsse ich die Schaufel hinwerfen und das nächste Schiff nehmen, weil ich drüben etwas versäumen könnte. Mir war, als ob ringsum im Busch das Fieber auf mich lauere, um mich auch zur Strecke zu bringen.
Als das Grab fertig war, die Sonne war im Sinken und es war gerade die Stunde, da ich sonst hinausging um den weiten Blick über die Hügel beim Sonnenuntergang zu genießen, da war ich ruhiger geworden. Das Leben und die Liebe würde mir nicht weglaufen. Ich war jung genug, um drüben von vorne anzufangen. Ich konnte ja arbeiten und wer wirklich arbeiten kann, der kommt schon nach oben. In Europa, dort darf man wenigstens, hier darf man ja nicht, in diesem seltsamen Land.
Es kamen viele Nachbarn zum Begräbnis, ich hatte noch niemals so viele Pflanzer bei einander gesehen. Es war ein eigener Eindruck, sie alle mit einander am Grabe stehen zu sehen mit ihren gelblichen, herben und gefurchten Gesichtern, in denen kein überflüssiges Fleisch die Züge milderte, in ihren Tropenhüten, die sie einander so ähnlich machten. Man sah ihnen an, was sie dachten: Dass auch sie einmal auf ihrer Pflanzung begraben werden würden, mit einem Vaterunser, ohne Gottesdienst, aber doch auf eigenem Boden, mitten drin in Allem, was sie in geduldiger Lebensarbeit gepflanzt und aufgebaut hatten. Sie waren ziemlich ruhig bei diesem Gedanken. Ich konnte sie nicht ganz verstehen, trotzdem ich sie bewunderte. Ich wollte nicht auf dieser Pflanzung begraben sein.
Der Zauber am Fluss
Ich war in mehreren Jahren Buschleben doch noch so etwas wie ein richtiger „alter Afrikaner“ geworden. Malaria nahm ich nicht viel ernster, als einen schlimmen Schnupfen. Ich fluchte perfekt in portugiesisch, beherrschte die wichtigsten Umbundu-Redewendungen, ging nie zu Bett, ohne hinein und darunter geschaut zu haben, ob sich keine Schlange ein logiert hatte, im Busch trat oder fasste ich nirgendwo hin, ohne erst nach roten Ameisen, Schlangen oder Skorpionen Ausschau gehalten zu haben. Ich zog bei Sonnenuntergang eine Jacke über. Ich aß bitteres Mehl, nicht mehr frisches Fleisch, Honigwaben mit kleinem Geziefer, Reis mit Maden ohne Murren, fluchte aber gewaltig, wenn der Kaffee um eine halbe Minute zu lang oder zu kurz geröstet war.
Nur in einem Punkt war ich kein Buschmann geworden. Die Untätigkeit war mir nach wie vor eine Plage. Ich konnte es nicht lernen, ein bisschen herum zu schlendern und zu beaufsichtigen als Arbeit anzusehen. Immer noch zuckte es mir in den Fingern, selbst mit an zupacken. Damit war es sogar mit der Zeit eher schlimmer als besser geworden.
Hungernd nach Taten strolchte ich den halben Tag in Savanne, Moor und Busch herum. Nach der langen, tatenlosen Regenzeit sah ich so blass aus, wie einer, der eine unglückliche Liebe hat. Dann nahm ich meine Streifzüge mit doppelter Leidenschaft wieder auf.
Ich hatte schon die ganze Landschaft in unserer Umgebung bis ins Kleinste durch forscht, nur in einen Teil war ich noch nie gekommen. Das war das Bachtal zu Füßen des Berges, auf dem unsere Fazenda lag. Dieses Tal war zu nah bei uns, als das es meine Forscherlust gereizt hätte. Außerdem war der Bach an dieser Stelle tabu. Dort, an der Biegung, wo einst ein alter Weg mit Brücke gewesen sein sollte, war ein böser Zauber, der jedermann das Tal meiden lies. Die kleine Brücke, die etwas oberhalb der Biegung über den Bach führte, war auch bequemer, da sie am neuen Weg lag. Hinter dieser Biegung war das Tal eine undurchdringliche Wildnis gewor­den, weil es ganz unbegangen war.
