Samstag, 20. September 2008
Essay über Literatur
Ingeborg Reidl
Ja- sage ich – weil sie, und nicht Feldherrn, Könige, Päbste, Kanzler die Zeitströmungen beobachtet und mitbestimmt. Nein – sage ich – nur zum Einfluss weiblicher Leser in unserer Epoche.
Ich höre das Protestgeheul der Professoren, Studienräte, Intendanten, Konzert- und Kulturreferenten. Recht haben sie darin: Die Überschwemmung mit Büchern und Neuerscheinungen ist keineswegs ein gutes Zeichen. Der Hauptgrund ist: Maschinen müssen rotieren. Überproduktion - wie in allen Konsumsparten. Die Verleger sieben nicht mehr genug; weil ihre gigantischen Maschinen, einmal heiß, weiter rollen müssen. Sie müssen sich amortisieren. So werden wir mit „Geistesware“ überfüttert. Wir haben Verdauungsstörungen mit unserer Literatur. Sie ist jedoch keine Ware, die die Überforderten Lektoren mit „in“ oder „out“ abstempeln.
Betritt man einen Buchladen, so wird einem schwindelig. Wie soll der willige Leser da Gutes und Verramschware unterscheiden? Die Bestseller-Liste als Kompass? Da müsste der Leser schon einen Geigerzähler mitbringen, der für ihn herausfischt, aus dem Berg, was „strahlt“. Bestseller-Listen enthalten zu neunzig Prozent Eintagsfliegen. Führen hier Werke lange, so kann das auch heißen, dass das den Banausen zuzurechnen ist, die ein Buch (per Computer) ordern, nur, weil es so oft auf dieser Liste stand. Sie möchten „in“ sein, gestresst, wie sie sind, wollen sie doch „am Bal1“ bleiben.
Der Leser aber sucht , in unserer Zeit der Massenmedien, Massenaufklärung, Massenurlaubsflüge, Masseninitativen die Intimsphäre im Buch. (Welch treffendes neudeutsches Wort aus der Fahrschulpraxis!). Das Buch im Bett bleibt etwas Individuelles. Man genießt, ohne mit Millionen wie am Glotzer gleichzeitig im Boot zu sitzen. Das Buch kann das ersetzen, was uns heute am ärgsten fehlt: Den Zuhörer. Ja - einen Zuhörer, wenn man auch allgemein annimmt, das Buch verlange, dass wir ihm zuhören. Es fehlt uns etwas für uns allein. Etwas, das wir schlecht bestimmen können. Unsere Welt scheint ja satt und zufrieden mit vorgekauten Meinungen, wie mit der Fertigkost von Primitiv-Ausdrücken, vagen Fremdwörtern, Knopfdruck-Service, Staugemeinsamkeit. Unsere neue Alltagssprache spiegelt es wider. Vor allem die Jungen, unsere wohlgenährten, sportlichen, kosmetisch-sauberen, selbstgenügsamen Jungen - sie sind ja stets auf Achse, immer mit der Technik beschäftigt. Sie rollen vorbei, sie computern, d.h. lassen rechnen, speichern, spielen, kämpfen, rätseln, verkaufen. So geben sie sich salopp im Reden. Als gäbe es keine Probleme, die die Technik nicht für sie gelöst habe, oder lösen werde. Sie sind die Erben und Nutzer der Technik und sie finden das genüge.
„Alles klar...“, „Das lass' ich auf mich zukommen...“, „Mach' ich mit links...“, „ansonsten alles prima...“. „Meiner macht 180 in Null Komma nix...“. „Die machen wir mal an...“. Es klingt, als sei alles „o.k.“. Wer liest da schon? Wer denkt? Es wird ja für uns vorgedacht. Natürlich lesen die Politiker(innen). Sie lassen sich „digest“ machen. „Digestet“ wird ja alles. Für gestresste Zeitgenossen. Die Bibel haben wir „verständlicher“ gemacht - „digestet“, sogar die Psalmen, die einmal wie Meeresbrandungsrollen an uns vorbeirauschten und sich, wie die Zecken, festsetzten im Gehirn. In ihren Reden benutzen die Politiker daher Fremdwörter wie „pragmatisch“ und „Chancen“, dass der Zuhörer eine Art Brei, vorgekocht, tiefgekühlt vorgesetzt bekommt.
Doch in den Köpfen einiger Weniger entstand stets die neue Richtung, Denker, Dichter, Romanciers machten die Wandlung, die neue Richtung.
