Samstag, 5. Januar 2008

Memoiren meiner Mutter

Da kam die Allerschönste

Es war Spätsommer. Im Wallgarten unter dem Schloss hingen Früchte wie goldene Monde von allen Bäumen. Hier hatten Menschen und Tiere seit Jahrtausenden ihre Abfälle angesammelt und hier gediehen die Obstbäume so unvergleichlich.

Wir hingen in den Baumwipfeln und ernteten und kauten dabei genüsslich. Die Ernte galt unserer Spezialkreuzung: Gravensteiner-Boskop. Wir, das waren drei langbeinige Basen- eigentlich Schwippbasen – jedoch unzertrennlich.

Petra, unsere Große, hatte Abitur gemacht. Sie besaß was mir fehlte: Schlagfertigkeit, Geistesgegenwart. Sie war zudem unsere Intellektuelle. Sie hatte nicht den behaglichen Humor der Mutter, jedoch einen scharfen Witz. Verstand ein Verehrer es, sie herauszufordern, so flogen die bonmots wie Pingpongbälle für und wider.

Einmal im Freibad stand sie – ganz arische Supermaid mit ihrem langem, goldblondem Germanenhaar – vor einer Bank voll kecker Burschen:

Galerie schöner Männer – wählen Sie!“, rief einer. „Danke, bin versorgt“, sagte Sie kühl.

Vielleicht nicht gut genug?“, damit sprang er auf, die Muskeln spielen lassend. Die anderen folgten unisono; die nackten Athletenbrüste reckend.

Gut genug - “, sie streckten sich.

Sieht man’s mir nicht an? Die Frau die hat ’nen guten Mann, der sieht man’s am Gesicht wohl an! Von Goethe, nicht von mir“.

Petra war, trotz ihrer Länge, zierlich gebaut; mit rassigem Köpfchen. Mamà sagte, sie mit Maleraugen messend: „Ganz nach dem goldenen Schnitt!“

Petra traf nicht nur mit Worten. Sie handelte treffsicher. Als wir einmal in den Dolomiten an einem Steilhang kraxelten, rutschte Mamà über uns ab. Sie fuhr blitzschnell in polterndem Steinhagel bergab. Petra warf sich einfach quer auf die Piste, in ihrer ganzen Länge. Sie bremste tatsächlich die Mur ab, die Mamà losgelöst hatte. Ich hatte nur vor Schreck versteinert zugeschaut.

Birgit, rosig und appetitlich wie ein Borsdorfer Apfel, hatte von allem reichlich: Busen, Locken, Lippen – trotzdem sie auch lang war. Sie sprühte „Lebenslust aus allen Knopflöchern“, so Mamà. „Ich würde sie wie Anders Zorn1 malen, im prallen Mieder, knallrotem Norwegerrock, den klaren Strahl der Pumpe herausfördernd. Backen und Rock leuchtend, mohnrot.“

Birgit würde dem Landarbeitsdienst nicht entgehen (Zwang bis 22).

Huch, die Uniform“, rief sie, „Röcke, als trüge man darunter Koffer; Knubbel überall! Olivbraun, macht uns Blonde grüngräsig. Und die Stoffe: ‚Brennessel’, ‚Seetang’. Ich mach’s Pflichtjahr vorher – beim Onkel in Pommern wär’s knorke.“

Das Pflichtjahr – bei kinderreichen auf dem Land – wurde als ehrenvoll angerechnet, galt aber nicht als Ersatz für Arbeitsdienst­pflicht.

Wir waren ein fleißiges kicherndes Trio. Es zwitscherte, gluckerte, fiepte im Beerendickicht, im Gemüsefeld, aus den Baumkronen. Wir hatten Hühner (Tante Babette), die wir mit Brot und Kartoffelresten fütterten. Wir waren weitgehend Selbstversorger – wie das bald offiziell heißen sollte. In der Zeit, der siegreichen, heroischen, entbehrungsreichen, die erst kommen sollte. Wir waren um so fester entschlossen noch mal auf die Pauke zu hauen, da wir nächstes Jahr in den Sielen sein würden. Birgit wie gesagt.

Petra hatte schon vom „unjungen“ Juravetter vorgefühlt, eine Stellung in Berlin im Studentenwerk in Aussicht. Studenten mussten zu „Wehr­ertüchtigungs­übungen“, so dass für Mädchen Stellen frei wurden. Petra war eigentlich überqualifiziert. Sie hätte Mittelalterliche Geschichte studieren wollen. Wer fragte danach? An ein Studium konnte keiner von uns denken. Man bezahlte ja ein Studium. Auch die höhere Schule kostete Geld. Der Staat - Hitler – hatte dazu gerade die Zulassungsquoten der Frauen erheblich gekürzt, auf 5%.

Und ich? Ich war entschlossen, auf der frisch aus der Taufe gehobenen Filmakademie in Berlin zu studieren. Die Geflügelzucht in Tirol war nur der Auftakt gewesen. Der Film war noch immer mein fernes, aber festes Ziel. Ich hatte Tanten und Onkel in Berlin- mit Klappbett oder Sofa. So würde die Miete wegfallen. Die Studiengebühren? Nun, mein Zeilengeld- ich schrieb kleine Artikel für die Lokalzeitung – war inzwischen auf ganze 0,11 Pfennige angestiegen. Nur war die Lokalzeitung nun „gleichgeschaltet“ (Völkischer Beobachter). Alles wurde von oben geliefert. Blieb unter’m Strich – höchstens sonntags – eine viertel Spalte.

Ich hatte jedoch einen Coup gelandet! Beim Rundfunk! Seit kurzem lieferte ich für die Kinderstunde Kurzmärchen. Die Sender zahlten! Nahmen sie von 5 Kurzmärchen etwa eines an, so bekam ich das Zehnfache meiner freien Mitarbeit bei Zeitungen. Meine Gönner, die treu blieben, waren die Grenzstädte: Königsberg und Breslau. Mir genügte es, dass sie nicht obrigkeitshörig waren. Man höre und staune: Richtig ausgerichtete Sender brachten nichts „unheroisches“ mehr. Frankfurt und Leipzig schickten zurück. Was war geschehen? Das Propagandaministerieum hatte die Nase gerümpft. Goebbels wollte Heroen heranziehen – keine Weichlinge. Märchen sollten durch „Mathen2“ ersetzt werden. Rosenbergs trutzige Herrenrasse sollte gestählt aus dem Kindergarten hervorgehen.