Einer unserer Schwarzen hatte mir den Grund dieses Tabus erklärt: Eine große Schlange, die eigentlich ein Dämon mit böser Zauberkraft sei, solle im Bach hausen und jede junge Ziege und jedes Huhn oder was sich sonst hier her verlaufen hatte, verschwinden lassen. Es sollte auch ein Kind aus dem Kimbu beim Baden abhanden gekommen sein, unter den Augen der Mutter, die beim Waschen war. Bei dieser eindringlich geflüsterten Erzählung deutete mir der Neger mit weit ausholenden Gesten ein baumlanges Ungeheuer an.
Sooft ich auch an dem dichten Gestrüpp des kleinen Tales vorüber kam und den Bachlauf mit den Augen zu verfolgen suchte, immer herrschte dort vollkommene Stille. Niemals sah ich eine der gewohnten schwarzen Silhouetten beim Jagen, Fischen, Fallen stellen oder Holz machen, wie man sie sonst fast überall am Bachbett traf. Das Wasser ist den Eingeborenen eine Lebensader, wie den Tieren des Busches. Sie lieben es, auch dort zu hocken, selbst wenn sie dort nichts zu tun haben. Sie sehen dann den Tieren beim Trinken zu oder schwatzen miteinander.
Bisher war ich nicht darauf gekommen, mich durch das Dickicht zum Bach vor zuarbeiten, denn das Gestrüpp war zu dicht. Aber ich blieb manchmal stehen und spähte durch die Büsche hinab. Wild­tauben, Libellen und Eidechsen schienen die einzigen Lebewesen hier zu sein. Der Bach floss träge und dunkel unter dem frei gespülten Wurzelwerk, das wie Mangroven wirkte und sich ab und zu die Äste über ihm zureichte. Hie und da blitzten goldene Lichter auf dem Wasserspiegel, aber ich sah keine Fische springen. Deshalb hatte es mich bisher an dieser Stelle nicht zum Angeln gereizt. Ich fand, dass der Bach still und harmlos aussehe. Buschaberglaube ist ein merkwürdiges Ding. Eines Tages beschloss ich, ihn mir zu Nutze zu machen. Mir kam eine Erleuchtung: Hier war ja endlich die Stelle, wo ich allein sein konnte und alles tun und treiben, was ich wollte. Ganz so frei und unbeobachtet würde ich sein, wie ein weißer Mann im weiten Umkreis einer Pflanzung und eines Kimbu es sonst niemals ist!
Der Gedanke faszinierte mich. Ich hatte mein eigenes Reich gefunden, hier würde ich nun in aller Heimlichkeit und Ruhe das tun, wobei mich keiner ertappen durfte: arbeiten! Richtig mit beiden Händen schuften, bis alle Knochen im Körper knackten, so, wie ich es seit meiner Einwanderung nicht mehr getan hatte. Aber ich wollte nicht arbeiten, bloß um in einen gesunden Schweiß zu geraten, ich wollte ein richtiges Werk zustande bringen, etwas ganz Großartiges, das sich in meinem Kopf schon zu formen begann. Etwas, wovon die, die nach mir kämen, noch profitieren würden. Da sollten sie mal sehen, wo sie blieben, diese Schwarzen mit ihrem kindischen Aberglauben. Hier musste bloß mal ein vernünftiger Großer kommen und Hand anlegen. Ich würde den Bach umleiten, in ein neues Bett, ihn an der schmälsten Talstelle stauen und dort einen Teich anlegen, worin ich Welse und Barsche aussetzen würde. Er würde auch ein Reservoir für die trockene Zeit sein, würde seltenes Wild zum Trinken heran locken und vielleicht würde ich ein Kanu bauen und von hier aus auf die Pirsch nach dem sagenhaften Chipekwe37 wieder aufnehmen, die ich hatte aufgeben müssen.