Vordenken, vordichten, vorsingen - das taten schon die Barden. Sie kamen herum, sie sahen, was dem Volk und denen oben am Herzen lag. Die Großtaten, wie die Ausschweifungen; der Ahnen wurden verarbeitet - in Balladen; man bewegte sich, tanzte gern dazu, so wurden sie Gemeingut. Man schrieb auch auf - man ritzte. Wie scharf muss Moses erst gedacht haben, und gefeilt, gekürzt, präzisiert, um das auf winzige Steintafeln zu kriegen, was er alles seinem Volk zu sagen hatte! Dann kam die Kuhhaut - auf die auch nicht viel ging. Auf dem Papier war es dann ein Genuss: Die Feder bewegte sich, wie in einem Ballett - von den Gehirnströmen im Blutkreis-Rhythmus geleitet, über das Papier. Man brauchte nicht mehr von Mund zu Mund allein Dichtung weiterzugeben. Ich habe eine Bibel, die um 1600 gedruckt ist - sie war sicher das einzige Buch im Haus und wurde mit Ehrfurcht behandelt und täglich einige Zeilen gelesen. Ihr Einband, mit Holztafeln und Leder bezogen, die Ochsenriemen am Rücken sagen es aus. Und innen ist sie so abgegriffen! Die schönen Kupferstiche (von den Kindern, die sonntags freie Bahn hatten - es waren meist ein halbes Dutzend) angerissen, zerknickt, die Seiten wie von Mäusen angenagt).
Von Racine, Montesquieu, von Shakespeare, Leibniz, Lessing, Goethe und Schiller, von Kant und Hegel, von Balzac und Dickens, von Tolstoi, Ibsen und Hauptmann, dann von Siegmund Freud und C. G. Jung wurden Geistesströmungen gemacht, registriert, kritisiert und Umwälzungen eingeleitet. C.G. Jung bestimmt heute noch unser soziales Denken mit seiner Lehre vom kollektiven Unterbewusstsein, den Kollektivträumen. Dichter haben zwar auch Blutbäder mit verursacht. Wir wissen es aus „Der trojanische Krieg findet nicht statt“. Ich bin auch sicher, dass die Kreuzzüge nicht nur von Päbsten und ihren Schwertträgern verursacht wurden. Herumziehende Priester, Laienmönche und Barden protestierten mit mundwässernden Schilderungen von übersonnten, fruchtstrotzenden Ländereien, die nur auf christliche Grundherren warteten. Den Frieden besangen die Dichter meist erst nachher -wie wir in den letzten Jahrzehnten erfuhren.
Hätten nicht Hume, Thackeray und Dickens die Not der Armen im immer reicher werdenden England in die Welt hinaus gerufen, man hätte weiter nichts als „rule Britain, rule the sea...“ gesungen und Schätze aus fernen Ländern herangeschifft, damit die Reichen reicher wurden. Zwar wagten es die größten Redner ihrer Zeit, Pitt und Fox, die Ausbeutung der Kolonialländer anzuprangern. Die Welt horchte auf. Daheim erhielten sie drohenden Beifall. Sie ließen sogar dem Vize König von Indien, damals Generalgouverneur, den Prozess machen, weil er dort zu reich geworden sei. Von der Not in den slums sagten sie nichts (Hogarth tat es). Das war zu nah. Und der Sklavenhandel ging in aller Stille weiter, wie vorher.
Es waren die Denker und Dichter, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhielten und ihre Verantwortlichkeit für das Volk anriefen. Sie weckten mit utopischen Geisteskindern das soziale Gewissen. (Ein unbekanntes Wort - noch.) Man richtete Suppenküchen ein – für Kohlsuppen. Und die Schuldtürme wurden wenigstens inspiziert, ob Unschuldige darin saßen.
In den Notzeiten nach Napoleons Eroberungen bei uns weckten Dichter erst den Widerstandswillen. Danach weckten sie die Besinnlichkeit, als wieder Friede war. Der Weg nach innen - das „Zurück zur Natur“ (Rousseau war über den Blutbädern der französischen Revolution in Vergessenheit geraten). Denker und Dichter wuchsen aus deutschem Boden. Die Drucker hatten Mühe alle ihre Geistesfrüchte zu verarbeiten. Die Waschfrauen mussten tausende von Taschentüchern in ihren Bütten rubbeln, als „Werthers Leiden“ die Gemüter in Bewegung brachte. Gedichte, Romane, Briefromane - auch die Frauen schrieben - und wurden nun auch gedruckt. Briefe mit zwanzig Seiten und mehr (oft quer über eine beschriebene Seite, weil Papier teuer war). Es sind historische Berichterstattungen für die Nachwelt geworden. Es gab ja keine Zeitungen. Nur die Gazetten, die brachten welcher große Herr wo abgestiegen sei, ob er „zu Hofe“ gehe und welche Grundstücke käuflich seien (Goethe kaufte, auf so eine Anzeige hin, seinen Ilmgarten und baute darauf).