Nach Krieg und Chaos passierte es mir, dass mein musikalisches Märchenspiel vom Stadttheater auf den Spielplan gesetzt wurde. Man musste ja voraus denken, einstudieren, die Wintersaison ausarbeiten. So „stand" mein Stück bereits. Denn das Abwarten, dass die Besatzungsbehörde ihr o.k. für den Spielplan gäbe, dauerte lange. Man wartete oft ein Jahr, bis die Genehmigung kam - wenn man bereits einige volle Häuser erzielt hatte. Man nahm die Kanadier - die Herren in Ostfriesland (unserer Zone), nicht allzu ernst. Man probierte, man teilte die Rollen ein, beschaffte, aus dem Fundus (der war, in einem Keller gerettet worden - ein großes Glück). Ich machte, mit dem jungen Komponisten, der auch als Korrepetitor arbeitete, die Lieder, Tänze und Duette, auf geliehenem Klavier herumtippend. Es war verstimmt - irgendwo im schimmeligen Keller überlebt. Als wir schön im Zug waren, kam der Nackenschlag.

Die Zensur verbot das Stück! Begründung: „Zu grausam für die demokratische Umerziehung benötigende deutsche Jugend. Sadistische Impulse könnten geweckt werden. (Es kam ein Zauber, der Seelensuppe kochte, darin vor.)“

So resignierten wir. Man führte Hänsel und Gretel auf. Eine Hexe, die Kinder brät und isst war - da weiblich - für die Besatzer nicht anstößig.

So endete meine Karriere als Bühnenautorin – nipped in the bud - wie Mamà es nannte. Und: „keep a stiff upper lib" (sie übte, um Stunden geben zu können). Es stimmte ja was die Leute sagten, wir, oben im Schlossviertel, seien reaktionär. („Nu gucke. die adlichen Schweine-ham wieder die Treppe nick kescheuerd. Die machen Samsdags vor’n Wald, ei verbibsch !“)

Wie so oft unter uns, kam das Thema Aimée auf. Sie war nur mit Petra und Birgit verwandt. Ihr Vater hatte ein Rittergut und war Diplomat. Sein Name zeigte seine vornehme hugenottische Herkunft: „Saint Pure-Honorée“. Wir nannten Aimée kurz „das Püree“, denn sie besaß eine Haut so zart und hell wie frisch geschlagenes Kartoffelpüree, das Tante Babette, die Mutter von Petra und Birgit so meisterhaft bereitete, um es dann mit Rotkohl und Thüringer Bratwürsten zu servieren.

Wir drei Blondinen waren um die zwanzig, jedoch noch in der Pickelphase. Wir fühlten uns wie Landpomeranzen mit schorfiger Haut und dicken, weißen Narben auf den Knien. Dagegen hatte unsere Kusine Aimée die makellose Schneewittchenhaut einer Rotbraunen. Sie war zierlich, wohlgerundet und hatte dunkelbraune Gazellenaugen.

Wir schnurpsten also die leicht angedrückten Äpfel - ....die guten ins Töpfchen ...- , schleckten uns dabei den zuckersüßen Apfelsaft vom Kinn und besprachen Aimées letzte Ballgarderobe. Die selbe, die sie auch zum Rennen, ins Theater oder beim Platzkonzert trug. „Der ganze Sattelplatz staunte und die Rösser äpfelten zu ihrer Huldigung“. Dieses Bild stammte von Birgit, der Ironie eigentlich nicht lag.

Wir besprachen auch Aimées Verehrer. Sie waren blut-jung, wie zum Beispiel Enzo, ihr flammender Fähnrich, karottenhaarig und ergeben, oder schon alt.

Ja, so wie der Commodore3 – ältlich eben...“, fuhr Birgit fort. Wir waren in einer Phase, in der man Männer über 34 für alt erklärte.

Wenn auch noch ganz drahtig. Hat er nicht ein bisschen Hautgout, der smarte Geschwaderkapitän, der Horstcasanova?“ Birgit hatte heute eine scharfe Zunge, die, die sonst immer die lachlustigste war. Der Fliegerhorst war unsere Hauptgarnison.

So eifrig wir auch schwatzten, wir legten ganz behutsam die makellosen Äpfel ins Pflückkörbchen. Bis Ostern würden wir damit den Küchenzettel bestücken. Später würden dann noch Pastorenbirnen und Reinetten hinzukommen, zuletzt Zwetschgen und Nüsse. Beerenfrüchte waren bereits in Keller, sicher in Gläsern und Tontöpfen, denn Vorratshaltung tat Not. Ich, meine Mutter, meine Basen und deren Mutter, wir lebten praktisch aus dem Garten und lebten auch im zugehörigen Stiftshaus nebeneinander.

