Dienstag, 28. Oktober 2008
Über mich
Samstag, 20. September 2008
Essay über Literatur
Ingeborg Reidl
Ja- sage ich – weil sie, und nicht Feldherrn, Könige, Päbste, Kanzler die Zeitströmungen beobachtet und mitbestimmt. Nein – sage ich – nur zum Einfluss weiblicher Leser in unserer Epoche.
Ich höre das Protestgeheul der Professoren, Studienräte, Intendanten, Konzert- und Kulturreferenten. Recht haben sie darin: Die Überschwemmung mit Büchern und Neuerscheinungen ist keineswegs ein gutes Zeichen. Der Hauptgrund ist: Maschinen müssen rotieren. Überproduktion - wie in allen Konsumsparten. Die Verleger sieben nicht mehr genug; weil ihre gigantischen Maschinen, einmal heiß, weiter rollen müssen. Sie müssen sich amortisieren. So werden wir mit „Geistesware“ überfüttert. Wir haben Verdauungsstörungen mit unserer Literatur. Sie ist jedoch keine Ware, die die Überforderten Lektoren mit „in“ oder „out“ abstempeln.
Betritt man einen Buchladen, so wird einem schwindelig. Wie soll der willige Leser da Gutes und Verramschware unterscheiden? Die Bestseller-Liste als Kompass? Da müsste der Leser schon einen Geigerzähler mitbringen, der für ihn herausfischt, aus dem Berg, was „strahlt“. Bestseller-Listen enthalten zu neunzig Prozent Eintagsfliegen. Führen hier Werke lange, so kann das auch heißen, dass das den Banausen zuzurechnen ist, die ein Buch (per Computer) ordern, nur, weil es so oft auf dieser Liste stand. Sie möchten „in“ sein, gestresst, wie sie sind, wollen sie doch „am Bal1“ bleiben.
Der Leser aber sucht , in unserer Zeit der Massenmedien, Massenaufklärung, Massenurlaubsflüge, Masseninitativen die Intimsphäre im Buch. (Welch treffendes neudeutsches Wort aus der Fahrschulpraxis!). Das Buch im Bett bleibt etwas Individuelles. Man genießt, ohne mit Millionen wie am Glotzer gleichzeitig im Boot zu sitzen. Das Buch kann das ersetzen, was uns heute am ärgsten fehlt: Den Zuhörer. Ja - einen Zuhörer, wenn man auch allgemein annimmt, das Buch verlange, dass wir ihm zuhören. Es fehlt uns etwas für uns allein. Etwas, das wir schlecht bestimmen können. Unsere Welt scheint ja satt und zufrieden mit vorgekauten Meinungen, wie mit der Fertigkost von Primitiv-Ausdrücken, vagen Fremdwörtern, Knopfdruck-Service, Staugemeinsamkeit. Unsere neue Alltagssprache spiegelt es wider. Vor allem die Jungen, unsere wohlgenährten, sportlichen, kosmetisch-sauberen, selbstgenügsamen Jungen - sie sind ja stets auf Achse, immer mit der Technik beschäftigt. Sie rollen vorbei, sie computern, d.h. lassen rechnen, speichern, spielen, kämpfen, rätseln, verkaufen. So geben sie sich salopp im Reden. Als gäbe es keine Probleme, die die Technik nicht für sie gelöst habe, oder lösen werde. Sie sind die Erben und Nutzer der Technik und sie finden das genüge.
„Alles klar...“, „Das lass' ich auf mich zukommen...“, „Mach' ich mit links...“, „ansonsten alles prima...“. „Meiner macht 180 in Null Komma nix...“. „Die machen wir mal an...“. Es klingt, als sei alles „o.k.“. Wer liest da schon? Wer denkt? Es wird ja für uns vorgedacht. Natürlich lesen die Politiker(innen). Sie lassen sich „digest“ machen. „Digestet“ wird ja alles. Für gestresste Zeitgenossen. Die Bibel haben wir „verständlicher“ gemacht - „digestet“, sogar die Psalmen, die einmal wie Meeresbrandungsrollen an uns vorbeirauschten und sich, wie die Zecken, festsetzten im Gehirn. In ihren Reden benutzen die Politiker daher Fremdwörter wie „pragmatisch“ und „Chancen“, dass der Zuhörer eine Art Brei, vorgekocht, tiefgekühlt vorgesetzt bekommt.
Doch in den Köpfen einiger Weniger entstand stets die neue Richtung, Denker, Dichter, Romanciers machten die Wandlung, die neue Richtung.
Vordenken, vordichten, vorsingen - das taten schon die Barden. Sie kamen herum, sie sahen, was dem Volk und denen oben am Herzen lag. Die Großtaten, wie die Ausschweifungen; der Ahnen wurden verarbeitet - in Balladen; man bewegte sich, tanzte gern dazu, so wurden sie Gemeingut. Man schrieb auch auf - man ritzte. Wie scharf muss Moses erst gedacht haben, und gefeilt, gekürzt, präzisiert, um das auf winzige Steintafeln zu kriegen, was er alles seinem Volk zu sagen hatte! Dann kam die Kuhhaut - auf die auch nicht viel ging. Auf dem Papier war es dann ein Genuss: Die Feder bewegte sich, wie in einem Ballett - von den Gehirnströmen im Blutkreis-Rhythmus geleitet, über das Papier. Man brauchte nicht mehr von Mund zu Mund allein Dichtung weiterzugeben. Ich habe eine Bibel, die um 1600 gedruckt ist - sie war sicher das einzige Buch im Haus und wurde mit Ehrfurcht behandelt und täglich einige Zeilen gelesen. Ihr Einband, mit Holztafeln und Leder bezogen, die Ochsenriemen am Rücken sagen es aus. Und innen ist sie so abgegriffen! Die schönen Kupferstiche (von den Kindern, die sonntags freie Bahn hatten - es waren meist ein halbes Dutzend) angerissen, zerknickt, die Seiten wie von Mäusen angenagt).
Von Racine, Montesquieu, von Shakespeare, Leibniz, Lessing, Goethe und Schiller, von Kant und Hegel, von Balzac und Dickens, von Tolstoi, Ibsen und Hauptmann, dann von Siegmund Freud und C. G. Jung wurden Geistesströmungen gemacht, registriert, kritisiert und Umwälzungen eingeleitet. C.G. Jung bestimmt heute noch unser soziales Denken mit seiner Lehre vom kollektiven Unterbewusstsein, den Kollektivträumen. Dichter haben zwar auch Blutbäder mit verursacht. Wir wissen es aus „Der trojanische Krieg findet nicht statt“. Ich bin auch sicher, dass die Kreuzzüge nicht nur von Päbsten und ihren Schwertträgern verursacht wurden. Herumziehende Priester, Laienmönche und Barden protestierten mit mundwässernden Schilderungen von übersonnten, fruchtstrotzenden Ländereien, die nur auf christliche Grundherren warteten. Den Frieden besangen die Dichter meist erst nachher -wie wir in den letzten Jahrzehnten erfuhren.
Hätten nicht Hume, Thackeray und Dickens die Not der Armen im immer reicher werdenden England in die Welt hinaus gerufen, man hätte weiter nichts als „rule Britain, rule the sea...“ gesungen und Schätze aus fernen Ländern herangeschifft, damit die Reichen reicher wurden. Zwar wagten es die größten Redner ihrer Zeit, Pitt und Fox, die Ausbeutung der Kolonialländer anzuprangern. Die Welt horchte auf. Daheim erhielten sie drohenden Beifall. Sie ließen sogar dem Vize König von Indien, damals Generalgouverneur, den Prozess machen, weil er dort zu reich geworden sei. Von der Not in den slums sagten sie nichts (Hogarth tat es). Das war zu nah. Und der Sklavenhandel ging in aller Stille weiter, wie vorher.
Es waren die Denker und Dichter, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhielten und ihre Verantwortlichkeit für das Volk anriefen. Sie weckten mit utopischen Geisteskindern das soziale Gewissen. (Ein unbekanntes Wort - noch.) Man richtete Suppenküchen ein – für Kohlsuppen. Und die Schuldtürme wurden wenigstens inspiziert, ob Unschuldige darin saßen.
In den Notzeiten nach Napoleons Eroberungen bei uns weckten Dichter erst den Widerstandswillen. Danach weckten sie die Besinnlichkeit, als wieder Friede war. Der Weg nach innen - das „Zurück zur Natur“ (Rousseau war über den Blutbädern der französischen Revolution in Vergessenheit geraten). Denker und Dichter wuchsen aus deutschem Boden. Die Drucker hatten Mühe alle ihre Geistesfrüchte zu verarbeiten. Die Waschfrauen mussten tausende von Taschentüchern in ihren Bütten rubbeln, als „Werthers Leiden“ die Gemüter in Bewegung brachte. Gedichte, Romane, Briefromane - auch die Frauen schrieben - und wurden nun auch gedruckt. Briefe mit zwanzig Seiten und mehr (oft quer über eine beschriebene Seite, weil Papier teuer war). Es sind historische Berichterstattungen für die Nachwelt geworden. Es gab ja keine Zeitungen. Nur die Gazetten, die brachten welcher große Herr wo abgestiegen sei, ob er „zu Hofe“ gehe und welche Grundstücke käuflich seien (Goethe kaufte, auf so eine Anzeige hin, seinen Ilmgarten und baute darauf).
Jedermann las, der lesen konnte. Man war schlank, durchgeistigt und genügsam. Nicht nur bei Herzogin Amalie und Luise wurde, bei dünnem Schwarztee oder Brombeerblättertee, auf harten Stühlen gesprochen und vorgelesen. Man führte das „gute Gespräch“, das heute völlig abhanden gekommen ist. Man spielte ganze Dramen durch. Es wurde kritisiert und verbessert, gelobt und von Rivalen beobachtet. Federfrische Werke wurden so durchgeprobt, auf Herz und Nieren geprüft. Welcher Dichter würde sich nicht heute so ein (Damen)-Auditorium wünschen - so belesen, fachkundig und einfühlsam?
In Frankreich gab es den fruchtbaren Balzac und die guten Romanciers, die überall verschlungen wurden. Und bei uns gab es Fontane. Er legte einen behutsamen, aber spitzen Finger auf die Auswüchse der Gesellschaft. Adel, Armee, Neureiche, Hof wurden gegeißelt. Ebenso wie „Ehrenhändel“ und Ehrenschulden (die junge Kerle nach Amerika brachten, wo sie meist verkamen). Daheim, als Handwerkslehrling oder Schiffer neu anzufangen, wie man es heute machen würde - das war nicht „standesgemäß“.
Ibsen und Tschechow brachten die heimlichen Lieben und Sünden, die geistige Leere der Bürger zutage. In England kam Bernhard Shaw und tat - mit seinem Schalk und seiner ätzenden Satire - mehr für die Frauen, als die Suffragetten, die sich tapfer in London an Laternenpfähle ketten ließen.
Gerhard Hauptmann weckte bei uns das Gewissen mit seinen Dramen über die Not der Weber - die die Regierung geflissentlich übersah, obwohl Schwindsucht und Hungernot in Schlesien alarmierende Zahlen erreichten.
Und der „Kladderadatsch“- wie der „punch“ in England - machte sich zum Sprachrohr der öffentlichen Meinung und sicheres Zeichen des Erfolgs - sie brachten die Leser zum Lachen - sie trafen in das Schwarze. Man las übrigens daheim seit langem die „Gartenlaube“; man hatte auch Damenalmanache und die Marlitt wurde reich. Romane liefen in Fortsetzungen. Man war lesehungrig. Bücher, die teuer waren, gingen von Hand zu Hand, bei Nachbarn.
Ja - heute würde ein herabblinzelndes Sternenkind meinen, wir seien ein geistig durchtränktes Volk: Welche Fluten von Gedrucktem! Doch diese Fluten haben nur denselben Grund wie die Arbeitslosigkeit. Die komplizierten Maschinen, die alles können und auch, wie die Wurstmaschinen bei Tag und bei Nacht arbeiten. Diese Druckmaschinen häckseln alles. Wie ein guter Shredder speien sie, was sie schluckten, lustig aus: Kleinholz, Äste, Zweiglein, Abfall. So produzieren sie Wälzer (Romane, nicht Lexika) von 700 oder 900 Seiten. Und sie brauchen dabei weder Gehalt (laufendes), noch Urlaub, noch Krankheitspausen, noch Schwangerschaftszeiten, noch eine Abfindung. Sie werden alt (über 50 Jahre). Im Gegenteil, sind sie zu alt, dass man nicht einfach neue Teilchen einschrauben kann, so bringen sie noch was als Schrott. Man kann sie recyclen.
Zudem sind wohl die Hälfte unserer Bücherfluten Übersetzungen. Sie kamen anderswo „an“. Grund genug, sie hier auch zu produzieren. Die Maschine reißt ihr gieriges Maul auf. Der Markt ist ja da. Oder? Oft kommen sie unserer Mentalität gar nicht entgegen. Was in Amerika boomt - die Judith Krantz und Super-Sex-Frauen, die Erfolgstypen vom Broadway, Könige des Kommerz, die alten und neuen Präsidenten und ihre Bettgeschichten, die Kriegs- und Gestapogräuel, die Mediziner-Romanzen und Revolutionshelden (lateinamerikanisch) sie sind drüben „in“. Es geht uns mit den dicken Schwarten dann so, wie mit den Plastik-Haushaltsmonstren: Wie in aller Welt entsorgen wir sie? Ich frage mich nun schon beim Einkauf „wirst Du das behalten wollen?“ „In der Beschränkung zeigt sich der Meister!“ sagt unser Goethe. Hautnahe Schilderungen von Verführung Minderjähriger, von Choleraepidemien, von Nahostkriegen machen uns auf dem alten Kontinent noch leichte Verdauungsstörungen. Da hat der Intimverkehr mit einem Buch (am und im Bett) eben seine Schattenseiten.