Am anderen Morgen hatte ich kaum die Geduld, meinen Medizinmannpflichten ordentlich nachzukommen. Kaum war ich fertig, so holte ich mir möglichst verstohlen Axt und Spaten und verdrückte mich durch den Garten. Unser kluger Ohani, der mich noch nie mit solchem Arbeits­werkzeug gesehen hatte, kam ganz aus dem Konzept über diesen Anblick und rief seinen Wächterruf vom Dach herunter, als ob ein Fremder in Sicht gekommen wäre. Rasch nahm ich hinter den Apfelsinenbäumen Deckung. Ich wollte meinen Mitbewohnern erst später das fertige Werk präsentieren.
Der Morgen war fein, im Schatten hing noch alles voll von blankem Tau, die Bienen tobten in den violetten Blütenkelchen der Bougainvillen, eine frische Schlangenhaut, die einer Otter erst heute Nacht ausgezogen haben mochte, hing in dem Rankwerk. Ich nahm sie mit, sie sollte mir Glück bringen.
Ich ging durch die Bananenpflanzung und sah zu den gelbenden Früchten auf, ohne mir heute Gedanken über diese Sorgenkinder auf unserer Höhe zu machen. Sie brachten nichts ein, wegen der Transportnöte, wir aßen sie also selbst auf.
Dann kam der Nesperashain38, wo die gelben Fruchtträubchen allenthalben wie Christbaumschmuck an den Zweigen baumelten. Ich nahm mir nicht wie sonst die Zeit, ein paar ab zurupfen, so heraus­fordernd sie mir auch an den Helm klopften. Nun ging es abwärts, durch dichtes Gestrüpp. Ich musste scharf nach Schlagen Ausschau halten, denn der wüste Hang war gerade das rechte Gelände für ihren Tagschlaf.
Je weiter abwärts ich kam, desto mehr musste ich die Katana zu Hilfe nehmen. Ich bahnte mir einen guten Weg, den ich wollte ja nun täglich hier her gehen.
Tauben gingen mit klatschendem Flügelschlag und ärgerlichem Gurren über mir hoch, mächtige Spinnnetze versuchten mir den Weg zu verwehren, hie und da raschelte etwas vor mir im dürren Laub davon. Ich sah nur ein Stück glänzenden, schwarzen Leib oder ein smaragdgrünes Schwänzchen. Die Gräser neigten sich noch lange in fortlaufender Bewegung und verrieten das davon huschende Lebewesen.
Als ich im Tal anlangte, war ich schon feucht unter dem Tropenhut und zerkratzt an den Armen und in dem Gesicht, als ob ich schon mit dem Zauber ein kleines Scharmützel gehabt hätte.
Der Bach war vor Buschwerk nicht zu sehen, aber am kühlen Hauch, der herauf kam, spürte ich, dass er ganz nah war. Nach kurzem Kampf mit mir entgegen schnellenden Kolben und Schilf war ich am Wasser angelangt.
Auf dem hohen Ufer hockte ich mich auf die Fersen nieder, wie ein Buschmann, ohne mit einem anderen Köperteil den unbekannten Boden zu berühren. Ich wollte nicht alle neugierigen Bewohner des Sumpfbodens zu einem Forschungsgang unter meine Kleider verlocken. Von hier konnte ich das Gelände übersehen und meinen Plan machen. Diese hohe Böschung musste die Stelle sein, wo die alte Brücke gewesen war. Ich sah es an dem aufgeschütteten Ufergelände. Weiter abwärts, wo der Bach eine sanfte Windung machte, war eine ganze Reihe gerader junger Bäumchen gewachsen, gerade wie ich sie gebrauchen konnte. Ich turnte mit meinem Werkzeug an den tief ins Wasser hängenden Uferbüschen entlang und ging ohne Zögern ans Werk.