Kauend rief Petra aus der Krone des anderen Baumes zu mir herüber: „Eins muss man zugeben, pikant ist sie, das Püreechen. Mit ihrem auburn4 Haar, wie aus Ivanhoe. Dazu große Augen mit Samtwimpern wie riesige Nachtschmetterlingsfalter. Sie wickelt Männer mit ihren Sirupblicken um den Finger.“

Dann fügte unsere immer faire Große hinzu: „Sie ist eben kurzsichtig, daher kann sie nichts für ihre Nachtfalterallüren.“

Come hither5-Blick!“, rief Birgit etwas undeutlich, da vollmundig beschäftigt. „Seelenvoller Augenaufschlag – bärig! Doch was soll's? Reh- oder Gazellenblick? Unser Dietz sagt es anders: ’Staubsauger Marke Vampyr6’. Der nimmt kein Blatt vor sein loses Mundwerk. Das ist ein richtiger Dietz-Flinke Zunge-Ausspruch. Dein Georg Inge, der würde so was nie sagen. Der ist loyal bis unter die Knochen. Das wäre unter seiner Würde.“

Doch Petra wies uns in die Schranken, da das Gespräch zu einem Kicherduett entartete: „Der Commodore ist richtig. Er ist Akrobat, Könner und in allen Sätteln gerecht. Das gilt sowohl für die Reiter als auch für die schwarzen Flieger. Viele von ihnen kommen ja aus anderen Waffengattungen. Sogar ein Seemann ist bei den Testfliegern. Er wird ‚la paloma’ genannt, weil er Heimweh nach den Häfen hat. Der Commodore hat viel hinter sich gebracht. Das gefällt eben Aimée.“

Birgit prustete verächtlich: „Thora, unsere flotte Amazone, himmelt ihn auch an. Selbst Ulrike, das Goldtöchterchen hegt für ihn Gefühle, obwohl sie praktisch mit Radieschen verlobt ist.“ Leutnant Radieschen war der jüngste unserer Fliegerfreunde. Immer rosig, wie aus Marzipan, ein aristokratischer Märchenprinz, der es schwer hatte, sich bei den Mannschaftsgraden durchzusetzen.“

Ich wollte das Gespräch nach diesen Umwegen wieder auf Georg zurückbringen: „Ein fabelhafter Tänzer ist der Commodore. Nur nicht groß genug für uns.“

Wir waren alle über eins siebzig. Wir waren äußerlich eher birkenhaft, innerlich dagegen noch schlacksig fohlenhaft.

Birgit schaukelte nur unter mir. Der solide alte Baum schwankte, als sie losschmetterte:

Ins blaue Leben – in ein wunderbares Glück,

ins blaue Leben wandern wir ein kleines Stück.

Wir suchen alle Liebe, Sonne und Musik,

ins blaue Leben wandern wir ein Stück.

Ein bisschen Fröhlichkeit und Herzlichkeit,

und Seeligkeit,...

Nun sangen wir mit. Der Schlager „ins blaue Leben“ entsprach genau unserer Welt­an­schauung. Dieses Jahr muss auf die Pauke gehauen werden. Flirten, kalbern, tanzen, lachen – im stramm marschierenden Vaterland. Wir machten ja sonst alles mit, was von uns erwartet wurde: Den Riemen enger schnallen! Winterhilfsbeitrag! Eintopfsbeitrag! Volkswohlfahrtsbeitrag! Sparen, das konnten wir. Das brauchte uns keiner zu lehren. Wir trugen willig die ererbten Internatskittel unserer Mütter. Blauweiß gestreifte Leinenkittel, die nach klösterlichen Schulen wie „Gnadenfrei“ und „Heiligengrabe“ rochen. Unsere Tanzkleider wurden aus Kostümen hausgeschneidert, die im tonnengewölbeförmigem Speicherkoffer geschlummert hatten. Wir stellten keine Ansprüche. Wir waren musterhafte Staatsbürger. „Bloß amüsier­wütig sind die Gören, dazu noch uniformhörig“, so sagten die Brüder Petras und Birgits.

Ich komme mir schon vor, wie eine Arbeitsmaid“, sagte Birgit. Sie konnte dem Arbeitsdienst nicht ausweichen, denn sie war 20 Jahre und es war Pflicht bis 22 dort hin zu gehen.

In dem störrischen, beuteligen Beiderwandskittel. Ich übe lieber für nächstes Jahr.“

Sie sang:

Arbeitsmaiden,

ihr sollt meiden,

Erbhofbauer’n,

Erbhofbauer’n

Ackern, melken, kehren

Jedes Jahr gebären

Mutterkreuz,

Mutterkreuz.“

Wir fielen nach der Melodie von Frère Jacques im Kanon mit ein. Petra, die Große, ermahnte uns zum Bienenfleiß. Sie war mit 23 Jahren jenseits der Grenze.

Es würde bald Abend werden und unsere Mütter würden von der Hamstertour nach Hause kommen. Sie waren bei Mamàs Schwester Barbara auf deren Gut. Sie würden die Verpflegungssorgen mildern. Unsere Budgets waren knapp. Beide Mütter waren Witwen. Es war also niemand zu Hause, der mit „high tea7“ auf uns wartete. Wir mussten durcharbeiten. Die Sonne sandte jetzt schon ihre Strahlen schräg.

Honigkuchenlicht“, sagte Petra. „Seht nur, die Putte sieht aus, wie frisch aus der Backröhre gezogen. Löns8lieder wären dran.“

Es stimmte. Von oben sah der Wallgarten ganz verwunschen aus. Im alten Brunnenbecken funkelte es als habe man flüssigen Messing hinein gegossen. Die überlasteten Rosenbögen schienen einen Blütenblattregen auf den Boden gekleckst zu haben. Träge kreiselnd, als überlegten sie noch, kam Blatt für Blatt herab. Der Himmel sah aus, wie ein Ballkleid aus prallgezogenem Taft. Man meinte, man könne ihn knistern hören.

Nur gelegentlich unterbrachen wir jetzt den Pflückrhythmus mit einem herzhaften „Biest!“. Die Mücken bevorzugten Nacken und Waden. Sie waren gierig. Der Sommer würde bald zur Neige gehen. Trotzdem war es noch warm und die Septembersonne ließ uns schwitzen und die Luft über den Beeten beben.

Dann stimmte ich unser Lieblingslied, eine Ballade an:

Das war der junge König,

der König ohne Land

er lag auf grüner Heide,

sein Speer der stak im Sand

da kam die Allerschönste

sie hielt ihr Herz in der Hand

sie sah den jungen König,

den König ohne Land.

Was liegst Du hier zu warten,

du König ohne Land?

Hast ja zwei starke Arme,

dein Speer steckt ja im Sand!