Jedermann las, der lesen konnte. Man war schlank, durchgeistigt und genügsam. Nicht nur bei Herzogin Amalie und Luise wurde, bei dünnem Schwarztee oder Brombeerblättertee, auf harten Stühlen gesprochen und vorgelesen. Man führte das „gute Gespräch“, das heute völlig abhanden gekommen ist. Man spielte ganze Dramen durch. Es wurde kritisiert und verbessert, gelobt und von Rivalen beobachtet. Federfrische Werke wurden so durchgeprobt, auf Herz und Nieren geprüft. Welcher Dichter würde sich nicht heute so ein (Damen)-Auditorium wünschen - so belesen, fachkundig und einfühlsam?
In Frankreich gab es den fruchtbaren Balzac und die guten Romanciers, die überall verschlungen wurden. Und bei uns gab es Fontane. Er legte einen behutsamen, aber spitzen Finger auf die Auswüchse der Gesellschaft. Adel, Armee, Neureiche, Hof wurden gegeißelt. Ebenso wie „Ehrenhändel“ und Ehrenschulden (die junge Kerle nach Amerika brachten, wo sie meist verkamen). Daheim, als Handwerkslehrling oder Schiffer neu anzufangen, wie man es heute machen würde - das war nicht „standesgemäß“.
Ibsen und Tschechow brachten die heimlichen Lieben und Sünden, die geistige Leere der Bürger zutage. In England kam Bernhard Shaw und tat - mit seinem Schalk und seiner ätzenden Satire - mehr für die Frauen, als die Suffragetten, die sich tapfer in London an Laternenpfähle ketten ließen.
Gerhard Hauptmann weckte bei uns das Gewissen mit seinen Dramen über die Not der Weber - die die Regierung geflissentlich übersah, obwohl Schwindsucht und Hungernot in Schlesien alarmierende Zahlen erreichten.
Und der „Kladderadatsch“- wie der „punch“ in England - machte sich zum Sprachrohr der öffentlichen Meinung und sicheres Zeichen des Erfolgs - sie brachten die Leser zum Lachen - sie trafen in das Schwarze. Man las übrigens daheim seit langem die „Gartenlaube“; man hatte auch Damenalmanache und die Marlitt wurde reich. Romane liefen in Fortsetzungen. Man war lesehungrig. Bücher, die teuer waren, gingen von Hand zu Hand, bei Nachbarn.
Ja - heute würde ein herabblinzelndes Sternenkind meinen, wir seien ein geistig durchtränktes Volk: Welche Fluten von Gedrucktem! Doch diese Fluten haben nur denselben Grund wie die Arbeitslosigkeit. Die komplizierten Maschinen, die alles können und auch, wie die Wurstmaschinen bei Tag und bei Nacht arbeiten. Diese Druckmaschinen häckseln alles. Wie ein guter Shredder speien sie, was sie schluckten, lustig aus: Kleinholz, Äste, Zweiglein, Abfall. So produzieren sie Wälzer (Romane, nicht Lexika) von 700 oder 900 Seiten. Und sie brauchen dabei weder Gehalt (laufendes), noch Urlaub, noch Krankheitspausen, noch Schwangerschaftszeiten, noch eine Abfindung. Sie werden alt (über 50 Jahre). Im Gegenteil, sind sie zu alt, dass man nicht einfach neue Teilchen einschrauben kann, so bringen sie noch was als Schrott. Man kann sie recyclen.
Zudem sind wohl die Hälfte unserer Bücherfluten Übersetzungen. Sie kamen anderswo „an“. Grund genug, sie hier auch zu produzieren. Die Maschine reißt ihr gieriges Maul auf. Der Markt ist ja da. Oder? Oft kommen sie unserer Mentalität gar nicht entgegen. Was in Amerika boomt - die Judith Krantz und Super-Sex-Frauen, die Erfolgstypen vom Broadway, Könige des Kommerz, die alten und neuen Präsidenten und ihre Bettgeschichten, die Kriegs- und Gestapogräuel, die Mediziner-Romanzen und Revolutionshelden (lateinamerikanisch) sie sind drüben „in“. Es geht uns mit den dicken Schwarten dann so, wie mit den Plastik-Haushaltsmonstren: Wie in aller Welt entsorgen wir sie? Ich frage mich nun schon beim Einkauf „wirst Du das behalten wollen?“ „In der Beschränkung zeigt sich der Meister!“ sagt unser Goethe. Hautnahe Schilderungen von Verführung Minderjähriger, von Choleraepidemien, von Nahostkriegen machen uns auf dem alten Kontinent noch leichte Verdauungsstörungen. Da hat der Intimverkehr mit einem Buch (am und im Bett) eben seine Schattenseiten.