Immerhin - es zeigt sich ein Wendepunkt. Für den, der hinhört und -sieht. Wir sitzen im Kreissaal der Weltgeschichte und ein Silberstreif am Horizont tut uns gut. „Nur Lametta!“ höre ich die Lehrer rufen. Na und? Mit Schwarzseherei und Resignation könnten wir die europäische geistige Vorherrschaft nicht halten. Man sieht die allmähliche Wandlung an den Einbänden der Bücher. Bisher konnten die Einbände der Taschenbücher - und was für ein Segen waren sie, als sie bei uns auf den Markt kamen! - gar nicht grellfarbig, hässlich und hart genug sein - mit verstümmelten, missproportionierten Gestalten, wie auf der Folter gezogenen, Frauen, aufgeblasenen weiblichen Akten. Wir lasen sie. Wir hofften, dass nicht nur Scheußliches drinnen sei. Doch wir erwarteten zumindest Seelenzerfetzung. Wir bekamen sie auch: Ehebrüche, Bettwechselspiele, Krankheitsschilderungen, Psychiaterberichte. Es waren viele gute dabei. Aber sie machten uns nicht froher. Anders heute: Auf den Buchtischen - sogar des Supermarktes - liegen Einbände, die zart pastellfarben getönt sind, geschmückt mit impressionistischen Bildern von Monet, Sisley, Whistler; . Blumen pflückende Maiden vor einer Landschaft, wie von Gainsborough. Hat Chagall die Verleger zu seinen Feen überredet? Ist das die neue Süßlichkeit? Es konnte immerhin eine lyrische optimistische Welle sein. „Lassen wir es auf uns zu kommen“, sagen unsere Jungen. „Uns kratzt das nicht. Aber es sollte. Denn Gedichte sind wieder „in“, höre ich. Und nicht nur bei Mädchen. Ich habe gesehen, wie ein Junge mit dem körpernah gekrümmten, zerfledderten Band des „Urfaust“ dastand. Und ein Freund meiner Enkelin „schläft mit Hölderlin“ - wie sie kichernd sagt. Sollten Shakespeares Sonnette, Goethes Gedichte, Matthias Claudius' Lieder wiederkommen?
Sollte anstatt der einfachen Annäherung, d.h. „Anmachung“ wieder ein langsames Werben in Mode kommen - mit Blumen und Liedern? In Amerika prophezeit man es. Auch die Prüderie käme wieder auf - sagen sie. Der Himmel bewahre uns! Wir sind sie ja ganz gerne los geworden.
Eins aber ist sicher: Es gibt immer noch junge Leute, die nach oben streben, im Beruf - nicht nur nach einem Job, der rasch viel Geld bringt. Und manch Einer meint es ernst. „Er hat noch nicht seine Träume alle beim Fernsehen eingebüßt (So sagen die Pessimisten). Ich denke mir, ein solcher Student befolgt Goethes Rat: „Willst Du wissen, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen“. So studiert er die Liste einiger oben Angekommener. Nach langem Antichambrieren und Kampf mit Vorzimmerhyänen bekommt er eine kurze Fragezeit. Sagen wir bei:
Frau Schröder
Frau Wieczorek-Zeul
Frau Merkel
Frau Hera Lind
Frau Marion von Dönhoff
Die Antworten?
„Egal wie - jede Chance schnappen - das Rennen vor Rivalinnen gewinnen. Zugreifen!“
„Keck die Ellenbogen nutzen; mit Charme! Vorurteile ausräumen, jede Lücke erspähen. Stets Brot, Friede, Chancengleichheit auf den Lippen. Ministersessel werden immer frei - wie beim Spiel „musikalische Stühle“. Draufsetzen!“ „Nie laut, nie penetrant sein, niemandem auf den Wecker fallen! Jedoch konstant sein. Zäh sein Ziel verfolgen. Solide wirken. Keine Bocksprünge!“ „Frohsinn verbreiten, Anekdötchen auf Lager haben, Witz und Schnoddrigkeit machen den Weg frei. Man will lachen - nutzen Sie es, auch wenn Sie stolpern, oder den Schluckauf kriegen!“ „Angreifen, Vorstossen! Den Schwachpunkt herauskitzeln und reinstoßen in die Bresche. Finger auf die Schwachstelle. Vor allem bei Männern. Nicht dulden, dass sie weiter ihre Schwächen zu Stärken hochjubeln. Plustern sie sich auf? - Ducken!“ Mit jedermann reden, „dem Volk auf das Maul schauen“, dabei wirklich hinhören! Vom Zuhören lernen. Die, die sich oben nicht halten können, haben es verlernt: Sie hören nur noch sich selbst.“ Viel hat er nicht profitiert, unser junger Streber. Am ehesten noch von Randtips, die er bekam. „Nicht die Hand küssen, nicht „gnädige Frau“ sagen - das tun heute nur Versicherungsagenten und Immobilienhändler. Oder aber mediterrane Typen, die immer was wollen!“ Keine Päckchen abnehmen, nicht aus dem Auto helfen, keine Pagenallüren! Politikerinnen und überhaupt die Großen sind Mimosen. Sie meinen, man wolle sie „anmachen“ - oder ihren Stuhl. Freimütig zugeben, dass man nicht weiß, wie Hummer oder Austern zu essen sind - und mit welchem Werkzeug, oder welches der fünf Weingläser zu welchem Getränk gehört. So was rechnet man einem Erfolgsmann aus dem Volke als Vorzug an.
Nun sind wir bei den Frauen und den hohen Damen angelangt. Ich habe sie ja beschuldigt, keine guten Leserinnen zu sein. Wohlgemerkt: Ich meine Leserinnen. Nicht Schriftstellerinnen! Schriftstellerinnen haben wir so viele wie noch nie (oder wagten sich nie so viele vor?). Und wir haben Könnerinnen genug. Aber Leserinnen? Da liegt der Hund begraben. Leser brauchen wir. Sonst stirbt wirklich die Literatur. Übrigens: (nicht ansonsten), ich ziehe meinen Hut vor unseren Schriftstellerinnen (wie eins John Kennedy bei einem Staatsakt sich erst einen borgte, da ich keinen trage), die aus ihrer Heimart verjagt wurden und ihre Memoiren schrieben.
Es gilt natürlich auch für Männer - doch waren es so wenige, die überhaupt heimkamen und berichten konnten. Dass sie, die Memoirenschreiber, für die vielen Millionen Vertriebenen sprachen (es waren so viele, wie manches kleinere europäische Land Einwohner hat) und dabei ohne Bitternis, Jammern, Revanchegelüste, ohne Pessimismus, ihre oft herzzerreißenden Erlebnisse zu Papier brachten.
Ich finde, die europäischen Literaten konnten ihnen Anerkennung zollen. Sie kamen ja als Bettler in ein von Kämpfen und Bomben in ein Chaos verwandelte Heimat. Wäre es nach dem Willen der bisherigen Feinde gegangen wären sie körperlich und seelisch gebrochen - wenn überhaupt - angekommen.
Mein Vorwurf gilt also nur den Leserinnen. Sie sind aus der Gewohnheit gekommen . Da allenthalben nach Superfrauen geschrien wird, die wie eine fernöstliche Göttin sechs oder neun Hände haben. Sie können nichts dafür. Sie haben keine Muße mehr. Oder wissen sie nicht mehr zu nutzen. Alles wächst ihnen über den Kopf. Sie sollen das Staatsschiff steuern helfen, damit es nicht wieder kentert - in Diktatur, Rassenhass oder Krieg. Das haben Eltern und Großeltern ihnen eingeschärft. Lernt! Bildet euch! Redet frei! Steht obenan! Wir - die Großmütter haben vermutlich einmal zu viel im Keller oder im Bunker gehockt, ein wimmerndes, vermummtes Kinderbündel im Arm und auf dem Schoss. Mit Hangen und Bangen auf die Einschlage ringsum lauschend haben wir dort unten Muße gehabt - bei Tag und bei Nacht - zu sinnieren. Warum war die Welt entschlossen, unsere Zivilbevölkerung systematisch auszurotten? Warum wollten sie die folgende Generation mit ausmerzen? Gehören sie nicht zum Abendland? Weil wir unsere Männer aufrichteten, wenn sie verwundet, verzweifelt, hoffnungslos von der Front kamen? Oder weil wir unseren spießigen Dämon Hitler angehört haben, ihm auf den Leim gegangen sind? Weil wir alle Andersdenkenden umbringen ließen? Weil wir den Slogan: „Willst Du nicht mein Bruder sein, schlag' ich Dir den Schädel ein!“ geduldet haben?
Als wir Großmütter herauskrochen, räumten wir die Trümmer weg. Dann bauten wir - mit Greisen und Kindern (die Männer wurden in Gefangenschaft festgehalten) aus Trümmersteinen neue Häuser. Als die Männer endlich heimkamen, sahen sie ihre Frauen und Enkelinnen stark-gestählt, selbstbewusst, erfolgsicher. Vor allem entschlossen, die Kinder sollten es besser machen, nie wieder so rein fallen. Lasst Euch nicht ducken! Strebt nach oben! Verdient Geld, redet laut mit! Alles, was wir versäumten muss euch in Zukunft in den Schoss fallen! Und sie erreichen, die Enkelinnen, dass sie gleichberechtigt sind. Sie erreichen auch, dass Vater Staat sich ihrer Kinder annimmt, wenn der Mann ausschert oder wenn er gar nicht erst Lebensgefährte sein wollte.
Die Ehe ist ja kein Hafen mehr - eher eine Fortbildungsstation, wo man lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Schlauen haben es schon vorher gelernt. Sie stehen mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. So kommen sie nicht dazu - wie einstens - als Leserinnen und Urteilerinnen die Zeitströmungen zu beeinflussen.
Diese Frauen von einst brachten was sie lasen auch unter die Leute. Sie waren still, bescheiden, geschäftig, unscheinbar. Doch beeinflussten sie die Literatur - damit wiederum ihre Männer. Nun haben sie alles erreicht: Freizeitgestaltung, Kinderhorte und -gärten, Mutterschutzgesetz, Zulassung zu allen Berufen (fast). Doch was ihnen fehlt, den jungen Erfolgsfrauen, ist Freiheitgestaltung. Die Freiheit alles zu können und zu haben, fernzusehen, mitzureden, im Computer austüfteln und errechnen zu lassen, was sie wollen, zu speichern, um ihr Gedächtnis zu schonen.
Ihre Kinder haben Kassetten, Gutenachtgeschichten per Konserve, wie Musik. Nun konnten sie mit ihrer Freiheit, die so hart erkämpft wurde, etwas anfangen. Doch es fehlt ihnen die Muße, die Dämmerstunde, die Erfordernisse eines alles bewältigenden Familienmutter, Chauffeuse, Geliebten und Berufspartnerin, die Wochenendfahrten mit Staus und die Urlaube mit festen Buchungen und Terminen - alles hat sie so vereinnahmt, dass ihr die innere Ruhe für ein Buch fehlt.
Beruflich ist sie noch dazu oft gezwungen, Bücher durchzustudieren. Es ist keine Entspannung. Joggen ist besser, oder Bräunungsstudio. Und lesen nun die Männer mehr? Sie gleichen sich ja in vielem immer an, an das andere Geschlecht, das ebenso starke? Kein Wunder, die weiblichen Hormone, die Mädchen von 14 und Frauen bis 80 nehmen, fliegen ja überall herum - in Pflanzen, im Boden, im Grundwasser, in Bäumen, am Strand, im Meer. Sie müssen sich ja - seit Jahrzehnten regelmässig genommen - allmählich in der Umwelt verteilt haben. Männer nehmen sie also irgendwie, irgendwo mit auf. Sie tragen ja auch Hosen mit je einer Pfingstrose (verschiedene Farben, wie bei den Landsknechten) auf dem Schenkel und Goldplättchen überall, wo sie es nur blitzen lassen wollen.
Vielleicht lesen sie wirklich mehr? Das Äußere macht es ja nicht. Jedenfalls sehnen sie sich sicher auch nach einer Kuhhaut zurück, auf der wenig Platz zum Schreiben blieb. So musste man feilen, kürzen und überdenken. Die Bücherschwemme macht mutlos. Dabei sind wir heute orthografisch auf der Höhe, wie nie zuvor.