Hei, wie die Axt ins Holz zischte, wie es sang und ächzte im Stamm, wie er schließlich umknickte, wie ein riesiges Streichholz und mit prasselnden Ästen zu Boden sank! So eine richtige Holz­fällerarbeit hatte ich noch nie getan. Ich schlug mit solcher Inbrunst darauf los, als wäre ich mein Leben lang Holzhacker gewesen. Das schien mir heute der schönste Beruf der Welt und ich hätte mit keinem König tauschen mögen, wie es auch in meinen eingerosteten Knochen knackte und wie es mir beim raschen Bücken auch vor den Augen flimmerte. Am liebsten hätte ich laut gesungen. Nicht die Ehrfurcht vor dem verzauberten Ort, sondern nur mein hastiger Atem hielt mich davon ab. Ich keuchte, schwitzte, schlug Astwerk ab, schleppte Haufen zusammen und es troff mir von der Stirn bei dieser richtigen Männerarbeit. Ich nahm mir gleich vor, wenn ich fertig wäre, auch die Stümpfe noch zu roden. Mir war wohl. Seit langer, langer Zeit war mir nicht so wohl gewesen. Ich fühlte, dass ich das Pflanzerleben zu schätzen anfing. Dies war doch was anderes, als Schwarze zu zählen, zu rechnen, zu kalkulieren, Säcke zu notieren, herumzustehen und aufzupassen.
So trieb nun Tag für Tag meine heimlichen Freuden am verzauberten Bach und kam todmüde, hungrig und zufrieden zum Essen nach Hause. Den anderen verriet ich nur, dass ich mir einen neuen Fischgrund zurechtrodete. Ich wollte mir die Überraschung aufsparen. Meine Freunde schmunzelten zu meiner neuen Marotte und ließen mir mein Vergnügen. Sie waren wohl erleichtert, endlich wieder einen gemütlichen Tischgenossen an mir zu haben. Meine Gereiztheit und Streitlust bei den harmlosesten Disputen hatte mich schon seit längerer Zeit zu einem wenig erfreulichen Gesprächs­partner gemacht. Ich hatte mir angewöhnt, in abstrakten Dingen sehr leicht in den Harnisch zu geraten, weil es mir an körperlichen Kraftübungen fehlte.
Meine Arbeit am Staudamm schritt so gut voran, wie es nur eben möglich ist, wenn ein einzelner Mann eine so große Sache in Angriff nimmt. Die ganze Baumreihe hatte ich schon geschlagen, die Stämme lagen ordentlich geschichtet an der Stelle am Bachbett, wo sie meinem Damm den inneren Halt geben sollten. Aus dem Reisig hatte ich ein festes Flechtwerk gemacht, nun war ich dabei dem Bach ein zweites Bett zu graben, was keine kleine Mühe war, da der Boden mit Wurzeln durchsetzt war und meinem Spaten zähen Widerstand leistete. Ich ließ aber nicht locker. Ein bisschen Widerspenstigkeit war mir gerade recht und manchmal erwischte ich mich dabei, dass ich mit dem Boden und dem Bach redete, wie mit einem ebenbürtigen Gegner.
Ich war magerer und sehniger geworden, hatte Schwielen in den Händen und richtige Schwer­arbeiter­muskeln bekommen. Bronzebraun war ich, wie ein Indianer, dass heißt, eigentlich mehr rotbraun. Ich glaube sogar mein Gang wurde kräftiger und meine Stimme lauter, denn ich fühlte mich mit jedem Tag mehr als König des Tales.