Das blanke Eisen blitzte,

der Himmel stand in Brand

Sein ward die Allerschönste,

sein ward das ganze Land

Wir waren gut eingesungen. Birgit hatte einen warmen Mezzo-, Petra einen hellen Sopran, der läutete wie ein Christkindglöckchen. Ich sang zweite Stimme. Wir waren versunken in unsere Ballade. „Der Himmel stand in Brand...“, das war irgendwie erregend. Man fühlte, es entfaltete sich etwas im Innern wie eine in Zeitlupe aufgehende Chrysanthemenblüte. Wir schwiegen ein Weilchen. Nur ab und zu wieder ein „Klitsch“ von einem herab gefallenem Apfel.

Als wären wir noch beim Thema, sagte ich in die auf das Lied folgende Stille hinein: „Ja, Aimée, sie hat einen Vater...“. „Einen Vater...“, echoten die Mädels. Das Wort hüllte uns alle drei ein. Ein dreifacher Seufzer folgte. Wir lauschten dem Wort nach: Es war als ritte es auf den Spätsommerfäden hinauf ins Blaue des Himmels. War da nicht eine Schleppe wie ein Kondensstreifen? Wir kannten die Streifen von den Jagdfliegern.

Aimées Vater hatte sich nach seiner Laufbahn auf eine „Klitsche9“ zurückgezogen, als der braune Wind begann, immer schärfer zu blasen. Als General von Schleicher10, und mit ihm seine Frau, am Schreibtisch durch Meuchelmord erschossen wurden. Seitdem galt Herr von Saint Pure als „Charakter“. Sollte man nicht ein Mädchen beneiden, das einen solchen „Negativhelden“ zum Vater hatte. Auf Bällen, Empfängen, Paraden und Platzkonzerten der Regimenter, überall konnte Aimée an der Seite des Mannes mit Nimbus11 erscheinen. Wie köstlich musste es sein, an der Hand solch eines Vaters die Szene zu betreten!

Wir drei Basen hatten nur unsere Gluckenmutter, als Chaperon12. Mein Vater war gefallen. Ich wurde geboren, als Mamà die Nachricht bekam. Petra und Birgit hatten auch nur Tante Babette. Auch sie hatte ihren Mann früh verloren, nachdem sie aus dem Baltikum geflohen war. Was war das gegen einen Diplomatenfrack und den Stand gegen das braune Erdbeben, das uns beutelte? Die Morde an Strasser und Röhm13 und eine Dunkelzahl Unbeteiligter, die versehentlich umkamen, hatten Kreise gezogen, wie ein Stein, der in den See geworfen wird. Wenn man auch so tat, als wären es nur Regentropfenkringel.

Ich war die Kleinste von uns Dreien. Hinzu kam noch unsere Freundin Thora, genauso lang und genauso blond wie wir. Sie war ebenso kurzsichtig wie Petra. Wir gingen im Gänsemarsch in den Ballsaal. Wir vier langen. Ich voraus, denn nicht ganz so erschreckend lang und ohne Augenfehler. Ja, wir waren lange, hellblonde Latten, die von den meist kleinwüchsigen Waffen, Panzer und Flieger, mit Seufzer empfangen wurden.

Kein imponierender Vater“, pflegte Birgit zu sagen. Sie und ihre Schwester hatten zumindest große Brüder, die auswärts studierten. Nun seufzte Birgit: „Weit und breit kein Hosenbein für uns Schmaltiere!“

Da geschah es. Das Gartentor quietschte, kreischte und plautzte. Wir stellten die Hälse steil. Hing ein Fallwild in blaugrüner Uniform im Tor? Unser Parktor, von Uneingeweihten geöffnet, plumpste dem Eintretenden unweigerlich vor die Füße. Oder es begrub den Eindringling, höhnisch kratschend, unter seinen Eisenspeeren. Im Nu waren Petra und Birgit, die Pflückkörbe oben baumeln lassend, herabgefallen. Wie eine handvoll Nüsse klatschten sie auf die Wallmauer hinab. Im Kängurugang tippelten sie darauf entlang bis zum Obstgarten. Die Gehwege waren von Beerensträuchern dicht überwuchert. Ich blieb im Gipfel des Baumes. Jemand musste den strategischen Überblick bewahren. Hatten wir einen Leutnant erlegt? – Nein, aus dem rostroten Klumpen unter dem Eisengitter klang es fast wie „merde14“ in femininem Quietschton. Was ich erspähte, war ein rotes Blumentopfhütchen mit Fasanenfeder. Boccaccio15- der letzte Schrei. Es steckte auf der Torangel. Gut, dass sie nie geschmiert wurde! Das konnte nur einer gehören: Aimée! Boccaccio war nicht in unserem Städtchen angelangt, noch trug man hier Pfannkuchen­gebilde. Sie geikelten, ein Auge verdeckend, wie Schiffchen auf dem Scheitel.

Ich pfiff den Basen „Entwarnung“ zu. Lässig hüpften sie von der Mauer, den Weg durchs Gebüsch gemächlich fortsetzend. Sie hatten begriffen: Kein Bock, eine Ricke. Diese Beute würde sagen: „une biche16“. Aimée zwitscherte so auswärts, wie eine Grasmücke im Schlehdorn. Sie war im Ausland gewesen: Eingeladen! Anders kam man ja nicht mehr raus. Die Basen befreiten Aimée mit hau - ruck das Tor lupfend. Sie klopften sie ab. Dann umwedelten sie den Gast wie zwei struppige Schäferhunde ein Windspiel. Sie schleusten ihn durch die Himbeerwildnis, bogen Äste zurück, traten Brennnesseln nieder, ließen ihm den Vortritt. Aimée tauchte im Glanz eines rostroten Lederkostüms unter den Rosenbögen auf. Sie hatte den lässig schwingenden Gang einer Palominostute17 (so sagte der Commodore). Sie wehrte im Schreiten Rosenranken ab. Es sah aus, als übe sie indischen Tempeltanz. Vermutlich war es visuelle Unsicherheit - das sagte ich mir („sei kein Biest, Inge!“). Als sie nun vor der tintenschwaren Eibengruppe stand, trug sie Rosenblätter auf Schultern und Armen. Die Magnolienhaut - so der flammende Fähnrich Enzo - leuchtete aus dem samtigen Rot des Kostüms, das sich, man höre und staune, in kniehohen Juchtenstiefeln18 wiederholte. Der „Boccaccio“ saß hoch auf der mahagonibraunen Haarkappe und das nach dem Sturz! Aimée war in Form! So sehr, dass sie, sich zu den Basen zurückwendend, etwas forsches sagte, wie: „My head is bloody, but unbowed!19“ Englisch war in Mode. Je abgeschirmter wir gegen das Ausland waren desto „smarter“ war es, solche Zitate einzustreuen.