Immerhin - es zeigt sich ein Wendepunkt. Für den, der hinhört und -sieht. Wir sitzen im Kreissaal der Weltgeschichte und ein Silberstreif am Horizont tut uns gut. „Nur Lametta!“ höre ich die Lehrer rufen. Na und? Mit Schwarzseherei und Resignation könnten wir die europäische geistige Vorherrschaft nicht halten. Man sieht die allmähliche Wandlung an den Einbänden der Bücher. Bisher konnten die Einbände der Taschenbücher - und was für ein Segen waren sie, als sie bei uns auf den Markt kamen! - gar nicht grellfarbig, hässlich und hart genug sein - mit verstümmelten, missproportionierten Gestalten, wie auf der Folter gezogenen, Frauen, aufgeblasenen weiblichen Akten. Wir lasen sie. Wir hofften, dass nicht nur Scheußliches drinnen sei. Doch wir erwarteten zumindest Seelenzerfetzung. Wir bekamen sie auch: Ehebrüche, Bettwechselspiele, Krankheitsschilderungen, Psychiaterberichte. Es waren viele gute dabei. Aber sie machten uns nicht froher. Anders heute: Auf den Buchtischen - sogar des Supermarktes - liegen Einbände, die zart pastellfarben getönt sind, geschmückt mit impressionistischen Bildern von Monet, Sisley, Whistler; . Blumen pflückende Maiden vor einer Landschaft, wie von Gainsborough. Hat Chagall die Verleger zu seinen Feen überredet? Ist das die neue Süßlichkeit? Es konnte immerhin eine lyrische optimistische Welle sein. „Lassen wir es auf uns zu kommen“, sagen unsere Jungen. „Uns kratzt das nicht. Aber es sollte. Denn Gedichte sind wieder „in“, höre ich. Und nicht nur bei Mädchen. Ich habe gesehen, wie ein Junge mit dem körpernah gekrümmten, zerfledderten Band des „Urfaust“ dastand. Und ein Freund meiner Enkelin „schläft mit Hölderlin“ - wie sie kichernd sagt. Sollten Shakespeares Sonnette, Goethes Gedichte, Matthias Claudius' Lieder wiederkommen?
Sollte anstatt der einfachen Annäherung, d.h. „Anmachung“ wieder ein langsames Werben in Mode kommen - mit Blumen und Liedern? In Amerika prophezeit man es. Auch die Prüderie käme wieder auf - sagen sie. Der Himmel bewahre uns! Wir sind sie ja ganz gerne los geworden.
Eins aber ist sicher: Es gibt immer noch junge Leute, die nach oben streben, im Beruf - nicht nur nach einem Job, der rasch viel Geld bringt. Und manch Einer meint es ernst. „Er hat noch nicht seine Träume alle beim Fernsehen eingebüßt (So sagen die Pessimisten). Ich denke mir, ein solcher Student befolgt Goethes Rat: „Willst Du wissen, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen“. So studiert er die Liste einiger oben Angekommener. Nach langem Antichambrieren und Kampf mit Vorzimmerhyänen bekommt er eine kurze Fragezeit. Sagen wir bei:
Frau Schröder
Frau Wieczorek-Zeul
Frau Merkel
Frau Hera Lind
Frau Marion von Dönhoff
Die Antworten?
„Egal wie - jede Chance schnappen - das Rennen vor Rivalinnen gewinnen. Zugreifen!“
„Keck die Ellenbogen nutzen; mit Charme! Vorurteile ausräumen, jede Lücke erspähen. Stets Brot, Friede, Chancengleichheit auf den Lippen. Ministersessel werden immer frei - wie beim Spiel „musikalische Stühle“. Draufsetzen!“ „Nie laut, nie penetrant sein, niemandem auf den Wecker fallen! Jedoch konstant sein. Zäh sein Ziel verfolgen. Solide wirken. Keine Bocksprünge!“ „Frohsinn verbreiten, Anekdötchen auf Lager haben, Witz und Schnoddrigkeit machen den Weg frei. Man will lachen - nutzen Sie es, auch wenn Sie stolpern, oder den Schluckauf kriegen!“ „Angreifen, Vorstossen! Den Schwachpunkt herauskitzeln und reinstoßen in die Bresche. Finger auf die Schwachstelle. Vor allem bei Männern. Nicht dulden, dass sie weiter ihre Schwächen zu Stärken hochjubeln. Plustern sie sich auf? - Ducken!“ Mit jedermann reden, „dem Volk auf das Maul schauen“, dabei wirklich hinhören! Vom Zuhören lernen. Die, die sich oben nicht halten können, haben es verlernt: Sie hören nur noch sich selbst.“ Viel hat er nicht profitiert, unser junger Streber. Am ehesten noch von Randtips, die er bekam. „Nicht die Hand küssen, nicht „gnädige Frau“ sagen - das tun heute nur Versicherungsagenten und Immobilienhändler. Oder aber mediterrane Typen, die immer was wollen!“ Keine Päckchen abnehmen, nicht aus dem Auto helfen, keine Pagenallüren! Politikerinnen und überhaupt die Großen sind Mimosen. Sie meinen, man wolle sie „anmachen“ - oder ihren Stuhl. Freimütig zugeben, dass man nicht weiß, wie Hummer oder Austern zu essen sind - und mit welchem Werkzeug, oder welches der fünf Weingläser zu welchem Getränk gehört. So was rechnet man einem Erfolgsmann aus dem Volke als Vorzug an.