Selbst die faulsten Schulkinder lernen eifrig richtig schreiben und lesen. Sie wollen ja unbedingt bald einen Computer haben, der für sie den Sklaven macht; rechnet, spielt, kämpft und erfindet (innerhalb seiner Möglichkeiten). Wir haben keine Analphabeten mehr. Wir haben viele Halbgebildete. Meine Mutter sagte: „Meide die Halbgebildeten - sie haben das Denken verlernt.“ Und sie sagte auch: „Quark erhärtet nicht - er tritt sich bloß breit.“
Ich sehe doch einen Hoffnungsschimmer für unsere Literatur im Dornröschenschlaf: Einer meiner Enkel pflegt sich, indes die Anderen draußen auf Rädern, Inlinern, Rollschuhen herumfegten, in eine dunkle Ecke um ein Buch zu ringeln, wie eine Katze mit ihrem Jungen. Ruft man ihn, um zu helfen, kommt er gelaufen. Die Muskeln sind ihm ohnedies steif geworden. Doch dann nimmt er die Sichel und legt los - und er hat sie am falschen Ende angepackt. Erste Hilfe tut Not. Seine Seele war noch nicht nachgekommen!
Schuld an der Misere ist die Technik, die über uns hereinbrach. Was war sie für ein flotter Freier, der, mit den Siebenmeilenstiefeln des Fortschrittes unsere Kultursparten überrumpelte! Zuerst kamen die Wissenschaften dran. Aus der Ehe gingen Sprösslinge hervor, die Spezialisten hießen. Sie waren vollkommen - in ihrem einzigen Fach. So vollkommen, dass sie sich Scheuklappen anlegten. Wie die Vorgartenzwerge standen sie in ihrem Revier und lugten nicht über den Gartenzaun. Sie waren, mit ihren Laboratorien, zu allem fähig - selbst einen Nobelpreis (im Team) zu gewinnen. Diese bleichen Knaben - wie aus Picassos blauer Periode -fingen an, die Wissenschaften zu „befruchten“. Und so ging es mit der Ehe der Technik mit allen Kultursparten. Jeder, der flott schreiben konnte, schrieb. „Ich habe so viel erlebt, ich mache ein Buch daraus“. Sie waren Wort-Spezialisten und hatten journalistische Talente. Und damit sind wir bei den Medien, bei Film und Fernsehen angelangt.
Ich höre die Kulturreferenten und Kulturtourismus-Experten- rufen: „Die Medien machen unsere Literatur kaputt!“ Doch gerade da sehe ich den Silberstreif am Horizont. Denn, wenn wir auch Scharen von „Scriptern“ haben - Spezialisten in ihrem Medienfach - es geht nicht ohne Dichter. Ihn sucht der Film, vor allem das Fernsehen, das ja täglich Futter braucht. Bei Tag und bei Nacht, wie das Vieh muss es betreut werden (Ich glaube Karnickel fressen auch die Nacht durch?). Denn so geschickt die Scripter auch ein Thema bearbeiten. Sie sind Trittbrettfahrer. Und - auf lange Sicht also - brauchen wir hier wirkliche Dichter. Welch ein weites Feld - würde Fontane schmunzelnd sagen! Natürlich bemächtigen sich die Filmschreiber auch der großen Romane (oder Rosemarie Pilchers). Nur der erste Wurf muss von einem Dichter gemacht sein. Das Handwerk können dann die Schreiber machen. Darin sind sie großartig. Sie haben gelernt, optisch zu arbeiten.
Doch einer Bandwurmserie ist kein Dichter gewachsen. Er kocht mit seinem Hirn den ersten Brei. Doch dann müsste er - wie in Grimms Märchen vom Hirsebrei - aus dem selben Topf immer mehr Brei produzieren. Er schwillt ja nicht von allein -und läuft über Treppen und Hof, durch alle Gassen. Spätestens beim zweiten oder dritten Themenbearbeitung seines ersten Wurfes, wirft der Dichter das Handtuch. (Wir drücken uns gern sportlich aus). Dann kommen die fleißigen Ameisen und machen weiter. Und am Ende wird es ein Flop. (Tut mir Leid - amerikanischer slang ist unschlagbar in manchen Gebieten.) Ich bin Übersetzerin und hasse Fremdworte, Lieblingskinder unserer Politiker und aller Zeitschriften.
Dichter heraus! Wagt Euch vor. Niemand als ihr ist imstande. Ihr, mit eurem speziellen Hirn-Herz-Verdauungskanal, ein Luftgebilde aus nichts, als Erfahrungen und Beobachtungen, zu machen, das wie ein festes Haus, mit „vier Säulen und solidem Dach“, Millionen von Lesern einläd, sich darin mit lachen, weinen, bibbern vor Spannung, schluchzen und sich behaglich dehnen zu unterhalten.
Dies Gebilde, das innen, auf der Netzhaut des Dichters entstand, geht um die Welt. Und das wird immer so bleiben. Es können gar nicht genug Dichter geboren werden. Ich walke einen Hefeteig gern mit der Hand. Wenn er dann geht und schwillt, forme ich ihn zu einem anmutigen Embryo. Letzthin dachte ich dabei: Wäre ich nun eine junge Frau, die gerade abgetrieben hat? Wie würde ihr wohl beim Formen? Gerät nicht etwas mit in den Teig? Es könnte ja - hätte es gelebt - ein Denker oder Dichter geworden sein! Ein Dichter(in), der wie ,,Balzac oder Galsworthy oder die Brückner, seine Generation und ihre Probleme (mit seinem speziellen Ferment in eine Form gießt, die wir alle wie einen Becher Wein austrinken. Ich sehe noch mehr Lametta - würden die Studienräte sagen - am Literatur-Horizont. Da hockt unser braver Michel, mit hängender Zipfelmütze auf der riesigen Müllhalde. Er lugt hinunter den Sumpf, darin es von Industrie- und Umweltgiften, Hormonen und Gülle gurgelt. Doch - aus diesem Morast da unten ist ein Keimchen aufgestanden und zum Baum geworden, einem kräftigen Baum, viel verzweigt und gut verwurzelt. Das ist der Umweltschutz - darin sind wir ja Vorreiter in Europa. Nirgends gibt es schon so viele Kläranlagen als bei uns. Nirgends so viele „spezialisierte“ Müll-Container. Michel kann seine Mützenspitze ruhig aufstellen.
Wir wollen - und unsere Kinder und Enkel lernen es wie die Verkehrsregeln, sehr früh - saubere Wurzeln! Warum sollten wir - da wir auch so gute Naturfilme und Tierfilme im Fernsehen haben (warum sponsert der Staat nicht Dokumentar- und Naturfilme anstatt das den Bierbrauereinen, der Schnaps- und Pharma-Industrie zu überlassen?) - nicht auch mit neuen Denkwurzeln arbeiten?
Der nächste große Krieg wird wohl um Trinkwasser gehen. Niemand anders als unsere Wälder halten das lebensnotwendige Wasser mit ihren Wurzeln fest. Ohne die Wälder hätten wir auch Erosion, Muren und Taifune. Also weniger Papier aus unseren Wäldern (denen überall auf unserer Erde) produzieren! Weniger Bücher wären vielleicht bessere! Da wir ja den Riemen enger schnallen müssen - die Steuerschraube sagt es uns deutlich - und mancher Not in das Angesicht schauen müssen, wäre es an der Zeit, statt Quantität, Qualität zu fabrizieren und zu lesen. In der Arbeitslosenschlange gäbe es ja noch Muße. Doch hört man hier eher Slogans wie: „Geld wäre genug da, man (wir) müssen es nur verteilen.“ „Die Gewerkschaften sollten die Maschinen zertrümmern, die uns das Brot wegfressen.“ „Sind es doch unsere Kinder, die wir mühsam erfanden, erbauten und vervollkommneten. Und nun fressen sie uns auf!“ Doch am Ende der Schlange, im Hof, sonnt sich Einer (oder Eine) und sinnt vor sich hin. Er sieht einen Grashalm, der in der Betondecke, die den Hof völlig einsargt, einen Spalt fand. Daraus schießt er munter hervor. Und der Eine denkt zurück an die bitteren Notzeiten, die er nur vom Hörensagen und aus der Literatur kennt. Wie schwer war es in den zwanziger Jahren! Arbeitslosigkeit (10 Mark rund pro Woche - auch für Familienväter), Selbstmorde, Pleiten, eine „Notverordnung“ jagt die Andere, die Weltwirtschaftskrise, tat das Ihre dazu. Und in dieser Notzeit entstanden Bücher, die gekauft wurden: Fallada: „Kleiner Mann was nun“, Trenker: „Glocken der Heimat“, Wiechert: „Das einfache Leben“, Ortega y Gasset: „Aufruhr der Massen“, Vicky Baum: „Menschen im Hote1“, Knut Hamsun: „Hunger“ konnte einem schlaflose Nächte machen, so realistisch war es. Diese Romane und zeitkritischen Werke „gingen“ . Sie wurden Erfolgsschlager. Die Dichter waren nicht im Notverordnungs-Chaos versunken. Geht der Eine nun nach Hause und schreibt einfach? Ein Zeitbild, ein Essay, einen Roman, einen Film? Vielleicht. Wenn er das richtige Ferment besitzt. Die Fantasie hat keinen Freiraum mehr? Presse, Hörfunk, Fernsehen, Infos, Handies - alles stresst uns. Ich denke, sie wird sich Freiraum schaffen können. Wenn sie nur wirklich schreiben will – so, wie der Leser sich Freiraum zum Lesen nimmt - wenn er einen stillen Zuhörer, das Buch, braucht.
Dienstag, 16. September 2008
Die Jugend meiner Großmutter
Erinnerungen 1890-1900
Ursula Synold von Schüz
Herausgeber Helwig ReidlEichendorffweg 6
58642 Iserlohn
H.Reidl@T-Online.de
Vorwort
Meine Großmutter Ursula hat mich in meiner Jugend mit erzogen. Ich wohnte mit meinen Eltern mit ihr in unserem Haus. Meine Mutter musste arbeiten gehen, so war ich Ende der 50er und Anfang der 60er Jahren viel bei meiner Großmutter (Sie starb 1967). In dieser Zeit muß sie für mich und meine Mutter ihre Kindheit beschrieben haben. Der Anfang fehlt leider. Ich denke, sie erzählte, dass ihr Vater Offizier gewesen war, der damals einen eigenen Burschen hatte, der ihn bedienen mußte.
H.R.
Koblenz
Die Offiziersburschen durften im Haus mit ihrem Herrn wohnen und wurden dort verpflegt. Meistens war jeder Bursche gerade von seinem Herrn begeistert und nahm dessen Interessen war. Auch wir Kinder liebten es, mit diesem Burschen zu spielen und mal sein Kommissbrot beißen zu können.
Mein Vater war groß und blond und lustig und voller Interesse, sehr beliebt bei Alt und Jung. Er hielt sich mehrere Pferde - eigentlich der einzige Sport, den es damals gab. Reiten und Kutschieren, außer der Jagd. Er war auch sehr musikalisch und sang schön und gern.
Es war bei uns zu Hause oft Besuch da, auch von den vielen Verwandten. Er hatte fünf Geschwister, meine Mutter hatte sechs Schwestern. Sie waren beide die Jüngsten davon. Daher gab es auch schon viele Vettern und Kusinen von uns, die zu Besuch kamen. Meine Eltern liebten lustige Geselligkeit und da mein Vater von seinen Eltern wohl reichlich Zulage bekam, konnten sie sich das gut leisten. Denn sonst war das Gehalt eines Oberleutnants recht bescheiden. Er war aber auch Brigadeadjudant, etwas das immer die fähigsten und gewandtesten Offiziere wurden. Alle mussten danach die rechte Hand des Regimentskommandeurs sein. Ich weiß aber nicht, ob es dazu eine Gehaltserhöhung gab oder ob nicht die Ehre allein der Lohn war.
Meine Mutter war die jüngste der sieben schönen Breithaupts aus Hannover, alles Mädels. Klein, zierlich, lebhaft, unternehmend, immer wieder oben auf war der Moment noch so erschütternd. Bis in ihr Alter war jeder von ihr entzückt, ob Mann ob Frau. Sie hieß Adele, wurde "Puschen" genannt. Sie war auch sehr geschickt und flink. Ich war die mittelste der Kinder, damals in Koblenz. Geboren waren wir noch alle drei in Hannover. Wir zwei Ältesten in der Gneisenaustraße, Richard geboren 1888, ich 1890, und Barbara 1892 in der Baedeckerstraße.
Von Hannover habe ich nur schleierhafte Erinnerung, an die Großmutter und dass ich im Kinderwagen zum zoologischen Garten gefahren wurde. An die Großeltern in Wolfenbüttel erinnere ich nur ein so großes Zimmer!
Zu unserem Haushalt in Koblenz gehörte noch die Köchin und die Kinderfrau. Die Wohnung war groß in der I. oder II. Etage. Jedenfalls gab es eine Treppe. Ich erinnere mich dreier Schlafzimmer mit roten Sonnengardienen, daneben der Elternschlafzimmer, auch das Burschenzimmer lag nach der hinteren Seite. Dort sollten wir eigentlich nicht hineingehen. Es gab einen langen Flur. Dort auf dem Fensterbrett stand der wunderschöne Christengel. Aber wir durften nicht dableiben, bis er hinausflog!