Buhuu, someone is calling for you“, rief Birgit zu mir hinauf. Dann zu Aimée: „Wir holen den kalten Tee mit Zitrone!“ Ehe ich protestieren konnte, aus luftiger Höhe, liefen sie weg. Ich spielte noch Vexierbild20. Was wollte der Paradiesvogel in unserem Sperlingsnest? Ich fühlte, wie der Ast sich unter mir senkte. Wurde ich schwerer? Wenn ja, warum? Was hatte ich zu fürchten? Höchstens, dass Aimée über den Hühnerfutternapf vor meiner Tür stolperte. Was sollte sie bei mir wollen? Sie war nicht meine Kusine. Sie lehnte malerisch unten – auf den naselosen Putto21 gestützt und blinzelte, wie es Kurzsichtige zu tun pflegen, in die dichtbelaubten Zwillingsbäume hinauf. Dann peilte sie den andern Baum an in dem Birgits rosa Schürze hing. Sie rief herauf: „Was für wundervolle Crimson Rambler22 ihr habt! Sie blühen ja noch über und über! Und die Strauchrosen, sie schäumen vor Blüten. Bei uns, auf dem Rondell, haben wir nur steife Stockrosen. Die blühen pompös, aber kurz.“

Ich horche geborgen im dichten Wipfel auf eine innere Stimme (Mamàs Stimme): „Gehst Du zu kleinen Leuten, merk dir: Immer loben! Auch scheußlichen Nippes. Es richtet sie auf.“

Indes hatte der Gast spielerisch mit der blanken Stiefelspitze im Mulm herumgebohrt und einen verdreckten Hühnernapf zu Tage gefördert. Aimée gehörte zu denen, die überall Schwachstellen entdecken.

Hallo, Inge wo steckst du da oben?“ Da sie den falschen Baum anrief, krümmten sich die Bäschen, die mit dem kalten Tee zurückkamen, vor unterdrücktem Kichern.

Meine Mutter lässt grüßen. Sie will durchaus eure famose Spezialzüchtung kosten, ehe sie pfropfen lässt. Ihr wisst, wie Mütter sind. Hartnäckig. She has caught the bug23. Ich soll einen Probierapfel von Tante Ursel mitbringen, sagt sie.“

Das war meine Mutter. Tante Babette und Mamà pflegten sich in die Ernte zu teilen. Warum wandte sie sich an mich? Ich raschelte, als eile ich herab. Ich zögerte aber noch. Sie brauchte meine Schmierstiefel, die zerschrammten Waden und den abgerissenen Kittelsaum nicht zu sehen.

Petra hatte Aimée inzwischen sanft getränkt, abgelenkt und unter den richtigen Baum (meinen) geschoben. Dabei führte sie unsere Hühnerschar vor, damit ich Zeit gewänne, mich proper zu machen. Die Starhenne, Agatha, pickte vertraut auf Apfelbutzen herum. Alle beäugten die Fremde. Aimée hatte einen Korb unter meinem Baum als Sitz gewählt. Petra, auf einem zweiten Kartoffelkorb hockend, interviewte den Besuch: Man höre, sie wolle Geflügelzucht anfangen? Sie solle schon auf dem Nachbargut dafür lernen? Also, künstliche Glucke bedienen, Küken aufziehen, Hähnchenküken früh von Hennen trennen?

Eine Henne hatte den von Aimée aufgestöberten Napf entdeckt. Sie scharrte zu ihren Füßen. Ja, sie „sang“ dabei, wie es Legelustige tun. (Ich war ja Fachmann; hütete mich jedoch, mitzureden.) Ich hangelte mich hinter dem Stamm herab; kämmte mich verstohlen - in den geerbten Kitteln gab es tiefe Taschen – ein Plus!

Aimée berichtete völlig degagée24 (so sagte Mamà) von ihren Zuchtabsichten. Rote Rhodeländer, Italiener, weiße Leghorn? Lege- oder Fleischrasse?

Birgit verschlang den Gast ungeniert mit Blicken: Reißverschlüsse Marke „Safari“ an den Kostümtaschen und Stiefeln! (Reißverschlüsse waren brandneu und teuer). Seht doch, wie unter dem Fez-Hütchen, im ausrasierten Nacken, das Haar in Dreiecksspitze hinabsteigt! Im Schneewittchennacken, darin die kesse Rille!

Ich muss gestehen, dass wir Provinzgänschen ganz weg waren, während Aimée eine Zigarette aus der Tasche fischte, statt zuzuhören. Wir nahmen andachts voll ihre ganze Aufmachung in uns auf. Die Zeremonie des Rauchens war eine show: Die Zigarette im Silberetui, das reichte sie herum, in der anderen Brusttasche – es waren vier! - das Feuerzeug angelnd.

Wir lehnten ab. Wir rauchten heimlich – doch nur eigene – mit langem Pappmundstück, wegen der optischen Wirkung. Sie verblüffte uns immer neu: Sie zog ein Spitzentaschentuch aus der dritten, der Hüfttasche, aus der vierten lugten rote Stulpenhandschuhe. Sie wischte sich mit Muße die spitz zulaufenden, sehr weißen Finger ab.