Nun sind wir bei den Frauen und den hohen Damen angelangt. Ich habe sie ja beschuldigt, keine guten Leserinnen zu sein. Wohlgemerkt: Ich meine Leserinnen. Nicht Schriftstellerinnen! Schriftstellerinnen haben wir so viele wie noch nie (oder wagten sich nie so viele vor?). Und wir haben Könnerinnen genug. Aber Leserinnen? Da liegt der Hund begraben. Leser brauchen wir. Sonst stirbt wirklich die Literatur. Übrigens: (nicht ansonsten), ich ziehe meinen Hut vor unseren Schriftstellerinnen (wie eins John Kennedy bei einem Staatsakt sich erst einen borgte, da ich keinen trage), die aus ihrer Heimart verjagt wurden und ihre Memoiren schrieben.
Es gilt natürlich auch für Männer - doch waren es so wenige, die überhaupt heimkamen und berichten konnten. Dass sie, die Memoirenschreiber, für die vielen Millionen Vertriebenen sprachen (es waren so viele, wie manches kleinere europäische Land Einwohner hat) und dabei ohne Bitternis, Jammern, Revanchegelüste, ohne Pessimismus, ihre oft herzzerreißenden Erlebnisse zu Papier brachten.
Ich finde, die europäischen Literaten konnten ihnen Anerkennung zollen. Sie kamen ja als Bettler in ein von Kämpfen und Bomben in ein Chaos verwandelte Heimat. Wäre es nach dem Willen der bisherigen Feinde gegangen wären sie körperlich und seelisch gebrochen - wenn überhaupt - angekommen.
Mein Vorwurf gilt also nur den Leserinnen. Sie sind aus der Gewohnheit gekommen . Da allenthalben nach Superfrauen geschrien wird, die wie eine fernöstliche Göttin sechs oder neun Hände haben. Sie können nichts dafür. Sie haben keine Muße mehr. Oder wissen sie nicht mehr zu nutzen. Alles wächst ihnen über den Kopf. Sie sollen das Staatsschiff steuern helfen, damit es nicht wieder kentert - in Diktatur, Rassenhass oder Krieg. Das haben Eltern und Großeltern ihnen eingeschärft. Lernt! Bildet euch! Redet frei! Steht obenan! Wir - die Großmütter haben vermutlich einmal zu viel im Keller oder im Bunker gehockt, ein wimmerndes, vermummtes Kinderbündel im Arm und auf dem Schoss. Mit Hangen und Bangen auf die Einschlage ringsum lauschend haben wir dort unten Muße gehabt - bei Tag und bei Nacht - zu sinnieren. Warum war die Welt entschlossen, unsere Zivilbevölkerung systematisch auszurotten? Warum wollten sie die folgende Generation mit ausmerzen? Gehören sie nicht zum Abendland? Weil wir unsere Männer aufrichteten, wenn sie verwundet, verzweifelt, hoffnungslos von der Front kamen? Oder weil wir unseren spießigen Dämon Hitler angehört haben, ihm auf den Leim gegangen sind? Weil wir alle Andersdenkenden umbringen ließen? Weil wir den Slogan: „Willst Du nicht mein Bruder sein, schlag' ich Dir den Schädel ein!“ geduldet haben?
Als wir Großmütter herauskrochen, räumten wir die Trümmer weg. Dann bauten wir - mit Greisen und Kindern (die Männer wurden in Gefangenschaft festgehalten) aus Trümmersteinen neue Häuser. Als die Männer endlich heimkamen, sahen sie ihre Frauen und Enkelinnen stark-gestählt, selbstbewusst, erfolgsicher. Vor allem entschlossen, die Kinder sollten es besser machen, nie wieder so rein fallen. Lasst Euch nicht ducken! Strebt nach oben! Verdient Geld, redet laut mit! Alles, was wir versäumten muss euch in Zukunft in den Schoss fallen! Und sie erreichen, die Enkelinnen, dass sie gleichberechtigt sind. Sie erreichen auch, dass Vater Staat sich ihrer Kinder annimmt, wenn der Mann ausschert oder wenn er gar nicht erst Lebensgefährte sein wollte.
Die Ehe ist ja kein Hafen mehr - eher eine Fortbildungsstation, wo man lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Schlauen haben es schon vorher gelernt. Sie stehen mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. So kommen sie nicht dazu - wie einstens - als Leserinnen und Urteilerinnen die Zeitströmungen zu beeinflussen.