Von den Vorderzimmern sehe ich noch das Esszimmer vor mir. Nebenan war das Wohnzimmer mit einem "Twist", eine erhöhte Fußbodenstufe mit meiner Mutter Nähtisch am Fenster und davor ein Balkon. An dem großen Tisch in der Sofaecke spielten wir oft mit unserem Vater Würfelspiele und ähnliches. Neben diesem Zimmer war der Salon in hellrötlicher Seide, in dem wir Kinder wohl nur Weihnachten spielten. Dann kam unser Spielzimmer, Bärbchen und ich hatten jeder unsere Spielecke, ich hatte für meine Puppen zu Weihnachten einen geräumigen Schrank bekommen. Außer der Puppengarderobe passte auch mein rosagoldenes Teegeschirr hinein. Auch auf einen mit Veilchen bemalten, zweiwandigen kleinen Wandschirm war ich sehr stolz. Wir Schwestern spielten gern mit unseren Puppenkindern. Bärbchen war meist die Köchin und fragte mich "Nege(r)frau" ("Gnädige Frau") was sie einkaufen solle. Dann fuhren wir hintereinander unentwegt im Kreis herum, ganz in unsere Rollen vertieft. Manchmal musste auch unser Dackel schön warm im Wagen spazieren gefahren werden - er ließ sich das gern gefallen.
Zwei Sachen waren unser Kummer: Mittagessen - wir mochten nie aufessen und dann nicht nach Tisch ins Bett. Einmal haben wir uns ganz leise angezogen und sind aus der Wohnung geschlüpft, erst mit Herzklopfen. Waren wir doch nie allein ausgegangen.
Und dann sehr stolz und unternehmend. Ich sehe uns vor einem kleinen Verkaufsstand stehen und sehnlich wünschen, etwas kaufen zu können- wie die Großen - aber wir hatten ja kein Geld. Sonst war da nur ein grüner Platz mit einem grünen Zaun.
Wir waren kaum um die Ecke, als sie uns heim holten - wir waren drei und vier Jahre alt. Heute wäre das ganz natürlich, dass so kleine Kinder allein auf der Straße sind, aber damals war es für so behütete Kinder ein großes Abenteuer.
Am Rheinufer gab es einen Garten mit einer Pergola voll Weintrauben, dorthin wurden wir fast jeden Nachmittag geführt. Dort kamen oft Kinder zum Spielen. Ihre Eltern wohnten dort ganz nah. Sie waren mit meinen Eltern befreundet. Sie hießen von Hillern. Dort waren lauter Häuser, die in Gärten lagen.
Oft sahen wir auch zu, wenn die Pontonbrücke - aus ineinander geschobenen Holzbooten mit einer Planke daran - geöffnet wurde, wenn Schiffe weiterfahren wollten. Sie führte hinüber nach Ehrenbreitenstein.
Oft auch wurden wir oder einer von uns Kindern im Wagen mitgenommen, zur Fahrt am Rhein oder der Mosel entlang. Mein Vater kutschierte selbst und die Pferde waren jung und feurig. Ich weiß, meine Mutter hatte oft Angst. Aber die Pferde mussten ja immer bewegt werden, die Schimmel "Max und Moritz" und die Braunen "Liese und Lehne". Es war eine sehr fröhliche, sorglose Zeit. Alles schien gesichert und ohne Unterbrechung immer so zu bleiben.
Das Reich stand gefestigt, trotzdem unser Kaiser Friedrich nicht gesund schien, aber sein Sohn war ja auch schon erwachsen und schon Enkel da. Unser geliebtes Kaiserhaus blühte. Die Nachbarländer achteten uns, es war überall Friede.
Die Bürger waren zufrieden, und doch bescheiden und einfach. Keiner wollte Gleichheit für alle. So wie es war, war es von Gott gegeben. Jeder tat die ihm auferlegte oder ererbte Beschäftigung genau und nach bestem Können. Natürlich gab es Faule und Nichtsnutze, die in große Armut gerieten, aber nicht die Sucht, es so zu haben wie die wohlsituierten Bürger oder die Rittergutsbesitzer. Ein jeder Stand hatte sein Standesbewußtsein und wurde auch darin geachtet. "Schuster bleib bei deinem Leisten". Sie waren zufrieden und wollten gar keinen Luxus. Ein jeder Handwerker war stolz auf seiner Hände Arbeit und ein strenger Meister seiner Lehrlinge, die ihm nicht seine Ehre und Anerkennung vermurksen durften. Wie überall verlangte man Ehrerbietung und Höflichkeit von der Jugend, besonders von denen, die im Leben eine Stellung ausfüllten oder ererbten. Wie schön waren die Möbel, die so individuell und sorgsam und zweckmäßig gearbeitet waren. Es wurde damals liebevoll und mit eigenen Gedanken die Arbeit aufgenommen und so solide gearbeitet, dass sie für viele Generationen verwendbar waren.
Es gab in meiner Kinderzeit nur Petroleumlampen und Kerzen, es war solch trauliches Licht - beschien ja nur einen kleinen Kreis - aber gerade das regte die Phantasie an, dieses lebende Flammenlicht. Wie schön war ein Festsaal, nur mit Kerzen beleuchtet! Licht und Schatten spielte in den Augen und den seidenen Kleidern und der schimmernden Festtafel und trug zu der festlichen Stimmung bei und verschönte alles.
Die Familien, die einen gewissen Wohlstand hatten, hielten sich "Personal". Im kleinen die Magd und den Burschen und wie bei uns, die Köchin (das Hausmädchen oder die Zofe), die Kinderfrau und vom Hauptmann an außer der Hausburschen den Stallburschen. Zumeist brachten sie der Herrschaft allen guten Willen und Treue entgegen. Oft blieben sie mehrere Generationen in derselben Familie. Es war alles so verlässlich, es gab so viel ehrliche Leute - so selten Mord und Totschlag. Das junge, endlich wieder erstandene Kaiserreich gab Rückhalt und gute Zuversicht.
Doch ging es auch damals manchmal aus aller Sicherheit in eine ungewisse Tiefstimmung. Eines Tages wurde mein Vater ins Wohnzimmer getragen und auf das Sofa gelegt. Mein sonst so großer, kräftiger lebensvoller Vater lag blass und stöhnend, unsere Mami weinte und viele Leute standen im Zimmer. Es wurde viel geflüstert und immer sahen wir Tränen in den Augen unserer Mutter. Es war ein Herzanfall - ein Herzfehler, der wohl schon durch schweren Gelenkrheumatismus, den er als Schüler hatte, verursacht wurde. Meinem Vater wurde empfohlen in den Süden zu gehen.
Nervi
Er wurde beurlaubt und wir reisten nach Nervi, Riviera. Uns Kindern gefiel das sehr. Allein die vielen flinken grünen Eidechsen, die wir immer auf dem Weg ans Meer neben der Felswand sahen, waren ein schönes Erlebnis. Einmal kam ein deutsches Schiff. An Bord war der todkranke Kaiser Friederich. Er schickte seine Grüße seinem Offizier, unserem Vater einen weißen Rosenstrauß. Die Eltern waren viel mit Deutschen zusammen, Kinskis und Comptesse Bellagarde - fröhlich, wie meine Eltern beide gern waren. Es kam auch Vaters Schwester Anna und sein Bruder Hans.
Onkel Hans hielt am letzten Morgen Vaters Hand, wir wurden früh aus den Betten geholt und Vater segnete uns und sah uns so ernst an und unsere Mutter saß so weinend am Fenster. Wir wurden kaum wieder ins Schlafzimmer gebracht, wo wir drei Kinder zusammen schliefen. Richard fing gleich an mit der Eisenbahn zu spielen. Ich verstand das nicht. Es war doch alles so unheimlich und unser Vater starb doch. Ich sehe dann noch Vaters Bett und er ganz mit einem Türvorhang zugedeckt. Wir durften ihn aber noch einmal sehen. Ich verstand nicht, warum man ihm das Gesicht zudeckte, das musste ihn doch stören - es war wohl wegen der Fliegen, die nicht dahin sollten. Von unserer Abreise erinnere ich nichts.
Wolfenbüttel
Ich weiß uns nur wieder in Deutschland, in Wolfenbüttel, im großelterlichen "kleinen Schloss" neben dem großen Schloss im Park an der Ocker. Dort wurde unsere Schwester Jutta geboren. Das Schloss gehörte damals schon Tante Anna, Mutters Schwester. Im Park auf dem anderen Ufer der Ocker gab es einen Hügel mit einem Gartenhaus, das bunte Glasfenster hatte. Darunter gab es durch den Berg einen Gang, der uns verboten war zu durchkriechen - wegen Baufälligkeit - aber gerade das reizte uns und unsere Vettern, es zu erkunden.
Mit diesen Vettern, Karl-Ludwig und Werner waren wir doppelt verwandt. Ihr Vater war der älteste Bruder unseres Vaters - er hatte die Bank geerbt und das Parkgrundstück über der Ocker. Die Mutter war die Schwester unserer Mutter.
Mit den Vettern war es sehr lustig. Sie waren zwischen uns Älteren im Alter. Sie waren recht verzogen und erlaubten sich alles. Gestraft wurde nur der jüngere Werner. Der Älteste war der Verzug der Mutter. Unsere Mütter vertrugen sich nicht gut.
Die unsere wurde von allen geliebt und Tante Emma war neidisch. Sie ließ sich gern "Marquise" nennen und herrschte gern. Onkel Luis tat uns oft leid - aber recht hatte wohl Tante Emma, die flinkere und gescheitere von beiden. Sie hatte an Stelle unseres geliebten Gartenhauses eine große Villa - wir fanden sie protzig und ungemütlich.
Braunschweig und Blankenburg
Nach Koblenz wollte meine Mutter nicht zurück und sie suchte Wohnung in Braunschweig. Dort wohnte ihre älteste Schwester Helena. Ihr Mann war dort Regimentskommandeur von Brauchitsch. Wir sahen sie wenig. Die ältesten Cousinen waren erwachsen und hatten solch schönes, gepflegtes Zimmer. Man durfte nichts berühren und das verdross uns.
Auch Kusine Carla Wegner wohnte in Braunschweig. Eine sehr schöne, aber kühle Natur. Sie hatte ein schönes Haus zum bewohnen in der Wilhelmsallee. Es waren drei Söhne dort, mit denen wir nur wenig spielten. Carla war die älteste von Tante Lilly, die zweitälteste Schwester meiner Mutter. Ihr Mann war Kreisdirektor (Landrat) in Blankenburg Harz. In Blankenburg lebte auch meine Großmutter mütterlicherseits, Lina Breithaupt, eine liebe alte Dame. Sie trug immer ein Spitzenhäubchen auf dem Scheitel, werktags schwarz mit Veilchen, sonntags und festtags war es aus Goldspitzen, auch mit Veilchen. Sie war noch schön und geschmackvoll gekleidet, aber recht wunderlich geworden. Sie schenkte mir immer etwas. Ich erbte von ihr einen entzückenden eingelegten Nähtisch, halb rokoko - halb empire. Bei ihr bekam ich den ersten Unterricht, es kam eine Lehrerin dazu in ihren Salon. Aber das Lernen gefiel mir gar nicht, ermüdetete mich nur gräßich. Es war so heiß in Blankenburg.
Im Herbst zogen wir dann nach Braunschweig in die Adolfstraße, in eine Villa. Souterrain und Erdgeschoss. Unten waren die Wirtschaftsräume und Zimmer der Köchin und der Amme Alma. Oben war ein großes Esszimmer, meiner Mutter Salon. Ihr Schlafzimmer, unser Kinderzimmer, unser Mädelschlafzimmer - Richard hatte ein kleines Zimmer für sich. Es kam doch noch ein Kinderfräulein, Fräulein Bauch.
Ich sehe uns erwartungsvoll am Fenster stehen und ihre Ankunft erwarten. Wir nahmen uns vor sie zu ärgern, wir wollten kein Fräulein haben! Wir habe es ihr bestimmt nicht leicht gemacht. Sie war auch so höflich und mit ihrer langen Nase. Sie soll gesagt haben, als sie uns sah: "Das sind ja lauter Engelchen mit diesen blonden Löckchen." Sie musste mich zur Schule bringen, aber meist vergaß einer von uns beiden den Schulranzen. Einmal mussten wir, so will es Jutta aus dem Fenster beobachtet haben, meinen Puppenwagen mitnehmen - somit brüllte sie, dass Alma uns beschimpfte.
Ich bekam Klavierstunden und fand es unmöglich 3/4 oder 16/4 Takt zu begreifen, während ich gern mit den Tönen spielte.
Unser nächstes Fräulein war Fräulein Schrader. Sie liebten wir alle. Mit ihr spielte ich gerne Klavierstücke. Richard und Bärbchen brachten sie von ihrer Reise nach Gotha, zu Tante Marie, die Schwester meiner Mutter, die dort verheiratet war. Ihr Mann war Major, dort im Regiment von Beesen. Sehr unglaubwürdig kam mir vor, dass es in Gotha Licht gäbe, ohne Gas und Kerzen und Wagen, die auf Schienen liefen, aber ohne von Pferden gezogen zu werden! Es hieß "elektrisch"! In Braunschweig hatten wir in den Schlafzimmern Petroleumlampen, und eventuell Nachtlichter, in den Wohnzimmern Gasbeleuchtung. Ich sehe das wohlige, fröhliche Licht der kleinen Petroleumlampe, wenn sie Alma mit herunternahm in das große feuchtwarme Badezimmer. Sonnabends bekamen wir im Bad die Haare mit geschlagenem Eigelb gewaschen.
Unser Garten ging hinten bis an die Oker. Der Garten war herrlich zum Spielen. Richard bastelte dort viel zurecht. Mit Carl von Mausfeld setzten sie eine kleine Dampflokomotive in Gang - uns war das immer unheimlich. Carl war Bärbchens erster ernsthafter Verehrer.