Unsere Starhenne schwänzelte, gluckernd, schräg herauf äugend, um sie herum. Plötzlich flog sie mit schrillem Kiekser auf Aimées Schoß, um nach dem Zigarettenstummel zu picken. Aimée kreischte auf, warf das Tier vom Rock, dann, am Zeigefinger lutschend, warf sie, mit der freien Hand, ihr Feuerzeug nach der Henne Agathe. Sie traf gekonnt den Bürzel. Alle Hennen stoben, hysterisch kreischend, in ihr Kellerloch, sich einander schier überreitend. Drinnen zeterten sie lauthals. Es echote dumpf. Das war ein solch drolliger Exodus25, wir lachten herzlich. Doch dann eilte Birgit, die Hühnermutter, ihnen nach. Sie holte Agatha drinnen aus dem Knäuel heraus, tröstete und streichelte sie. „Agatha ist nachtragend, zartbesaitet. Sie wird morgen nicht legen.“

Sie sah den Gast anklagend an. Birgit hatte große, runde Augen, blau mit schwarzen Irisringen. Sprechende Blicke. Aimée geikelte auf ihrem Weidenkorb-Thron hin und her. Sie sah uns, der Reihe nach alle an. „Mea culpa26, ich wars, keine Eier morgen. Alles muss ich verkorksen.“ Sie zählte an den Fingern ab: „Erst das verdammte Eisentor, mit seinen durchgerosteten Angeln umgeschmissen. Dann Euch bei der geheiligten Ernte gestört - ich weiss - jeden Apfel nur ein mal anfassen; Brechobst ist heilig. Noch ein Vergehen, ich rief den falschen Baum an! Did I bark the wrong tree? Am Ende ist Rauchen anstößig? Sollte Henne Agathe signalisieren: Die deutsche Frau raucht nicht? Ist sie darauf dressiert?“

Sie war aufgesprungen, Agathes Dreckspuren vom Rock schüttelnd. Rote Flecken auf den Wangen sah sie mich durch ein schwarzes Drahtverhau der Wimpern, mit seltsamen Augen, die nur Pupille zu sein schienen, an. Sie sagte leise, jede Silbe skandierend:

Also, wie kann ich das wieder gut machen?“

Dabei saugte sich ihr Blick an mir fest. Mir kam es vor, als stehe ein Insekt vor mir, aggressiv, mit sirrenden Flügeln. Und ob ich mich erinnerte! Die selben Worte hatte ich einst zu Georg gesagt, darauf spielte sie an. Ich sah die ganze Szene vor mir.

Es war beim Fest „Deutsche Frauen Übersee“– von Hitler nicht verboten, wie alle anderen konservativen Vereine, weil Spenden für sein „Volk-ohne-Raum Programm“ hereinkamen. Großmamà hatte den Vorsitz. Ich war ihr abgehetzter Adjutant, bald ganz erschöpft. Großmamà war eine starke Organisatorin. Voller Erfolg. Beide Waffen reichlich vertreten. Nur waren die Leutnants wenig tanzfreudig. Es hatte wieder einmal Alarm gegeben – ein Freitagsschreck, wie Hitler es liebte, da er wusste, dass Englands Politiker dann auf ihren Landsitzen waren. Flieger und Panzer, die ersten Stoßwaffen, waren wieder einmal herumgehetzt worden. Wir drei Basen bildeten, samt Panzerfreunden, eine graugrüne Front. Die andere Tischseite beherrschten die Blaugrauen. Aimée und der Commodore trohnten dort, umgeben vom jungen Fliegergemüse – zu dem auch Birgits einstiger Enzo zählte.

Vor Aimée türmten sich die Gewinne. Ihr Kavalier hatte ihr Lose spendiert. Er hielt auch den Tisch frei. Heute zähle er sich ganz zur Jugend, sagte er. Höhere Chargen saßen, wie auch die Mütter, an der Balustrade27. Zum Tanz mussten uns jedoch die Leutnants des Commodores auffordern. (Es war Sitte, dass jeder Herr mit jeder Dame am Tisch tanzte. Hitler hatte es noch nicht geschafft, diesen Code umzustellen, so galt der alte weiter). Unser smarter Commodore, der eine „Fechterfigur“ hatte, schickte die Leutnants vor, weil er es gerne vermied, mit uns drei „Türmen“ zu tanzen. Aimée, die zierliche, war für ihn ideal als Partnerin.

Es herrschte Flaute; das Parkett war leer. Birgit hatte das Stillsitzen satt. Zumal auch die Unterhaltung schleppte. Sie raunte Georg zu: „Damenwahl“, als die Kapelle Jazzrhythmen anstimmte. Als Rausschmeißer riskierte sie das. (Jazz war bei offiziellen Anlässen verboten).

Georg seufzte, gehorchte jedoch. Er schwenkte sie eine Weile herum. Der flammende Enzo, dem Birgits Manöver galt, bemerkte es nicht. Er starrte versunken auf Aimées Profil. Nebenbei roch er an dem Schal, den der Commodore auf die Stuhllehne gehängt hatte.

Wir schauten träge zu. Ich döste entspannt vor mich hin. Es machte mir nichts aus, dass Aimée etwas libellenhaftes, kühnes trug, das aufreizend schillerte. Ich fühlte mich wohl, wie ein frisch geschlüpfter Hummer, denn Großmamà hatte mir ein Kleid spendiert: Weisser Pikee28, mit engem Mieder, mit in Sonnen-Falten auslaufendem Rock. Am Ausschnitt trug ich ein Buchszweiglein – von Georg aus der Dekoration gemopst.

Als er mit Birgit zurückkam, sagte er zu mir: „Kommen Sie, Überseeschwester vom Dienst, ein Blues, auch für schachmatte Adjudanten machbar!“

Ich schüttelte den Kopf. „Großmamàdienst – plus an der Longe29 heute früh. Getriezt hat er mich, der Bereiter: Aussitzen! Terrab! Keine Wäscheklammerpose! Absätze! Diefer, gnädiges Fräulein, so nehmen Sie doch das Kesäss vor! Für die Jagden hab ich mich so schinden lassen. Bald geht’s los.“

Was, Reitjagden? Kreuzgefährlich! Na ja, Geländeritte, aber Jagden? Also, wenn Sie meine kleine Schwester wären....“

Pfft“, machte ich, „Vorschriften? Ich bin überhaupt nicht Ihre kleine...“

Nein, zum Glück!“ unterbrach er.