Keine Menschenseele hatte mich bisher gestört. Das Flügelklatschen der Wildtauben und der Ruf des Habichts, der hoch über mir im dunklen Himmel kreiste, war das Einzige was ich hörte. Sogar meine Axtschläge, die in diesem verwunschenem Tal nicht laut hallten, schienen von dem sumpfigen Gelände aufgeschluckt zu werden.
Die Eidechsen hatten sich an mich gewöhnt und spielten auf dem Ufersand und die Libellen starrten mich nicht mehr mit ihren großen Augen an, sondern schwirrten im Zickzack rings um mich her.
Kein menschliches Wesen kam nachsehen, was die Äxtschläge am Bach zu bedeuten hätten. Wenn mir der Atem ausging, zog ich mich auf meinen zurechtgezimmerten Ruheplatz im Schatten der Büsche zurück und betrachtete grübelnd, was ich bisher zu Wege gebracht hatte. In solchen ruhigen Augenblicken hatte ich wieder das seltsame Gefühl, dass ein paar Augen mich aus dem tiefsten Dickicht ansähen. Du siehst sie nicht, aber sie folgen dir immer und überall hin. Das war ein alt­gewohntes Gefühl auf afrikanischem Boden, das eben dazu gehörte. Es hätte mir etwas gefehlt, wenn ich diesen sonderbaren Eindruck nicht gehabt hätte.
Nach ungefähr zwei Wochen war ich so weit, dass ein fast mannshoher Damm auf beiden Seiten des Tales das Bachbett abriegelte. Nun galt es nur noch, ihn zu schließen. Von oben, von der Böschung herab schaufelte ich Erde und sah schon immer das Bild meines Teiches vor mir, wie er blank und tief das Tal füllte, voller seltener großer Fische.
Ich arbeitete wilder denn je, da es nun dem Endspurt zu ging. Ich merkte gar nicht, dass die Sonne schon so tief stand, dass das jenseitige Ufer ganz im Schatten lag. Ich warf nur die Schaufel hin, um mich unten am Wasser rasch etwas abzukühlen.
Es war eine Stelle, die ich noch nicht zertrampelt hatte. Tief überhängenden Zweigen markierten den Platz, an dem ich an kam. Ich bog das Schilf zur Seite, kniete nieder und reichte mit der hohlen Hand hinab. Da fuhr ich zusammen. Ich sah direkt in ein paar rötliche Augen, die zugleich kalt und feurig, wie geschliffene Steine, glänzten. Ich starrte das Wesen an, ohne mich zu bewegen. Es starrte mich an. Das war der böse Zauber im Bach: Eine Schlange mit armdickem Leib, der glitzernd von Tropfen hie und da aus den Bachwellen herausschaute und in steter Bewegung war. Sie musste so lang wie ein Baumstamm sein. Ich konnte gar nicht sehen, wo der lange Leib endete. Hals und Kopf hatte sie aufgestellt, ihr flacher, dreieckiger Kopf sah gefährlich wie ein Drachen­schädel aus. Jetzt flirrte und funkelte er in sattem Goldton, ja die ganze Schlange war über und über golden.
Ich wusste wohl, dass Giftschlangen viel kleiner sind. Diese Pythonschlangen haben keinen Giftzahn, sondern umschlingen und ersticken ihr Opfer. Mit diesem vorgestreckten Hals und dem starren Auge hypnotisiert sie ihr Opfer. Aber ich war ja kein Kaninchen oder Rehkitz. Ein gut gezielter Spatenschlag ins Genick und sie wäre erledigt gewesen. Aber daran dachte ich gar nicht. Ich war verzaubert, gebannt. Ich tat nichts. Ich schaute so lange, bis sie sich besann und glitzernd und gleitend davonschwamm. Ich hatte meine Arbeit vergessen. Ich war Afrika begegnet, wie es wirklich ist. Sicher war dieses der verzauberte Drache, das Chipekwe, dem seit Anbeginn der Schöpfung das Tal gehörte. Ich hatte die Hände in den Schoß gelegt und mochte kein Glied mehr regen. Ich mochte die Stille ringsum nicht stören, immer wieder sah ich ins Wasser, hoffend dass sie wiederkäme. Die Zeit verrann, die Sonne sank, ich lauerte immer noch wie ein Jäger auf dem Anstand und doch nicht wie ein Jäger, ich wollte sie nicht umbringen, die goldene Zauberschlange und die Haut präpariert über das Sofa hängen, ich wollte sie bloß nocheinmal sehen, aber der Bach blieb still und leblos wie zuvor.