Diese Frauen von einst brachten was sie lasen auch unter die Leute. Sie waren still, bescheiden, geschäftig, unscheinbar. Doch beeinflussten sie die Literatur - damit wiederum ihre Männer. Nun haben sie alles erreicht: Freizeitgestaltung, Kinderhorte und -gärten, Mutterschutzgesetz, Zulassung zu allen Berufen (fast). Doch was ihnen fehlt, den jungen Erfolgsfrauen, ist Freiheitgestaltung. Die Freiheit alles zu können und zu haben, fernzusehen, mitzureden, im Computer austüfteln und errechnen zu lassen, was sie wollen, zu speichern, um ihr Gedächtnis zu schonen.
Ihre Kinder haben Kassetten, Gutenachtgeschichten per Konserve, wie Musik. Nun konnten sie mit ihrer Freiheit, die so hart erkämpft wurde, etwas anfangen. Doch es fehlt ihnen die Muße, die Dämmerstunde, die Erfordernisse eines alles bewältigenden Familienmutter, Chauffeuse, Geliebten und Berufspartnerin, die Wochenendfahrten mit Staus und die Urlaube mit festen Buchungen und Terminen - alles hat sie so vereinnahmt, dass ihr die innere Ruhe für ein Buch fehlt.
Beruflich ist sie noch dazu oft gezwungen, Bücher durchzustudieren. Es ist keine Entspannung. Joggen ist besser, oder Bräunungsstudio. Und lesen nun die Männer mehr? Sie gleichen sich ja in vielem immer an, an das andere Geschlecht, das ebenso starke? Kein Wunder, die weiblichen Hormone, die Mädchen von 14 und Frauen bis 80 nehmen, fliegen ja überall herum - in Pflanzen, im Boden, im Grundwasser, in Bäumen, am Strand, im Meer. Sie müssen sich ja - seit Jahrzehnten regelmässig genommen - allmählich in der Umwelt verteilt haben. Männer nehmen sie also irgendwie, irgendwo mit auf. Sie tragen ja auch Hosen mit je einer Pfingstrose (verschiedene Farben, wie bei den Landsknechten) auf dem Schenkel und Goldplättchen überall, wo sie es nur blitzen lassen wollen.
Vielleicht lesen sie wirklich mehr? Das Äußere macht es ja nicht. Jedenfalls sehnen sie sich sicher auch nach einer Kuhhaut zurück, auf der wenig Platz zum Schreiben blieb. So musste man feilen, kürzen und überdenken. Die Bücherschwemme macht mutlos. Dabei sind wir heute orthografisch auf der Höhe, wie nie zuvor.
Selbst die faulsten Schulkinder lernen eifrig richtig schreiben und lesen. Sie wollen ja unbedingt bald einen Computer haben, der für sie den Sklaven macht; rechnet, spielt, kämpft und erfindet (innerhalb seiner Möglichkeiten). Wir haben keine Analphabeten mehr. Wir haben viele Halbgebildete. Meine Mutter sagte: „Meide die Halbgebildeten - sie haben das Denken verlernt.“ Und sie sagte auch: „Quark erhärtet nicht - er tritt sich bloß breit.“
Ich sehe doch einen Hoffnungsschimmer für unsere Literatur im Dornröschenschlaf: Einer meiner Enkel pflegt sich, indes die Anderen draußen auf Rädern, Inlinern, Rollschuhen herumfegten, in eine dunkle Ecke um ein Buch zu ringeln, wie eine Katze mit ihrem Jungen. Ruft man ihn, um zu helfen, kommt er gelaufen. Die Muskeln sind ihm ohnedies steif geworden. Doch dann nimmt er die Sichel und legt los - und er hat sie am falschen Ende angepackt. Erste Hilfe tut Not. Seine Seele war noch nicht nachgekommen!
Schuld an der Misere ist die Technik, die über uns hereinbrach. Was war sie für ein flotter Freier, der, mit den Siebenmeilenstiefeln des Fortschrittes unsere Kultursparten überrumpelte! Zuerst kamen die Wissenschaften dran. Aus der Ehe gingen Sprösslinge hervor, die Spezialisten hießen. Sie waren vollkommen - in ihrem einzigen Fach. So vollkommen, dass sie sich Scheuklappen anlegten. Wie die Vorgartenzwerge standen sie in ihrem Revier und lugten nicht über den Gartenzaun. Sie waren, mit ihren Laboratorien, zu allem fähig - selbst einen Nobelpreis (im Team) zu gewinnen. Diese bleichen Knaben - wie aus Picassos blauer Periode -fingen an, die Wissenschaften zu „befruchten“. Und so ging es mit der Ehe der Technik mit allen Kultursparten. Jeder, der flott schreiben konnte, schrieb. „Ich habe so viel erlebt, ich mache ein Buch daraus“. Sie waren Wort-Spezialisten und hatten journalistische Talente. Und damit sind wir bei den Medien, bei Film und Fernsehen angelangt.