Ich drehte ihm abrupt den Rücken zu, Dietz neben mir zuraunend: „Der - und Vorschriften!“

Stumm wandte sich Georg ab. Er forderte Petra zum Tanz auf. Sie tappten in gemäßigtem Tempo dahin.

Birgit packte mich am Arm und zischelte: „So schnippisch! Der ist geladen! Pass auf, er schneidet dich. Ach, er ist doch so bärig.“ Sie seufzte.

Als Georg zurückkam nahm er sein Glas neben dem meinen weg, verbeugte sich und ging zum unteren Tischende, zu Bööhnchen, seinem jüngsten Kameraden.

Petra raunte mir zu: „Aber Ingebingemäuseturm- fix! Versöhn ihn. Er meinte es gut!“

Ich war es gewöhnt unserer Großen zu gehorchen. Ich zog also mein Spitzentaschentuch (kein Kleenex, mit dem man nicht flirten kann) und wedelte zum Tischende, wo er schmollte. „Wie kann ich das wieder gut machen?“ rief ich in dick aufgetragener Zerknirschung.

Das überlasse ich ganz ihrem Takt und ihrem Zartgefühl!“

Da tat Birgit einen Stoßseufzer. „Hach er ist so pfundig-männlich!“ Es war geflüstert. Doch ging gerade bewusster Engel durch den Saal. Es wurde kurz ganz still.

Ich übertönte sie nach Kräften: „Bei uns nachher, Mokka!“ rief ich zur Schmollecke hinüber.

Georg hob sein Glas zu mir, dann Dietz und Bööhnchen anpeilend. Sie machten mir eine angedeutete Verbeugung. Abgemacht!

Alle am Tisch hatten unserem Geplänkel amüsiert zugehört. Auch Aimée. Dabei war sie im Begriff mit ihrem Kavalier Brüderschaft zu trinken. Aimée konnte zwei Dinge auf einmal tun. Sie spitzte ihr feines Ringelnattergehör, indes sie, Arm in Arm verschränkt, mit dem Commodore trank. Sie nippten jeder am Glas des Anderen. Mehr geschah nicht. Dann warf sie ihm einen Luftkuss zu, dass man an ein Löwenmäulchen, den Kelch tief geöffnet, dachte. Es knisterte zwischen den Beiden.

Enzo sah aus, als bohre man auf seinem hohlen Zahn. Er hatte die kalkige Blässe der Rothaarigen. Die anderen Verehrer Aimées sahen mühevoll an dem Paar vorbei.

Halbreife und Überreife! Aimée zieht Unmündige und Alte vor!“, flüsterte Birgit (Die „Alten“, wie der Commodore, etwa fünfunddreißig).

Wir „Verschwörer“ taten als wollen wir tanzen und verließen paarweise den Tisch. Da sah ich wie mich Aimée unter bewussten Wimpern hervor mit den Blicken verfolgte. Plötzlich zog sie ihren Partner aufs Parkett. Die Kapelle spielte eine tolle Draufgabe. Wir sahen im hinaus­schlendern fasziniert zu: Sie stoben davon, graziös und stürmisch, wie zwei Gerten, vom selben heißen Wind hingeweht.

Natürlich hatte Aimée nicht erwarten können, mit geladen zu werden. Bisher hatte sie nur lässig Georg, ihren Ex, der nun mein Schatten war, beobachtet und sich dann amüsiert abgewandt. Aber mein letzter Eindruck, als Georg mir in den Mantel half, war: Es hat was bei ihr geschnappt!

Am bewussten Parktörchen waren Georg und ich die Letzten. Im flirrenden Mondlicht unter den dichten Baumkronen setzte er das „Falltor“ fachgemäß wieder ein. Er kannte seine Tücken.

Man soll ja den Mond nicht untergehen lassen, war man uneins. Gut, dass sie so großzügig waren“, begann er. Da er fühlte, dass es sehr pädagogisch klang, setzte er rasch hinzu: „Ich werde aber doch in Ihrer Nähe bleiben, bei der ersten Jagd!“ Da lachte ich so herzlich, dass es mich schüttelte: „Wetten, dass sie es keine fünf Minuten ertragen, so ganz hinten im Feld?“ Nun musste er selber lachen, weil ich ihn richtig beurteilte. Und es war alles, alles wieder gut, wie es im Volkslied heißt.

Als ich aus den Erinnerungen, wie aus einem warmen Schaumbad auftauchte, war Aimée dabei, den Basen zu zeigen, wie sie swing30 übte. Sie wippte, auf den Stufen zu unserer Wallmauer hinauf und wieder hinunter. Birgit machte es nach. Petra nicht. Sie sagte: „Nicht so närrisch wie der 31, wo man Knie schnackelt und mit dem Daumen über die Schulter zurück wackelt.

Unsere Mütter müssten das schon kennen!“, setzte Birgit hinzu, gluckernd im Vorgenuss. Dann parodierte sie, Petra an sich ziehend, ein paar Kniestöße. Sie sang dazu:

Was machst du, mit dem Knie lieber Hans,

mit dem Knie lieber Hans, beim Tanz?...

Aimée verzog nur vornehm degoutiert32 das Gesicht und wandte sich mir zu: „Ach, eh ich’s vergesse. Inge, leihst Du mir bitte für Vaters 55. deine Brandenburgischen Konzerte? Ich hab` nur Tanzplatten, Mutti nur Chopin, Grieg, Beethoven. Wir möchten was Feierliches, Stilvolles.