Mit seltsam benommenem Kopf machte ich mich auf den Heimweg. Es war das erste Mal, dass ich mich von der Dunkelheit hatte überraschen lassen. Abends, am Kamin, sah Nickel mich prüfend an: „Du hast ja einen ganz roten Kopf! Und so heiß,“, sagte er streng, „mal wieder Malaria, das kommt vom verückten Schuften, geh gleich ins Bett.“
Ich schüttelte lachend den Kopf, ich glaubte noch immer, dass es bloß das Jagdfieber von der Begegnung mit dem Zauber am Bach war.
Es war aber doch das Fieber. Aber es war keine Malaria; diesmal war es ernst. Ich hatte Schwarz­wasserfieber, an dem unsere Vorgängerin auf der Pflanzung gestorben war. Auch bei mir ging es auf Leben und Tod. Es war sicherlich ein Wunder, dass ich nicht auch daran glauben musste und als ich endlich wieder im Stande war, erinnerte ich mich an all meine Gedanken an jenem Tag, als ich das Grab des alten Sauter aushob.
Meinen Staudamm und die goldene Schlange habe ich nicht wieder gesehen. Nachdem ich lange Zeit versucht hatte, mich wieder richtig zu erholen, ohne dass es mir glücken wollte, tat ich, was einem Europäer in solchem Falle nur zu tun übrig bleibt, ich ging nach Europa zurück.
Inzwischen ist das Tal wohl wieder in sein altes Schweigen zurück gesunken. Gras und Buschwerk werden alle Spuren meiner Arbeit verschlungen haben und die Schlange wird unumschränkte Herrscherin im Bach sein.
Ich fange von vorne an
Es war gar nicht so leicht wieder herüber nach Deutschland zu kommen. Ja, es war schwieriger als die Hinfahrt, denn inzwischen war in Europa der zweite Weltkrieg ausgebrochen. Nicht dass wir im Busch nichts von seinem Entstehen gemerkt hätten, so verkaffert waren wir doch nicht. Wir verschlangen alle Zeitungen, die den Weg zu uns gefunden hatten, mit Spannung. Noch aufregender waren gelegentlich bei einem Nachbarn gehörte Radiosendungen. Ja, der gute Nachbar, der für viel Geld sein Batteriegerät wieder in Schwung gebracht hatte, schickte täglich einen kleinen Zettel mit den wichtigsten Ereignissen auf die Nachbarpflanzungen. Wir hatten alle Freunde und Verwandte in Europa, die in den Kriegswirbel hineingezogen werden konnten.
Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich bekam bei der geringsten Erregung Magenkrämpfe und Händezittern, bekam Kopfschmerz vom Denken und der Angstschweiß brach mir aus, wenn ich Entschlüsse fassen sollte. So stand es um mich. Afrika hatte ein feines Wrack aus mir gemacht und so sollte ich in Europa den Kampf mit dem Leben aufnehmen! Meine Freunde schüttelten verzweifelt den Kopf und rieten mir doch lieber zu versuchen, bei ihnen zu genesen, anstatt dieses Abenteuer auf mich zu nehmen.