Ich höre die Kulturreferenten und Kulturtourismus-Experten- rufen: „Die Medien machen unsere Literatur kaputt!“ Doch gerade da sehe ich den Silberstreif am Horizont. Denn, wenn wir auch Scharen von „Scriptern“ haben - Spezialisten in ihrem Medienfach - es geht nicht ohne Dichter. Ihn sucht der Film, vor allem das Fernsehen, das ja täglich Futter braucht. Bei Tag und bei Nacht, wie das Vieh muss es betreut werden (Ich glaube Karnickel fressen auch die Nacht durch?). Denn so geschickt die Scripter auch ein Thema bearbeiten. Sie sind Trittbrettfahrer. Und - auf lange Sicht also - brauchen wir hier wirkliche Dichter. Welch ein weites Feld - würde Fontane schmunzelnd sagen! Natürlich bemächtigen sich die Filmschreiber auch der großen Romane (oder Rosemarie Pilchers). Nur der erste Wurf muss von einem Dichter gemacht sein. Das Handwerk können dann die Schreiber machen. Darin sind sie großartig. Sie haben gelernt, optisch zu arbeiten.
Doch einer Bandwurmserie ist kein Dichter gewachsen. Er kocht mit seinem Hirn den ersten Brei. Doch dann müsste er - wie in Grimms Märchen vom Hirsebrei - aus dem selben Topf immer mehr Brei produzieren. Er schwillt ja nicht von allein -und läuft über Treppen und Hof, durch alle Gassen. Spätestens beim zweiten oder dritten Themenbearbeitung seines ersten Wurfes, wirft der Dichter das Handtuch. (Wir drücken uns gern sportlich aus). Dann kommen die fleißigen Ameisen und machen weiter. Und am Ende wird es ein Flop. (Tut mir Leid - amerikanischer slang ist unschlagbar in manchen Gebieten.) Ich bin Übersetzerin und hasse Fremdworte, Lieblingskinder unserer Politiker und aller Zeitschriften.
Dichter heraus! Wagt Euch vor. Niemand als ihr ist imstande. Ihr, mit eurem speziellen Hirn-Herz-Verdauungskanal, ein Luftgebilde aus nichts, als Erfahrungen und Beobachtungen, zu machen, das wie ein festes Haus, mit „vier Säulen und solidem Dach“, Millionen von Lesern einläd, sich darin mit lachen, weinen, bibbern vor Spannung, schluchzen und sich behaglich dehnen zu unterhalten.
Dies Gebilde, das innen, auf der Netzhaut des Dichters entstand, geht um die Welt. Und das wird immer so bleiben. Es können gar nicht genug Dichter geboren werden. Ich walke einen Hefeteig gern mit der Hand. Wenn er dann geht und schwillt, forme ich ihn zu einem anmutigen Embryo. Letzthin dachte ich dabei: Wäre ich nun eine junge Frau, die gerade abgetrieben hat? Wie würde ihr wohl beim Formen? Gerät nicht etwas mit in den Teig? Es könnte ja - hätte es gelebt - ein Denker oder Dichter geworden sein! Ein Dichter(in), der wie ,,Balzac oder Galsworthy oder die Brückner, seine Generation und ihre Probleme (mit seinem speziellen Ferment in eine Form gießt, die wir alle wie einen Becher Wein austrinken. Ich sehe noch mehr Lametta - würden die Studienräte sagen - am Literatur-Horizont. Da hockt unser braver Michel, mit hängender Zipfelmütze auf der riesigen Müllhalde. Er lugt hinunter den Sumpf, darin es von Industrie- und Umweltgiften, Hormonen und Gülle gurgelt. Doch - aus diesem Morast da unten ist ein Keimchen aufgestanden und zum Baum geworden, einem kräftigen Baum, viel verzweigt und gut verwurzelt. Das ist der Umweltschutz - darin sind wir ja Vorreiter in Europa. Nirgends gibt es schon so viele Kläranlagen als bei uns. Nirgends so viele „spezialisierte“ Müll-Container. Michel kann seine Mützenspitze ruhig aufstellen.
Wir wollen - und unsere Kinder und Enkel lernen es wie die Verkehrsregeln, sehr früh - saubere Wurzeln! Warum sollten wir - da wir auch so gute Naturfilme und Tierfilme im Fernsehen haben (warum sponsert der Staat nicht Dokumentar- und Naturfilme anstatt das den Bierbrauereinen, der Schnaps- und Pharma-Industrie zu überlassen?) - nicht auch mit neuen Denkwurzeln arbeiten?