Richard baute eine schöne Holzhütte mit Feuerstelle. Der Schornstein war aus Blechbüchsen zusammengesetzt und ging bis oben zur Mauer. Es wurden hauptsächlich Kastanienblätter verbrannt. Das qualmte fürchterlich, besonders in das Neubaugrundstück, worauf dann eine Beschwerde von dort kam. Der Kaffeeklatsch dort war zu stark gestört worden.
Richard war zart, besonders hatte er immer gleich Bronchialkatarrh.
Wir waren immer noch schlechte Esser. Heutzutage findet man unsere damaligen Portionen sicher groß genug. Meine Mutter bekam jede Woche einen Schock Eier (60 Stück) vom Land gebracht. Wenn wir im Garten waren, gingen wir zum Küchenfenster und die Köchin gab uns dann geschlagene Buttereier. Das schmeckte uns herrlich.
Jeden Tag nach dem Mittagessen mussten wir mit "Fräulein" eine Stunde spazieren gehen. Ich hasste es, es machte mich so schlapp. Braunschweig hat so dünne Luft. Erträglich war es nur, wenn wir durch Dinge die Zeit verkürzten. Wir sangen laut und mit vielen Versen alle Lieder, die wir wussten, mit Begeisterung: " Es braust ein Ruf wie Donnerhall (Deutsche Wacht am Rhein)", "Heil dir im Siegerkranz"
(1. Vers: Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil Kaiser, dir!)
wobei uns die „Wonnegans“ immer etwas "spanisch" vorkam. Weiter viele Volkslieder und Soldatenlieder.
Unsere Mutter war viel eingeladen. "Bei Hof" - so nannte man den Herzog und seine Umgebung im Schloss - gab es Marzipanplätzchen mit Emblem darauf. Die brachte Mutter uns mit und sie schmeckten beinahe wie etwas aus dem Himmel!
San Remo
Aber all das fröhliche Leben wurde abgelöst durch die Sorge um Richards ewige Husterei. Deshalb reiste meine Mutter wieder mit uns im Winter nach Italien, San Remo. Sehr interessant war die Eisenbahnfahrt durch die Schweiz. Die hohen Berge, die vielen Marterln und Heiligenbilder. Wir versuchten sie zu zählen und die Tunnels, das gab nach all der Sonne Nacht und dann dicken Rauch, so dass man kaum noch etwas sehen konnte. Auch die Tunnels versuchten wir zu zählen.
Der lange Winter in San Remo war herrlich. Schon allein das große Hotel. Allein dort die Warmluftheizung. Sie kam aus runden Gittern, die im Fußboden eingelassen waren. Wir trugen damals plissierte Hängerkleidchen. Wenn man sich nun auf die Löcher stellte, wurden sie wie ein Vorhang aufgebläht. Diese Vorführung machten wir gern, wenn neue Gäste kamen.
Auch hörten wir den italienischen Straßensängern, die oft vor dem Hotel spielen durften, ihre Lieder ab und ließen sie dann geschickt mit den buntseidenen Zipfelmützen, die sie hatten uns damit hören. Das brachte uns viel Schokolade ein. Aber besser noch schmeckte die Mandarinen frisch vom Baum und die Feigen, wenn sie dunkelblau und innen ganz rot waren. Wie viel Narzissen- und Veilchensträuße brachten wir von den Spaziergängen mit! Es war so interessant, in die am Berg liegenden Dörfer zu gehen. Dort gab es immer verlassene halb verfallene Winkel, aber mit Blüten überzogen. Wie stark rochen da die Geranien und Rosen! Herrlich am Strand zu spielen mit den vielen interessanten Steinen und Muscheln.
Dann gab es eine große Weihnachtsschau auf der Bühne im Saal und später den Karneval. Meine Mutter hatte solch blumengeschmückte Droschke gemietet und wir durften in unseren schönsten Kleidern und Spitzenhütchen auf dem offenen Verdeck sitzen und mit Schlangen werfen und empfangen. Und wie bunt geschmückt waren alle Straßen, hauptsächlich alles mit Blumen.
Fräulein Schrader gab uns etwas Schulunterricht und Richard musste für Latein zum deutschen Pfarrer gehen. Doch auch diese sonnige, frohe Zeit ging vorüber und unsere Wirtin, Frau Wülfing, lud uns zum Abschiedskaffee ein. Wir mussten ihr noch einmal vorsingen und bekamen dafür Schokoladengeld in Silber- und Goldpapier. Auch vorguckende Veilchen gab es.
Friedrich Rhoda
Nach Braunschweig gingen wir nicht zurück. Wir fuhren nach Thüringen, Friedrich Rhoda. Dort hatten wir zusammen mit Tante Marie und Tante Frieda, die schon Witwe war, und ihrer Tochter Ellen eine Villa Kade gemietet.
Die Waldspaziergänge gefielen uns. Tante Marie konnte so schon dabei von all den Sagen erzählen, besonders vom "Gottlob" so der Ritter sagte als er die Prinzessin aus dem steilen Berg gerettet hatte "Gottlob"!
Herzlich schmeckte das dort gebackene, dunkle Landbrot und der fette Thüringer Katenschinken.
Gotha
Dann zog meine Mutter nach Gotha, Gartenstraße 19 in ein schönes Haus. Dort mietete sie die I. und II. Etage. Dass Gotha so viele Jahre mein Domizil sein sollte, ahnte man damals noch nicht.
Sehr liebten wir "Onkel Helmuth". Er kam so oft mit seinem leichten Sportwagen und rassigen Pferden und nahm uns mit zum ausfahren. Auch konnte er mir so viel in unserem Rauke Geschichtsbuch so anschaulich erklären.
Aber dann sollte er unser Vater werden und das ging mir gegen das Gefühl. Warum? Wir hatten doch unseren Vater gehabt! Nur Richard sagte gleich „ja“, obwohl meine Mutter sich scheute es gerade uns beizubringen.
Verlobung und Hochzeit war ja dann schön aufregend. Aber warum meine Mutter nicht wenigstens einen von uns auf die Hochzeitsreise mitnahm, konnten wir nicht begreifen. Wir waren "pikiert". Da halfen auch die wunderschönen Mitbringsel aus Paris nichts!
Aber unseren neuen Vater liebten wir trotzdem richtig innig.
Samstag, 5. Januar 2008
Memoiren meiner Mutter
Da kam die Allerschönste
Es war Spätsommer. Im Wallgarten unter dem Schloss hingen Früchte wie goldene Monde von allen Bäumen. Hier hatten Menschen und Tiere seit Jahrtausenden ihre Abfälle angesammelt und hier gediehen die Obstbäume so unvergleichlich.
Wir hingen in den Baumwipfeln und ernteten und kauten dabei genüsslich. Die Ernte galt unserer Spezialkreuzung: Gravensteiner-Boskop. Wir, das waren drei langbeinige Basen- eigentlich Schwippbasen – jedoch unzertrennlich.
Petra, unsere Große, hatte Abitur gemacht. Sie besaß was mir fehlte: Schlagfertigkeit, Geistesgegenwart. Sie war zudem unsere Intellektuelle. Sie hatte nicht den behaglichen Humor der Mutter, jedoch einen scharfen Witz. Verstand ein Verehrer es, sie herauszufordern, so flogen die bonmots wie Pingpongbälle für und wider.
Einmal im Freibad stand sie – ganz arische Supermaid mit ihrem langem, goldblondem Germanenhaar – vor einer Bank voll kecker Burschen:
„Galerie schöner Männer – wählen Sie!“, rief einer. „Danke, bin versorgt“, sagte Sie kühl.
„Vielleicht nicht gut genug?“, damit sprang er auf, die Muskeln spielen lassend. Die anderen folgten unisono; die nackten Athletenbrüste reckend.
„Gut genug - “, sie streckten sich.
„Sieht man’s mir nicht an? Die Frau die hat ’nen guten Mann, der sieht man’s am Gesicht wohl an! Von Goethe, nicht von mir“.
Petra war, trotz ihrer Länge, zierlich gebaut; mit rassigem Köpfchen. Mamà sagte, sie mit Maleraugen messend: „Ganz nach dem goldenen Schnitt!“
Petra traf nicht nur mit Worten. Sie handelte treffsicher. Als wir einmal in den Dolomiten an einem Steilhang kraxelten, rutschte Mamà über uns ab. Sie fuhr blitzschnell in polterndem Steinhagel bergab. Petra warf sich einfach quer auf die Piste, in ihrer ganzen Länge. Sie bremste tatsächlich die Mur ab, die Mamà losgelöst hatte. Ich hatte nur vor Schreck versteinert zugeschaut.
Birgit, rosig und appetitlich wie ein Borsdorfer Apfel, hatte von allem reichlich: Busen, Locken, Lippen – trotzdem sie auch lang war. Sie sprühte „Lebenslust aus allen Knopflöchern“, so Mamà. „Ich würde sie wie Anders Zorn1 malen, im prallen Mieder, knallrotem Norwegerrock, den klaren Strahl der Pumpe herausfördernd. Backen und Rock leuchtend, mohnrot.“
Birgit würde dem Landarbeitsdienst nicht entgehen (Zwang bis 22).
„Huch, die Uniform“, rief sie, „Röcke, als trüge man darunter Koffer; Knubbel überall! Olivbraun, macht uns Blonde grüngräsig. Und die Stoffe: ‚Brennessel’, ‚Seetang’. Ich mach’s Pflichtjahr vorher – beim Onkel in Pommern wär’s knorke.“
Das Pflichtjahr – bei kinderreichen auf dem Land – wurde als ehrenvoll angerechnet, galt aber nicht als Ersatz für Arbeitsdienstpflicht.
Wir waren ein fleißiges kicherndes Trio. Es zwitscherte, gluckerte, fiepte im Beerendickicht, im Gemüsefeld, aus den Baumkronen. Wir hatten Hühner (Tante Babette), die wir mit Brot und Kartoffelresten fütterten. Wir waren weitgehend Selbstversorger – wie das bald offiziell heißen sollte. In der Zeit, der siegreichen, heroischen, entbehrungsreichen, die erst kommen sollte. Wir waren um so fester entschlossen noch mal auf die Pauke zu hauen, da wir nächstes Jahr in den Sielen sein würden. Birgit wie gesagt.
Petra hatte schon vom „unjungen“ Juravetter vorgefühlt, eine Stellung in Berlin im Studentenwerk in Aussicht. Studenten mussten zu „Wehrertüchtigungsübungen“, so dass für Mädchen Stellen frei wurden. Petra war eigentlich überqualifiziert. Sie hätte Mittelalterliche Geschichte studieren wollen. Wer fragte danach? An ein Studium konnte keiner von uns denken. Man bezahlte ja ein Studium. Auch die höhere Schule kostete Geld. Der Staat - Hitler – hatte dazu gerade die Zulassungsquoten der Frauen erheblich gekürzt, auf 5%.
Und ich? Ich war entschlossen, auf der frisch aus der Taufe gehobenen Filmakademie in Berlin zu studieren. Die Geflügelzucht in Tirol war nur der Auftakt gewesen. Der Film war noch immer mein fernes, aber festes Ziel. Ich hatte Tanten und Onkel in Berlin- mit Klappbett oder Sofa. So würde die Miete wegfallen. Die Studiengebühren? Nun, mein Zeilengeld- ich schrieb kleine Artikel für die Lokalzeitung – war inzwischen auf ganze 0,11 Pfennige angestiegen. Nur war die Lokalzeitung nun „gleichgeschaltet“ (Völkischer Beobachter). Alles wurde von oben geliefert. Blieb unter’m Strich – höchstens sonntags – eine viertel Spalte.
Ich hatte jedoch einen Coup gelandet! Beim Rundfunk! Seit kurzem lieferte ich für die Kinderstunde Kurzmärchen. Die Sender zahlten! Nahmen sie von 5 Kurzmärchen etwa eines an, so bekam ich das Zehnfache meiner freien Mitarbeit bei Zeitungen. Meine Gönner, die treu blieben, waren die Grenzstädte: Königsberg und Breslau. Mir genügte es, dass sie nicht obrigkeitshörig waren. Man höre und staune: Richtig ausgerichtete Sender brachten nichts „unheroisches“ mehr. Frankfurt und Leipzig schickten zurück. Was war geschehen? Das Propagandaministerieum hatte die Nase gerümpft. Goebbels wollte Heroen heranziehen – keine Weichlinge. Märchen sollten durch „Mathen2“ ersetzt werden. Rosenbergs trutzige Herrenrasse sollte gestählt aus dem Kindergarten hervorgehen.
Nach Krieg und Chaos passierte es mir, dass mein musikalisches Märchenspiel vom Stadttheater auf den Spielplan gesetzt wurde. Man musste ja voraus denken, einstudieren, die Wintersaison ausarbeiten. So „stand" mein Stück bereits. Denn das Abwarten, dass die Besatzungsbehörde ihr o.k. für den Spielplan gäbe, dauerte lange. Man wartete oft ein Jahr, bis die Genehmigung kam - wenn man bereits einige volle Häuser erzielt hatte. Man nahm die Kanadier - die Herren in Ostfriesland (unserer Zone), nicht allzu ernst. Man probierte, man teilte die Rollen ein, beschaffte, aus dem Fundus (der war, in einem Keller gerettet worden - ein großes Glück). Ich machte, mit dem jungen Komponisten, der auch als Korrepetitor arbeitete, die Lieder, Tänze und Duette, auf geliehenem Klavier herumtippend. Es war verstimmt - irgendwo im schimmeligen Keller überlebt. Als wir schön im Zug waren, kam der Nackenschlag.