Aber durch meine lange Krankheit, Malaria und Schwarzwasserfieber, die alles in allem ein halbes Jahr gedauert hatte, war ich völlig weltfremd geworden. Man hatte mir wohl erzählt, wie alles stand, aber ich war so elend, so anämisch und denkfaul, dass dies bei mir wohl nur halb angekommen war. Die Folge dieser Krankheit war eine Anämie. Man braucht Jahre, um die zerstörten roten Blutkörperchen wieder zu ersetzten. Das gelingt im tropischen Klima nur schlecht. Man muss dazu in Mitteleuropa sein, am Besten im Schwarzwald oder in den Schweizer Bergen.
Afrika hatte ein feines Wrack aus mir gemacht. Meine Freunde ratschlagten, ob ich überhaupt die Überfahrt überstand? Würden sie mich bei der Landung in Lissabon als Deutschen nicht am Ende schnappen? Würde ich überhaupt bis nach Deutschland durchkommen? Frankreich war ja auch neuerdings mit im Krieg. Würde ich in meiner hungernden Heimat nicht erst recht eingehen, anstatt kräftig zu werden? All diese Argumente hörte ich. Aber es gab keine Wahl für mich. Jeder neue Malariaanfall brachte auch die Gefahr eines erneuten Ausbruchs des Schwarzwasserfiebers mit sich. Am Schlimmsten aber war, dass die notwendigen Medikamente ausblieben. Wir hatten kein Atebrin mehr. Ich musste also um jeden Preis bis zur nächsten Regenzeit das Malariagebiet verlassen haben. Zu diesem Schluss kamen meine Freunde, so ungern sie mich auch gehen ließen.
Ich war wie ein Kind, das heim zu Mutter will, wenn ihm etwas schief gegangen ist. Dabei hatte ich schon lange keine Mutter mehr, sonst wäre ich vielleicht nicht so leicht ausgewandert. Durchlassen würden sie mich sicher. Was sollten sie mit einem Skelett von einem jungen Mann, grau blass und schwankend anfangen? Dass ich keine Kriegsverstärkung für die Deutschen gäbe lag auf der Hand. Also, ich fuhr.
Es ging alles gut. Es ging alles merkwürdig gut. In Lissabon blieb ich zwar erst einmal hängen. Aber das war nicht schlimm. Ich hatte noch Geld. (Für die Überfahrt hatte ich meine Leica-Ausrüstung verkauft.) Ich lebte in einer kleinen Pension ein inhaltsloses, geruhsames Genesenleben mit viel gutem Rotwein, Schinken und Früchten. Meist lag ich auf dem kleinen, von Klettergrün umzogenen Balkon und sah in den Himmel, der hier etwas sanfter blau, aber immer noch dunkelblau war.
Ich malte mir meine Zukunft in Deutschland aus. Ich würde Kulturfilme von all den herrlichen Barockschlössern und gotischen Domen machen, die meine Heimat in meiner Erinnerung so vertraut und schön machten. Ich würde all das aufnehmen, was es in anderen Erdteilen nicht gab, Kunst und Geschichte, Landschaft und Architektur, alles in jahrtausendelangem Wachstum miteinander verbunden, eins aus dem anderen entstanden. Vielleicht würde ich auch eine Geflügelfarm machen oder eine Obstbaumzucht, denn der Krieg, dieser Irrsinn, musste doch bald vorüber sein.
Ich konnte nicht begreifen, dass Weiße Weiße erschlagen und ihre Kinder und Frauen mit Bomben zerschmettern, anstatt einander zu helfen und zusammen zu halten. Für mich war noch jeder weiße Mann ein Freund und ein Gesprächspartner und einer, dessen Gedanken den meinen verwandt waren. Ich kannte die weiße Welt nicht mehr und ein fanatisiertes Deutschland unter einem Parteidiktator war mir unglaubhaft, obwohl ich in der Zeit vor meinem Auswandern davon bereits einen Vorgeschmack bekommen hatte.