Eifrig fiel ich ihr ins Wort: „Natürlich, ich hol sie dir, gleich!“

Ich wollte ins Haus laufen, erleichtert , sie loszuwerden. Doch sie hielt mich am Arm fest. Zu heftig, für eine Bagatelle:

Nein, nein – ich komme extra. S`hat ja Zeit! Ich muss schleunigst gehen. Im Hof wartet, auf und ab tigernd, Enzo, unser flammender Fähnrich, mit Vaters altem Ford. Er bringt mich zum Commodore, der mich heimfährt, man muss stets jemanden mit fahrbarem Untersatz in petto haben. Es war so gemütlich bei Euch - die Äpfel – klassisch!“

Ich konnte gerade noch einige Prachtäpfel für sie in ein Rhabarberblatt einschlagen. Petra musste hinter ihr her laufen, so fix war Aimée am Gartentor angelangt. Sie winkte mit den Stulpenhandschuhen, ließ die vielen Reißverschlüsse der Safarijacke noch mal aufblitzen; verschwand. Die höfliche Petra ging ihr nach: Es ist üblich, einen Gast stets bis hin ab in den Hof (3 Treppen) zu geleiten. Birgit überging diese Pflicht. Sollte sie Enzos ergebenen Hundeblick mit ansehen, mit dem er im Hof die Angebetete empfangen würde?

Ich streifte Stiefel und Socken ab, hängte die Beine ins abbröckelnde Brunnenbassin. Es war halb leck, voller Moos und Entengrütze. Doch es kühlte. Mein Kopf war heiß. Birgit, auch Petra, taten es mir nach, obwohl der Sonnenuntergangswind unsere lichten Schöpfe kühl befächelte. Der helle Flaum auf meinen Armen hatte sich aufgestellt. Man sah es deutlich im schräg einfallenden Sonnenlicht. Wir schwiegen. Man hörte die Grillen und eine Fledermaus schwirren. Man sah, wie die helle Unterseite der Blätter sich aufstülpte. Man hörte Rosenblätter herab gleiten. War es der kommende Herbst? Petra war es, die es herausfand: „Zitat: Loben. Bei kleinen Leuten und armen Verwandten immer loben!“.

Hockten wir drei Basen auch wie die Landpomeranzen33 in den Bäumen des Wallgartens, so waren wir doch im Begriff, eine Saison rauschender Ballnächte zu beginnen. Wir würden auf die Pauke hauen. Denn fünf Garnisonen hatten unsere verschlafene Festungsstadt nun zu neuem gesellschaftlichem Leben erweckt. Wir genossen das Wiedersehen in der alten Heimat, weil wir so lange getrennt gewesen waren. Als Kinder hatten wir miteinander gespielt. Dann wurden wir getrennt. Jede in einer anderen Leihfamilie untergebracht. „Miterzogen“. Petra und Birgit waren mit 18 und 19 heimgekommen. Ich aber ging mit Mamà für fünf Jahre nach Südtirol. Dort machte ich eine Geflügelzucht auf. Unser Ansitz dort war alt und billig. Die Lira im Keller. Unser „Schaffer“ lieferte uns Getreide, Milch, Butter, Käse. Das einfache Leben. Ideal der Notverordungsjahre34 im Vaterland. Ideal war das Auslandsleben auch für Mamà. Abstand zu dem Mann „mit dem Häufchen Dreck unter der Nase.“ Sie war in der Wolle gefärbte Monarchistin. Im Schatten des Herzogshofes35 aufgewachsen. Großvater „ging zu Hofe“. Er war doppelt auf payroll36: Forstmeister und Kammerherr. Kammerherr, das hieß an unserem Miniaturhof – Diplomat, der mehrere Sprachen sprechen, Potentaten aus aller Welt empfangen konnte. Mamà und ihre Schwestern tanzten im Kronsaal. Dort gab sogar ein Podium, mit Lehnsessel, samt Baldachin. Sie spielten Teemädchen bei der „hohen Frau“, der Herzogin, wenn Groß­fürstinnen, die Queen37 oder belgische, rumänische, bulgarische, griechische Schwäger zu Besuch kamen.



1Anders Leonard Zorn 1860-1920 schwedischer Maler, Grafiker und Bildhauer.

2 Schauspieler in Film von Rosenberg aus dem Jahr 1947

3 Militärrang

4 Rotbrauner Farbton

5 Englisch: flirtend, verführerisch, verlockend

6 In Volksglauben und der Mythologie Blut saugende Nachtgestalt

7 Englisches Abendessen zwischen 18 und 19 Uhr

8 Deutscher Heimatdichter

9 Kleines unansehnliches Haus

10 Deutscher Offizier, der von der SS 1934 ermordet wurde

11 Lateinisch Heiligenschein

12 Gönner, Mäzen

13 Ermordung der SA-Führung und anderer nach der Macht strebender durch Hitlers Befehl 1934

14 Französisch Scheiße

15 Italienischer Schriftsteller

16 Französich Hirschkuh

17 Pferd bestimmter Färbung

18 Stiefel aus Rindsleder

19 Mein Kopf ist blutig, aber ungebeugt

20 Scheinbar unmöglich konstruiertes Bild

21 Italienisch Knäblein

22 Apfelsorte

23 Sinngemäß: Sie hat sich darauf versteift

24 Französisch ungezwungen

25 Griechisch Ausgang, steht für den Auszug aus Ägypten

26 Lateinisch meine Schuld, Formel für christiliches Schuldbekenntnis

27 Niedrige Säulenreihe als Geländer

28 Baumwollgewebe

29 Leine um Pferd im Kreis zu leiten

30 Tanzbare Variante des Jazz seit 1920

31 Tanz nach einem Musical aus London 1937

32 Französich dégoûter abschrecken, anekeln, verleiden

33 junge Provinzlerin, ein ungebildetes, nicht urban gebildetes Mädchen

34 Jahre in denen Sonderrechte des Reichpräsidenten in der Weimarer Republik durchgesetzt wurden

35 Herzoghof in Gotha

36 Englisch Gehaltsliste

37 Königin von England