Die Zensur verbot das Stück! Begründung: „Zu grausam für die demokratische Umerziehung benötigende deutsche Jugend. Sadistische Impulse könnten geweckt werden. (Es kam ein Zauber, der Seelensuppe kochte, darin vor.)“
So resignierten wir. Man führte Hänsel und Gretel auf. Eine Hexe, die Kinder brät und isst war - da weiblich - für die Besatzer nicht anstößig.
So endete meine Karriere als Bühnenautorin – nipped in the bud - wie Mamà es nannte. Und: „keep a stiff upper lib" (sie übte, um Stunden geben zu können). Es stimmte ja was die Leute sagten, wir, oben im Schlossviertel, seien reaktionär. („Nu gucke. die adlichen Schweine-ham wieder die Treppe nick kescheuerd. Die machen Samsdags vor’n Wald, ei verbibsch !“)
Wie so oft unter uns, kam das Thema Aimée auf. Sie war nur mit Petra und Birgit verwandt. Ihr Vater hatte ein Rittergut und war Diplomat. Sein Name zeigte seine vornehme hugenottische Herkunft: „Saint Pure-Honorée“. Wir nannten Aimée kurz „das Püree“, denn sie besaß eine Haut so zart und hell wie frisch geschlagenes Kartoffelpüree, das Tante Babette, die Mutter von Petra und Birgit so meisterhaft bereitete, um es dann mit Rotkohl und Thüringer Bratwürsten zu servieren.
Wir drei Blondinen waren um die zwanzig, jedoch noch in der Pickelphase. Wir fühlten uns wie Landpomeranzen mit schorfiger Haut und dicken, weißen Narben auf den Knien. Dagegen hatte unsere Kusine Aimée die makellose Schneewittchenhaut einer Rotbraunen. Sie war zierlich, wohlgerundet und hatte dunkelbraune Gazellenaugen.
Wir schnurpsten also die leicht angedrückten Äpfel - ....die guten ins Töpfchen ...- , schleckten uns dabei den zuckersüßen Apfelsaft vom Kinn und besprachen Aimées letzte Ballgarderobe. Die selbe, die sie auch zum Rennen, ins Theater oder beim Platzkonzert trug. „Der ganze Sattelplatz staunte und die Rösser äpfelten zu ihrer Huldigung“. Dieses Bild stammte von Birgit, der Ironie eigentlich nicht lag.
Wir besprachen auch Aimées Verehrer. Sie waren blut-jung, wie zum Beispiel Enzo, ihr flammender Fähnrich, karottenhaarig und ergeben, oder schon alt.
„Ja, so wie der Commodore3 – ältlich eben...“, fuhr Birgit fort. Wir waren in einer Phase, in der man Männer über 34 für alt erklärte.
„Wenn auch noch ganz drahtig. Hat er nicht ein bisschen Hautgout, der smarte Geschwaderkapitän, der Horstcasanova?“ Birgit hatte heute eine scharfe Zunge, die, die sonst immer die lachlustigste war. Der Fliegerhorst war unsere Hauptgarnison.
So eifrig wir auch schwatzten, wir legten ganz behutsam die makellosen Äpfel ins Pflückkörbchen. Bis Ostern würden wir damit den Küchenzettel bestücken. Später würden dann noch Pastorenbirnen und Reinetten hinzukommen, zuletzt Zwetschgen und Nüsse. Beerenfrüchte waren bereits in Keller, sicher in Gläsern und Tontöpfen, denn Vorratshaltung tat Not. Ich, meine Mutter, meine Basen und deren Mutter, wir lebten praktisch aus dem Garten und lebten auch im zugehörigen Stiftshaus nebeneinander.
Kauend rief Petra aus der Krone des anderen Baumes zu mir herüber: „Eins muss man zugeben, pikant ist sie, das Püreechen. Mit ihrem auburn4 Haar, wie aus Ivanhoe. Dazu große Augen mit Samtwimpern wie riesige Nachtschmetterlingsfalter. Sie wickelt Männer mit ihren Sirupblicken um den Finger.“
Dann fügte unsere immer faire Große hinzu: „Sie ist eben kurzsichtig, daher kann sie nichts für ihre Nachtfalterallüren.“
„Come hither5-Blick!“, rief Birgit etwas undeutlich, da vollmundig beschäftigt. „Seelenvoller Augenaufschlag – bärig! Doch was soll's? Reh- oder Gazellenblick? Unser Dietz sagt es anders: ’Staubsauger Marke Vampyr6’. Der nimmt kein Blatt vor sein loses Mundwerk. Das ist ein richtiger Dietz-Flinke Zunge-Ausspruch. Dein Georg Inge, der würde so was nie sagen. Der ist loyal bis unter die Knochen. Das wäre unter seiner Würde.“
Doch Petra wies uns in die Schranken, da das Gespräch zu einem Kicherduett entartete: „Der Commodore ist richtig. Er ist Akrobat, Könner und in allen Sätteln gerecht. Das gilt sowohl für die Reiter als auch für die schwarzen Flieger. Viele von ihnen kommen ja aus anderen Waffengattungen. Sogar ein Seemann ist bei den Testfliegern. Er wird ‚la paloma’ genannt, weil er Heimweh nach den Häfen hat. Der Commodore hat viel hinter sich gebracht. Das gefällt eben Aimée.“
Birgit prustete verächtlich: „Thora, unsere flotte Amazone, himmelt ihn auch an. Selbst Ulrike, das Goldtöchterchen hegt für ihn Gefühle, obwohl sie praktisch mit Radieschen verlobt ist.“ Leutnant Radieschen war der jüngste unserer Fliegerfreunde. Immer rosig, wie aus Marzipan, ein aristokratischer Märchenprinz, der es schwer hatte, sich bei den Mannschaftsgraden durchzusetzen.“
Ich wollte das Gespräch nach diesen Umwegen wieder auf Georg zurückbringen: „Ein fabelhafter Tänzer ist der Commodore. Nur nicht groß genug für uns.“
Wir waren alle über eins siebzig. Wir waren äußerlich eher birkenhaft, innerlich dagegen noch schlacksig fohlenhaft.
Birgit schaukelte nur unter mir. Der solide alte Baum schwankte, als sie losschmetterte:
Ins blaue Leben – in ein wunderbares Glück,
ins blaue Leben wandern wir ein kleines Stück.
Wir suchen alle Liebe, Sonne und Musik,
ins blaue Leben wandern wir ein Stück.
Ein bisschen Fröhlichkeit und Herzlichkeit,
und Seeligkeit,...
Nun sangen wir mit. Der Schlager „ins blaue Leben“ entsprach genau unserer Weltanschauung. Dieses Jahr muss auf die Pauke gehauen werden. Flirten, kalbern, tanzen, lachen – im stramm marschierenden Vaterland. Wir machten ja sonst alles mit, was von uns erwartet wurde: Den Riemen enger schnallen! Winterhilfsbeitrag! Eintopfsbeitrag! Volkswohlfahrtsbeitrag! Sparen, das konnten wir. Das brauchte uns keiner zu lehren. Wir trugen willig die ererbten Internatskittel unserer Mütter. Blauweiß gestreifte Leinenkittel, die nach klösterlichen Schulen wie „Gnadenfrei“ und „Heiligengrabe“ rochen. Unsere Tanzkleider wurden aus Kostümen hausgeschneidert, die im tonnengewölbeförmigem Speicherkoffer geschlummert hatten. Wir stellten keine Ansprüche. Wir waren musterhafte Staatsbürger. „Bloß amüsierwütig sind die Gören, dazu noch uniformhörig“, so sagten die Brüder Petras und Birgits.
„Ich komme mir schon vor, wie eine Arbeitsmaid“, sagte Birgit. Sie konnte dem Arbeitsdienst nicht ausweichen, denn sie war 20 Jahre und es war Pflicht bis 22 dort hin zu gehen.
„In dem störrischen, beuteligen Beiderwandskittel. Ich übe lieber für nächstes Jahr.“
Sie sang:
Arbeitsmaiden,
ihr sollt meiden,
Erbhofbauer’n,
Erbhofbauer’n
Ackern, melken, kehren
Jedes Jahr gebären
Mutterkreuz,
Mutterkreuz.“
Wir fielen nach der Melodie von Frère Jacques im Kanon mit ein. Petra, die Große, ermahnte uns zum Bienenfleiß. Sie war mit 23 Jahren jenseits der Grenze.
Es würde bald Abend werden und unsere Mütter würden von der Hamstertour nach Hause kommen. Sie waren bei Mamàs Schwester Barbara auf deren Gut. Sie würden die Verpflegungssorgen mildern. Unsere Budgets waren knapp. Beide Mütter waren Witwen. Es war also niemand zu Hause, der mit „high tea7“ auf uns wartete. Wir mussten durcharbeiten. Die Sonne sandte jetzt schon ihre Strahlen schräg.
„Honigkuchenlicht“, sagte Petra. „Seht nur, die Putte sieht aus, wie frisch aus der Backröhre gezogen. Löns8lieder wären dran.“
Es stimmte. Von oben sah der Wallgarten ganz verwunschen aus. Im alten Brunnenbecken funkelte es als habe man flüssigen Messing hinein gegossen. Die überlasteten Rosenbögen schienen einen Blütenblattregen auf den Boden gekleckst zu haben. Träge kreiselnd, als überlegten sie noch, kam Blatt für Blatt herab. Der Himmel sah aus, wie ein Ballkleid aus prallgezogenem Taft. Man meinte, man könne ihn knistern hören.
Nur gelegentlich unterbrachen wir jetzt den Pflückrhythmus mit einem herzhaften „Biest!“. Die Mücken bevorzugten Nacken und Waden. Sie waren gierig. Der Sommer würde bald zur Neige gehen. Trotzdem war es noch warm und die Septembersonne ließ uns schwitzen und die Luft über den Beeten beben.
Dann stimmte ich unser Lieblingslied, eine Ballade an:
Das war der junge König,
der König ohne Land
er lag auf grüner Heide,
sein Speer der stak im Sand
da kam die Allerschönste
sie hielt ihr Herz in der Hand
sie sah den jungen König,
den König ohne Land.
Was liegst Du hier zu warten,
du König ohne Land?
Hast ja zwei starke Arme,
dein Speer steckt ja im Sand!
Das blanke Eisen blitzte,
der Himmel stand in Brand
Sein ward die Allerschönste,
sein ward das ganze Land
Wir waren gut eingesungen. Birgit hatte einen warmen Mezzo-, Petra einen hellen Sopran, der läutete wie ein Christkindglöckchen. Ich sang zweite Stimme. Wir waren versunken in unsere Ballade. „Der Himmel stand in Brand...“, das war irgendwie erregend. Man fühlte, es entfaltete sich etwas im Innern wie eine in Zeitlupe aufgehende Chrysanthemenblüte. Wir schwiegen ein Weilchen. Nur ab und zu wieder ein „Klitsch“ von einem herab gefallenem Apfel.
Als wären wir noch beim Thema, sagte ich in die auf das Lied folgende Stille hinein: „Ja, Aimée, sie hat einen Vater...“. „Einen Vater...“, echoten die Mädels. Das Wort hüllte uns alle drei ein. Ein dreifacher Seufzer folgte. Wir lauschten dem Wort nach: Es war als ritte es auf den Spätsommerfäden hinauf ins Blaue des Himmels. War da nicht eine Schleppe wie ein Kondensstreifen? Wir kannten die Streifen von den Jagdfliegern.
Aimées Vater hatte sich nach seiner Laufbahn auf eine „Klitsche9“ zurückgezogen, als der braune Wind begann, immer schärfer zu blasen. Als General von Schleicher10, und mit ihm seine Frau, am Schreibtisch durch Meuchelmord erschossen wurden. Seitdem galt Herr von Saint Pure als „Charakter“. Sollte man nicht ein Mädchen beneiden, das einen solchen „Negativhelden“ zum Vater hatte. Auf Bällen, Empfängen, Paraden und Platzkonzerten der Regimenter, überall konnte Aimée an der Seite des Mannes mit Nimbus11 erscheinen. Wie köstlich musste es sein, an der Hand solch eines Vaters die Szene zu betreten!
Wir drei Basen hatten nur unsere Gluckenmutter, als Chaperon12. Mein Vater war gefallen. Ich wurde geboren, als Mamà die Nachricht bekam. Petra und Birgit hatten auch nur Tante Babette. Auch sie hatte ihren Mann früh verloren, nachdem sie aus dem Baltikum geflohen war. Was war das gegen einen Diplomatenfrack und den Stand gegen das braune Erdbeben, das uns beutelte? Die Morde an Strasser und Röhm13 und eine Dunkelzahl Unbeteiligter, die versehentlich umkamen, hatten Kreise gezogen, wie ein Stein, der in den See geworfen wird. Wenn man auch so tat, als wären es nur Regentropfenkringel.