Als es mir endlich gelang, nach Deutschland zu kommen, fand ich dort einen Hochofen voll fieberhaftem Arbeitseifer, der mich vom ersten Augenblick an mit riss. Zum Reden kam man nicht. Ich fand sehr schnell eine Arbeit in meinem alten Beruf und fing mit Feuereifer an zu schaffen, wie alle ringsum. Es war so fein, endlich etwas richtiges tun zu können. Die Prophezeiung des alten Pflanzers, der mir von den Ruinen im Busch erzählt hatte, ging in Erfüllung! Ich „wurde was“. Ich erholte mich langsam. Sowohl äußerlich, als auch innerlich, vom Buschleben. Dies geschah bei einer freundlichen, echt europäischen Tätigkeit, nämlich beim Kulturfilmen von Kunstwerken der alten Welt.
1Der Text stammt etwa aus dem Jahr 1948. Damals war „Neger“ noch nicht diffamierend gemeint. Die Bezeichnung wurde beibehalten, um den Textcharakter zu erhalten.
2Portugiesisch: Frau
3portugiesisch: Landgut
4portugiesisch: Form, Gestalt, Art
5 Im tropischen Amerika, Afrika und Indien leben Sandflöhe. Sie bohren sich Barfüßigen in die Haut zwischen den Zehen, unter den Fußnägeln und überhaupt an den Füßen.
6 größte Volksgruppe Angolas
7Japanisches Schwert
8Mündlich überliefert, Herkunft unklar
9Portugiesisch: Herr
10 rassistische Bezeichnung, die von europäischen Kolonialisten im südlichen Afrika zunächst nur für die dort lebenden Xhosa verwendet, im Weiteren häufig als Synonym für die Eingeborenen verwandt.
11 Chinin wird zur Behandlung von Malaria eingesetzt
12 schwere, oft tödliche Krankheit mit intravaskulärer Hämolyse und mit Hämoglobinurie im Zusammenhang mit Malaria tropica
13Portugiesisch: Krankenpfleger
14 Im tropischen Amerika, Afrika und Indien leben Sandflöhe. Sie bohren sich Barfüßigen in die Haut zwischen den Zehen, unter den Fußnägeln und überhaupt an den Füßen.
15 Südlich des Äquators wechseln sich über das Jahr zwei Trockenzeiten und zwei Regenzeiten jeweils ab.
16 Chinin ist ein Alkaloid, das aus der Chinarinde gewonnen wird. Chinin wirkt schmerzstillend, in unmittelbarer Umgebung betäubend und fiebersenkend
17 Malaria ist eine Infektionskrankheit, die durch einzellige Organismen (Plasmodien) hervorgerufen wird. Sie werden über eine bestimmte Mückenart, die Anophelesmücke übertragen. Der Kranke leidet an regelmäßig wiederkehrenden Fieberschüben.
18Sprache in Angola
19 in der alten deutschen Kriegsverfassung das Aufgebot aller waffenfähigen freien Grundbesitzer zur Heerfahrt
20 Taschenpistole
21 Bihé, Hochland in Angola
22Stadtteil in Berlin
23Mündlich überliefert, Herkunft unklar
24Herkunft unklar, mündlich überliefert
25 Lesehilfe, die mit Hilfe eines Griffs vor die Augen gehalten wird
26 Tanzfest
27 Kleiner Lastwagen
28Fünf Dutzend, sechzig Stück
29Portugiesisch „Schlinge“
30Herkunft unklar
31Siehe: Der Panther und seine Frau
32 ein Feldherr und Staatsmann des Römischen Reiches
33Italienisch: Frau des Hauses
34Portugiesisch: sehr gut, Herr, sehr gut!
35 Handelsniederlassung von Kaufleuten
36Portugiesisch: Maschine
37 1919 schrieb der in Afrika lebende C.G. James dem London Daily Mail, dass in den Sümpfen von Mweru, Bangweulu und des Kafue Sees eine riesige, gehörnte und aggressive Bestie hausen würde, die die Eingeborenen "Chipekwe" nennen.
38apfelähnliche Frucht