Ich war die Kleinste von uns Dreien. Hinzu kam noch unsere Freundin Thora, genauso lang und genauso blond wie wir. Sie war ebenso kurzsichtig wie Petra. Wir gingen im Gänsemarsch in den Ballsaal. Wir vier langen. Ich voraus, denn nicht ganz so erschreckend lang und ohne Augenfehler. Ja, wir waren lange, hellblonde Latten, die von den meist kleinwüchsigen Waffen, Panzer und Flieger, mit Seufzer empfangen wurden.
„Kein imponierender Vater“, pflegte Birgit zu sagen. Sie und ihre Schwester hatten zumindest große Brüder, die auswärts studierten. Nun seufzte Birgit: „Weit und breit kein Hosenbein für uns Schmaltiere!“
Da geschah es. Das Gartentor quietschte, kreischte und plautzte. Wir stellten die Hälse steil. Hing ein Fallwild in blaugrüner Uniform im Tor? Unser Parktor, von Uneingeweihten geöffnet, plumpste dem Eintretenden unweigerlich vor die Füße. Oder es begrub den Eindringling, höhnisch kratschend, unter seinen Eisenspeeren. Im Nu waren Petra und Birgit, die Pflückkörbe oben baumeln lassend, herabgefallen. Wie eine handvoll Nüsse klatschten sie auf die Wallmauer hinab. Im Kängurugang tippelten sie darauf entlang bis zum Obstgarten. Die Gehwege waren von Beerensträuchern dicht überwuchert. Ich blieb im Gipfel des Baumes. Jemand musste den strategischen Überblick bewahren. Hatten wir einen Leutnant erlegt? – Nein, aus dem rostroten Klumpen unter dem Eisengitter klang es fast wie „merde14“ in femininem Quietschton. Was ich erspähte, war ein rotes Blumentopfhütchen mit Fasanenfeder. Boccaccio15- der letzte Schrei. Es steckte auf der Torangel. Gut, dass sie nie geschmiert wurde! Das konnte nur einer gehören: Aimée! Boccaccio war nicht in unserem Städtchen angelangt, noch trug man hier Pfannkuchengebilde. Sie geikelten, ein Auge verdeckend, wie Schiffchen auf dem Scheitel.
Ich pfiff den Basen „Entwarnung“ zu. Lässig hüpften sie von der Mauer, den Weg durchs Gebüsch gemächlich fortsetzend. Sie hatten begriffen: Kein Bock, eine Ricke. Diese Beute würde sagen: „une biche16“. Aimée zwitscherte so auswärts, wie eine Grasmücke im Schlehdorn. Sie war im Ausland gewesen: Eingeladen! Anders kam man ja nicht mehr raus. Die Basen befreiten Aimée mit hau - ruck das Tor lupfend. Sie klopften sie ab. Dann umwedelten sie den Gast wie zwei struppige Schäferhunde ein Windspiel. Sie schleusten ihn durch die Himbeerwildnis, bogen Äste zurück, traten Brennnesseln nieder, ließen ihm den Vortritt. Aimée tauchte im Glanz eines rostroten Lederkostüms unter den Rosenbögen auf. Sie hatte den lässig schwingenden Gang einer Palominostute17 (so sagte der Commodore). Sie wehrte im Schreiten Rosenranken ab. Es sah aus, als übe sie indischen Tempeltanz. Vermutlich war es visuelle Unsicherheit - das sagte ich mir („sei kein Biest, Inge!“). Als sie nun vor der tintenschwaren Eibengruppe stand, trug sie Rosenblätter auf Schultern und Armen. Die Magnolienhaut - so der flammende Fähnrich Enzo - leuchtete aus dem samtigen Rot des Kostüms, das sich, man höre und staune, in kniehohen Juchtenstiefeln18 wiederholte. Der „Boccaccio“ saß hoch auf der mahagonibraunen Haarkappe und das nach dem Sturz! Aimée war in Form! So sehr, dass sie, sich zu den Basen zurückwendend, etwas forsches sagte, wie: „My head is bloody, but unbowed!19“ Englisch war in Mode. Je abgeschirmter wir gegen das Ausland waren desto „smarter“ war es, solche Zitate einzustreuen.
„Buhuu, someone is calling for you“, rief Birgit zu mir hinauf. Dann zu Aimée: „Wir holen den kalten Tee mit Zitrone!“ Ehe ich protestieren konnte, aus luftiger Höhe, liefen sie weg. Ich spielte noch Vexierbild20. Was wollte der Paradiesvogel in unserem Sperlingsnest? Ich fühlte, wie der Ast sich unter mir senkte. Wurde ich schwerer? Wenn ja, warum? Was hatte ich zu fürchten? Höchstens, dass Aimée über den Hühnerfutternapf vor meiner Tür stolperte. Was sollte sie bei mir wollen? Sie war nicht meine Kusine. Sie lehnte malerisch unten – auf den naselosen Putto21 gestützt und blinzelte, wie es Kurzsichtige zu tun pflegen, in die dichtbelaubten Zwillingsbäume hinauf. Dann peilte sie den andern Baum an in dem Birgits rosa Schürze hing. Sie rief herauf: „Was für wundervolle Crimson Rambler22 ihr habt! Sie blühen ja noch über und über! Und die Strauchrosen, sie schäumen vor Blüten. Bei uns, auf dem Rondell, haben wir nur steife Stockrosen. Die blühen pompös, aber kurz.“
Ich horche geborgen im dichten Wipfel auf eine innere Stimme (Mamàs Stimme): „Gehst Du zu kleinen Leuten, merk dir: Immer loben! Auch scheußlichen Nippes. Es richtet sie auf.“
Indes hatte der Gast spielerisch mit der blanken Stiefelspitze im Mulm herumgebohrt und einen verdreckten Hühnernapf zu Tage gefördert. Aimée gehörte zu denen, die überall Schwachstellen entdecken.
„Hallo, Inge wo steckst du da oben?“ Da sie den falschen Baum anrief, krümmten sich die Bäschen, die mit dem kalten Tee zurückkamen, vor unterdrücktem Kichern.
„Meine Mutter lässt grüßen. Sie will durchaus eure famose Spezialzüchtung kosten, ehe sie pfropfen lässt. Ihr wisst, wie Mütter sind. Hartnäckig. She has caught the bug23. Ich soll einen Probierapfel von Tante Ursel mitbringen, sagt sie.“
Das war meine Mutter. Tante Babette und Mamà pflegten sich in die Ernte zu teilen. Warum wandte sie sich an mich? Ich raschelte, als eile ich herab. Ich zögerte aber noch. Sie brauchte meine Schmierstiefel, die zerschrammten Waden und den abgerissenen Kittelsaum nicht zu sehen.
Petra hatte Aimée inzwischen sanft getränkt, abgelenkt und unter den richtigen Baum (meinen) geschoben. Dabei führte sie unsere Hühnerschar vor, damit ich Zeit gewänne, mich proper zu machen. Die Starhenne, Agatha, pickte vertraut auf Apfelbutzen herum. Alle beäugten die Fremde. Aimée hatte einen Korb unter meinem Baum als Sitz gewählt. Petra, auf einem zweiten Kartoffelkorb hockend, interviewte den Besuch: Man höre, sie wolle Geflügelzucht anfangen? Sie solle schon auf dem Nachbargut dafür lernen? Also, künstliche Glucke bedienen, Küken aufziehen, Hähnchenküken früh von Hennen trennen?
Eine Henne hatte den von Aimée aufgestöberten Napf entdeckt. Sie scharrte zu ihren Füßen. Ja, sie „sang“ dabei, wie es Legelustige tun. (Ich war ja Fachmann; hütete mich jedoch, mitzureden.) Ich hangelte mich hinter dem Stamm herab; kämmte mich verstohlen - in den geerbten Kitteln gab es tiefe Taschen – ein Plus!
Aimée berichtete völlig degagée24 (so sagte Mamà) von ihren Zuchtabsichten. Rote Rhodeländer, Italiener, weiße Leghorn? Lege- oder Fleischrasse?
Birgit verschlang den Gast ungeniert mit Blicken: Reißverschlüsse Marke „Safari“ an den Kostümtaschen und Stiefeln! (Reißverschlüsse waren brandneu und teuer). Seht doch, wie unter dem Fez-Hütchen, im ausrasierten Nacken, das Haar in Dreiecksspitze hinabsteigt! Im Schneewittchennacken, darin die kesse Rille!
Ich muss gestehen, dass wir Provinzgänschen ganz weg waren, während Aimée eine Zigarette aus der Tasche fischte, statt zuzuhören. Wir nahmen andachts voll ihre ganze Aufmachung in uns auf. Die Zeremonie des Rauchens war eine show: Die Zigarette im Silberetui, das reichte sie herum, in der anderen Brusttasche – es waren vier! - das Feuerzeug angelnd.
Wir lehnten ab. Wir rauchten heimlich – doch nur eigene – mit langem Pappmundstück, wegen der optischen Wirkung. Sie verblüffte uns immer neu: Sie zog ein Spitzentaschentuch aus der dritten, der Hüfttasche, aus der vierten lugten rote Stulpenhandschuhe. Sie wischte sich mit Muße die spitz zulaufenden, sehr weißen Finger ab.
Unsere Starhenne schwänzelte, gluckernd, schräg herauf äugend, um sie herum. Plötzlich flog sie mit schrillem Kiekser auf Aimées Schoß, um nach dem Zigarettenstummel zu picken. Aimée kreischte auf, warf das Tier vom Rock, dann, am Zeigefinger lutschend, warf sie, mit der freien Hand, ihr Feuerzeug nach der Henne Agathe. Sie traf gekonnt den Bürzel. Alle Hennen stoben, hysterisch kreischend, in ihr Kellerloch, sich einander schier überreitend. Drinnen zeterten sie lauthals. Es echote dumpf. Das war ein solch drolliger Exodus25, wir lachten herzlich. Doch dann eilte Birgit, die Hühnermutter, ihnen nach. Sie holte Agatha drinnen aus dem Knäuel heraus, tröstete und streichelte sie. „Agatha ist nachtragend, zartbesaitet. Sie wird morgen nicht legen.“
Sie sah den Gast anklagend an. Birgit hatte große, runde Augen, blau mit schwarzen Irisringen. Sprechende Blicke. Aimée geikelte auf ihrem Weidenkorb-Thron hin und her. Sie sah uns, der Reihe nach alle an. „Mea culpa26, ich wars, keine Eier morgen. Alles muss ich verkorksen.“ Sie zählte an den Fingern ab: „Erst das verdammte Eisentor, mit seinen durchgerosteten Angeln umgeschmissen. Dann Euch bei der geheiligten Ernte gestört - ich weiss - jeden Apfel nur ein mal anfassen; Brechobst ist heilig. Noch ein Vergehen, ich rief den falschen Baum an! Did I bark the wrong tree? Am Ende ist Rauchen anstößig? Sollte Henne Agathe signalisieren: Die deutsche Frau raucht nicht? Ist sie darauf dressiert?“
Sie war aufgesprungen, Agathes Dreckspuren vom Rock schüttelnd. Rote Flecken auf den Wangen sah sie mich durch ein schwarzes Drahtverhau der Wimpern, mit seltsamen Augen, die nur Pupille zu sein schienen, an. Sie sagte leise, jede Silbe skandierend:
„Also, wie kann ich das wieder gut machen?“
Dabei saugte sich ihr Blick an mir fest. Mir kam es vor, als stehe ein Insekt vor mir, aggressiv, mit sirrenden Flügeln. Und ob ich mich erinnerte! Die selben Worte hatte ich einst zu Georg gesagt, darauf spielte sie an. Ich sah die ganze Szene vor mir.
Es war beim Fest „Deutsche Frauen Übersee“– von Hitler nicht verboten, wie alle anderen konservativen Vereine, weil Spenden für sein „Volk-ohne-Raum Programm“ hereinkamen. Großmamà hatte den Vorsitz. Ich war ihr abgehetzter Adjutant, bald ganz erschöpft. Großmamà war eine starke Organisatorin. Voller Erfolg. Beide Waffen reichlich vertreten. Nur waren die Leutnants wenig tanzfreudig. Es hatte wieder einmal Alarm gegeben – ein Freitagsschreck, wie Hitler es liebte, da er wusste, dass Englands Politiker dann auf ihren Landsitzen waren. Flieger und Panzer, die ersten Stoßwaffen, waren wieder einmal herumgehetzt worden. Wir drei Basen bildeten, samt Panzerfreunden, eine graugrüne Front. Die andere Tischseite beherrschten die Blaugrauen. Aimée und der Commodore trohnten dort, umgeben vom jungen Fliegergemüse – zu dem auch Birgits einstiger Enzo zählte.
Vor Aimée türmten sich die Gewinne. Ihr Kavalier hatte ihr Lose spendiert. Er hielt auch den Tisch frei. Heute zähle er sich ganz zur Jugend, sagte er. Höhere Chargen saßen, wie auch die Mütter, an der Balustrade27. Zum Tanz mussten uns jedoch die Leutnants des Commodores auffordern. (Es war Sitte, dass jeder Herr mit jeder Dame am Tisch tanzte. Hitler hatte es noch nicht geschafft, diesen Code umzustellen, so galt der alte weiter). Unser smarter Commodore, der eine „Fechterfigur“ hatte, schickte die Leutnants vor, weil er es gerne vermied, mit uns drei „Türmen“ zu tanzen. Aimée, die zierliche, war für ihn ideal als Partnerin.
Es herrschte Flaute; das Parkett war leer. Birgit hatte das Stillsitzen satt. Zumal auch die Unterhaltung schleppte. Sie raunte Georg zu: „Damenwahl“, als die Kapelle Jazzrhythmen anstimmte. Als Rausschmeißer riskierte sie das. (Jazz war bei offiziellen Anlässen verboten).
Georg seufzte, gehorchte jedoch. Er schwenkte sie eine Weile herum. Der flammende Enzo, dem Birgits Manöver galt, bemerkte es nicht. Er starrte versunken auf Aimées Profil. Nebenbei roch er an dem Schal, den der Commodore auf die Stuhllehne gehängt hatte.
Wir schauten träge zu. Ich döste entspannt vor mich hin. Es machte mir nichts aus, dass Aimée etwas libellenhaftes, kühnes trug, das aufreizend schillerte. Ich fühlte mich wohl, wie ein frisch geschlüpfter Hummer, denn Großmamà hatte mir ein Kleid spendiert: Weisser Pikee28, mit engem Mieder, mit in Sonnen-Falten auslaufendem Rock. Am Ausschnitt trug ich ein Buchszweiglein – von Georg aus der Dekoration gemopst.
Als er mit Birgit zurückkam, sagte er zu mir: „Kommen Sie, Überseeschwester vom Dienst, ein Blues, auch für schachmatte Adjudanten machbar!“
Ich schüttelte den Kopf. „Großmamàdienst – plus an der Longe29 heute früh. Getriezt hat er mich, der Bereiter: Aussitzen! Terrab! Keine Wäscheklammerpose! Absätze! Diefer, gnädiges Fräulein, so nehmen Sie doch das Kesäss vor! Für die Jagden hab ich mich so schinden lassen. Bald geht’s los.“
„Was, Reitjagden? Kreuzgefährlich! Na ja, Geländeritte, aber Jagden? Also, wenn Sie meine kleine Schwester wären....“
„Pfft“, machte ich, „Vorschriften? Ich bin überhaupt nicht Ihre kleine...“
„Nein, zum Glück!“ unterbrach er.
Ich drehte ihm abrupt den Rücken zu, Dietz neben mir zuraunend: „Der - und Vorschriften!“
Stumm wandte sich Georg ab. Er forderte Petra zum Tanz auf. Sie tappten in gemäßigtem Tempo dahin.
Birgit packte mich am Arm und zischelte: „So schnippisch! Der ist geladen! Pass auf, er schneidet dich. Ach, er ist doch so bärig.“ Sie seufzte.
Als Georg zurückkam nahm er sein Glas neben dem meinen weg, verbeugte sich und ging zum unteren Tischende, zu Bööhnchen, seinem jüngsten Kameraden.
Petra raunte mir zu: „Aber Ingebingemäuseturm- fix! Versöhn ihn. Er meinte es gut!“
Ich war es gewöhnt unserer Großen zu gehorchen. Ich zog also mein Spitzentaschentuch (kein Kleenex, mit dem man nicht flirten kann) und wedelte zum Tischende, wo er schmollte. „Wie kann ich das wieder gut machen?“ rief ich in dick aufgetragener Zerknirschung.
„Das überlasse ich ganz ihrem Takt und ihrem Zartgefühl!“
Da tat Birgit einen Stoßseufzer. „Hach er ist so pfundig-männlich!“ Es war geflüstert. Doch ging gerade bewusster Engel durch den Saal. Es wurde kurz ganz still.
Ich übertönte sie nach Kräften: „Bei uns nachher, Mokka!“ rief ich zur Schmollecke hinüber.
Georg hob sein Glas zu mir, dann Dietz und Bööhnchen anpeilend. Sie machten mir eine angedeutete Verbeugung. Abgemacht!
Alle am Tisch hatten unserem Geplänkel amüsiert zugehört. Auch Aimée. Dabei war sie im Begriff mit ihrem Kavalier Brüderschaft zu trinken. Aimée konnte zwei Dinge auf einmal tun. Sie spitzte ihr feines Ringelnattergehör, indes sie, Arm in Arm verschränkt, mit dem Commodore trank. Sie nippten jeder am Glas des Anderen. Mehr geschah nicht. Dann warf sie ihm einen Luftkuss zu, dass man an ein Löwenmäulchen, den Kelch tief geöffnet, dachte. Es knisterte zwischen den Beiden.
Enzo sah aus, als bohre man auf seinem hohlen Zahn. Er hatte die kalkige Blässe der Rothaarigen. Die anderen Verehrer Aimées sahen mühevoll an dem Paar vorbei.
„Halbreife und Überreife! Aimée zieht Unmündige und Alte vor!“, flüsterte Birgit (Die „Alten“, wie der Commodore, etwa fünfunddreißig).
Wir „Verschwörer“ taten als wollen wir tanzen und verließen paarweise den Tisch. Da sah ich wie mich Aimée unter bewussten Wimpern hervor mit den Blicken verfolgte. Plötzlich zog sie ihren Partner aufs Parkett. Die Kapelle spielte eine tolle Draufgabe. Wir sahen im hinausschlendern fasziniert zu: Sie stoben davon, graziös und stürmisch, wie zwei Gerten, vom selben heißen Wind hingeweht.
Natürlich hatte Aimée nicht erwarten können, mit geladen zu werden. Bisher hatte sie nur lässig Georg, ihren Ex, der nun mein Schatten war, beobachtet und sich dann amüsiert abgewandt. Aber mein letzter Eindruck, als Georg mir in den Mantel half, war: Es hat was bei ihr geschnappt!
Am bewussten Parktörchen waren Georg und ich die Letzten. Im flirrenden Mondlicht unter den dichten Baumkronen setzte er das „Falltor“ fachgemäß wieder ein. Er kannte seine Tücken.
„Man soll ja den Mond nicht untergehen lassen, war man uneins. Gut, dass sie so großzügig waren“, begann er. Da er fühlte, dass es sehr pädagogisch klang, setzte er rasch hinzu: „Ich werde aber doch in Ihrer Nähe bleiben, bei der ersten Jagd!“ Da lachte ich so herzlich, dass es mich schüttelte: „Wetten, dass sie es keine fünf Minuten ertragen, so ganz hinten im Feld?“ Nun musste er selber lachen, weil ich ihn richtig beurteilte. Und es war alles, alles wieder gut, wie es im Volkslied heißt.
Als ich aus den Erinnerungen, wie aus einem warmen Schaumbad auftauchte, war Aimée dabei, den Basen zu zeigen, wie sie swing30 übte. Sie wippte, auf den Stufen zu unserer Wallmauer hinauf und wieder hinunter. Birgit machte es nach. Petra nicht. Sie sagte: „Nicht so närrisch wie der 31, wo man Knie schnackelt und mit dem Daumen über die Schulter zurück wackelt.
„Unsere Mütter müssten das schon kennen!“, setzte Birgit hinzu, gluckernd im Vorgenuss. Dann parodierte sie, Petra an sich ziehend, ein paar Kniestöße. Sie sang dazu:
Was machst du, mit dem Knie lieber Hans,
mit dem Knie lieber Hans, beim Tanz?...
Aimée verzog nur vornehm degoutiert32 das Gesicht und wandte sich mir zu: „Ach, eh ich’s vergesse. Inge, leihst Du mir bitte für Vaters 55. deine Brandenburgischen Konzerte? Ich hab` nur Tanzplatten, Mutti nur Chopin, Grieg, Beethoven. Wir möchten was Feierliches, Stilvolles.
Eifrig fiel ich ihr ins Wort: „Natürlich, ich hol sie dir, gleich!“
Ich wollte ins Haus laufen, erleichtert , sie loszuwerden. Doch sie hielt mich am Arm fest. Zu heftig, für eine Bagatelle:
„Nein, nein – ich komme extra. S`hat ja Zeit! Ich muss schleunigst gehen. Im Hof wartet, auf und ab tigernd, Enzo, unser flammender Fähnrich, mit Vaters altem Ford. Er bringt mich zum Commodore, der mich heimfährt, man muss stets jemanden mit fahrbarem Untersatz in petto haben. Es war so gemütlich bei Euch - die Äpfel – klassisch!“
Ich konnte gerade noch einige Prachtäpfel für sie in ein Rhabarberblatt einschlagen. Petra musste hinter ihr her laufen, so fix war Aimée am Gartentor angelangt. Sie winkte mit den Stulpenhandschuhen, ließ die vielen Reißverschlüsse der Safarijacke noch mal aufblitzen; verschwand. Die höfliche Petra ging ihr nach: Es ist üblich, einen Gast stets bis hin ab in den Hof (3 Treppen) zu geleiten. Birgit überging diese Pflicht. Sollte sie Enzos ergebenen Hundeblick mit ansehen, mit dem er im Hof die Angebetete empfangen würde?
Ich streifte Stiefel und Socken ab, hängte die Beine ins abbröckelnde Brunnenbassin. Es war halb leck, voller Moos und Entengrütze. Doch es kühlte. Mein Kopf war heiß. Birgit, auch Petra, taten es mir nach, obwohl der Sonnenuntergangswind unsere lichten Schöpfe kühl befächelte. Der helle Flaum auf meinen Armen hatte sich aufgestellt. Man sah es deutlich im schräg einfallenden Sonnenlicht. Wir schwiegen. Man hörte die Grillen und eine Fledermaus schwirren. Man sah, wie die helle Unterseite der Blätter sich aufstülpte. Man hörte Rosenblätter herab gleiten. War es der kommende Herbst? Petra war es, die es herausfand: „Zitat: Loben. Bei kleinen Leuten und armen Verwandten immer loben!“.
Hockten wir drei Basen auch wie die Landpomeranzen33 in den Bäumen des Wallgartens, so waren wir doch im Begriff, eine Saison rauschender Ballnächte zu beginnen. Wir würden auf die Pauke hauen. Denn fünf Garnisonen hatten unsere verschlafene Festungsstadt nun zu neuem gesellschaftlichem Leben erweckt. Wir genossen das Wiedersehen in der alten Heimat, weil wir so lange getrennt gewesen waren. Als Kinder hatten wir miteinander gespielt. Dann wurden wir getrennt. Jede in einer anderen Leihfamilie untergebracht. „Miterzogen“. Petra und Birgit waren mit 18 und 19 heimgekommen. Ich aber ging mit Mamà für fünf Jahre nach Südtirol. Dort machte ich eine Geflügelzucht auf. Unser Ansitz dort war alt und billig. Die Lira im Keller. Unser „Schaffer“ lieferte uns Getreide, Milch, Butter, Käse. Das einfache Leben. Ideal der Notverordungsjahre34 im Vaterland. Ideal war das Auslandsleben auch für Mamà. Abstand zu dem Mann „mit dem Häufchen Dreck unter der Nase.“ Sie war in der Wolle gefärbte Monarchistin. Im Schatten des Herzogshofes35 aufgewachsen. Großvater „ging zu Hofe“. Er war doppelt auf payroll36: Forstmeister und Kammerherr. Kammerherr, das hieß an unserem Miniaturhof – Diplomat, der mehrere Sprachen sprechen, Potentaten aus aller Welt empfangen konnte. Mamà und ihre Schwestern tanzten im Kronsaal. Dort gab sogar ein Podium, mit Lehnsessel, samt Baldachin. Sie spielten Teemädchen bei der „hohen Frau“, der Herzogin, wenn Großfürstinnen, die Queen37 oder belgische, rumänische, bulgarische, griechische Schwäger zu Besuch kamen.
1Anders Leonard Zorn 1860-1920 schwedischer Maler, Grafiker und Bildhauer.
2 Schauspieler in Film von Rosenberg aus dem Jahr 1947
3 Militärrang
4 Rotbrauner Farbton
5 Englisch: flirtend, verführerisch, verlockend
6 In Volksglauben und der Mythologie Blut saugende Nachtgestalt
7 Englisches Abendessen zwischen 18 und 19 Uhr
8 Deutscher Heimatdichter
9 Kleines unansehnliches Haus
10 Deutscher Offizier, der von der SS 1934 ermordet wurde
11 Lateinisch Heiligenschein
12 Gönner, Mäzen
13 Ermordung der SA-Führung und anderer nach der Macht strebender durch Hitlers Befehl 1934
14 Französisch Scheiße
15 Italienischer Schriftsteller
16 Französich Hirschkuh
17 Pferd bestimmter Färbung
18 Stiefel aus Rindsleder
19 Mein Kopf ist blutig, aber ungebeugt
20 Scheinbar unmöglich konstruiertes Bild
21 Italienisch Knäblein
22 Apfelsorte
23 Sinngemäß: Sie hat sich darauf versteift
24 Französisch ungezwungen
25 Griechisch Ausgang, steht für den Auszug aus Ägypten
26 Lateinisch meine Schuld, Formel für christiliches Schuldbekenntnis
27 Niedrige Säulenreihe als Geländer
28 Baumwollgewebe
29 Leine um Pferd im Kreis zu leiten
30 Tanzbare Variante des Jazz seit 1920
31 Tanz nach einem Musical aus London 1937
32 Französich dégoûter abschrecken, anekeln, verleiden
33 junge Provinzlerin, ein ungebildetes, nicht urban gebildetes Mädchen
34 Jahre in denen Sonderrechte des Reichpräsidenten in der Weimarer Republik durchgesetzt wurden
35 Herzoghof in Gotha
36 Englisch Gehaltsliste
37 Königin von England