Der nächste große Krieg wird wohl um Trinkwasser gehen. Niemand anders als unsere Wälder halten das lebensnotwendige Wasser mit ihren Wurzeln fest. Ohne die Wälder hätten wir auch Erosion, Muren und Taifune. Also weniger Papier aus unseren Wäldern (denen überall auf unserer Erde) produzieren! Weniger Bücher wären vielleicht bessere! Da wir ja den Riemen enger schnallen müssen - die Steuerschraube sagt es uns deutlich - und mancher Not in das Angesicht schauen müssen, wäre es an der Zeit, statt Quantität, Qualität zu fabrizieren und zu lesen. In der Arbeitslosenschlange gäbe es ja noch Muße. Doch hört man hier eher Slogans wie: „Geld wäre genug da, man (wir) müssen es nur verteilen.“ „Die Gewerkschaften sollten die Maschinen zertrümmern, die uns das Brot wegfressen.“ „Sind es doch unsere Kinder, die wir mühsam erfanden, erbauten und vervollkommneten. Und nun fressen sie uns auf!“ Doch am Ende der Schlange, im Hof, sonnt sich Einer (oder Eine) und sinnt vor sich hin. Er sieht einen Grashalm, der in der Betondecke, die den Hof völlig einsargt, einen Spalt fand. Daraus schießt er munter hervor. Und der Eine denkt zurück an die bitteren Notzeiten, die er nur vom Hörensagen und aus der Literatur kennt. Wie schwer war es in den zwanziger Jahren! Arbeitslosigkeit (10 Mark rund pro Woche - auch für Familienväter), Selbstmorde, Pleiten, eine „Notverordnung“ jagt die Andere, die Weltwirtschaftskrise, tat das Ihre dazu. Und in dieser Notzeit entstanden Bücher, die gekauft wurden: Fallada: „Kleiner Mann was nun“, Trenker: „Glocken der Heimat“, Wiechert: „Das einfache Leben“, Ortega y Gasset: „Aufruhr der Massen“, Vicky Baum: „Menschen im Hote1“, Knut Hamsun: „Hunger“ konnte einem schlaflose Nächte machen, so realistisch war es. Diese Romane und zeitkritischen Werke „gingen“ . Sie wurden Erfolgsschlager. Die Dichter waren nicht im Notverordnungs-Chaos versunken. Geht der Eine nun nach Hause und schreibt einfach? Ein Zeitbild, ein Essay, einen Roman, einen Film? Vielleicht. Wenn er das richtige Ferment besitzt. Die Fantasie hat keinen Freiraum mehr? Presse, Hörfunk, Fernsehen, Infos, Handies - alles stresst uns. Ich denke, sie wird sich Freiraum schaffen können. Wenn sie nur wirklich schreiben will – so, wie der Leser sich Freiraum zum Lesen nimmt - wenn er einen stillen Zuhörer, das Buch, braucht.
Dienstag, 16. September 2008
Die Jugend meiner Großmutter
Erinnerungen 1890-1900
Ursula Synold von Schüz
Herausgeber Helwig ReidlEichendorffweg 6
58642 Iserlohn
H.Reidl@T-Online.de
Vorwort
Meine Großmutter Ursula hat mich in meiner Jugend mit erzogen. Ich wohnte mit meinen Eltern mit ihr in unserem Haus. Meine Mutter musste arbeiten gehen, so war ich Ende der 50er und Anfang der 60er Jahren viel bei meiner Großmutter (Sie starb 1967). In dieser Zeit muß sie für mich und meine Mutter ihre Kindheit beschrieben haben. Der Anfang fehlt leider. Ich denke, sie erzählte, dass ihr Vater Offizier gewesen war, der damals einen eigenen Burschen hatte, der ihn bedienen mußte.
H.R.
Koblenz
Die Offiziersburschen durften im Haus mit ihrem Herrn wohnen und wurden dort verpflegt. Meistens war jeder Bursche gerade von seinem Herrn begeistert und nahm dessen Interessen war. Auch wir Kinder liebten es, mit diesem Burschen zu spielen und mal sein Kommissbrot beißen zu können.
Mein Vater war groß und blond und lustig und voller Interesse, sehr beliebt bei Alt und Jung. Er hielt sich mehrere Pferde - eigentlich der einzige Sport, den es damals gab. Reiten und Kutschieren, außer der Jagd. Er war auch sehr musikalisch und sang schön und gern.
Es war bei uns zu Hause oft Besuch da, auch von den vielen Verwandten. Er hatte fünf Geschwister, meine Mutter hatte sechs Schwestern. Sie waren beide die Jüngsten davon. Daher gab es auch schon viele Vettern und Kusinen von uns, die zu Besuch kamen. Meine Eltern liebten lustige Geselligkeit und da mein Vater von seinen Eltern wohl reichlich Zulage bekam, konnten sie sich das gut leisten. Denn sonst war das Gehalt eines Oberleutnants recht bescheiden. Er war aber auch Brigadeadjudant, etwas das immer die fähigsten und gewandtesten Offiziere wurden. Alle mussten danach die rechte Hand des Regimentskommandeurs sein. Ich weiß aber nicht, ob es dazu eine Gehaltserhöhung gab oder ob nicht die Ehre allein der Lohn war.
Meine Mutter war die jüngste der sieben schönen Breithaupts aus Hannover, alles Mädels. Klein, zierlich, lebhaft, unternehmend, immer wieder oben auf war der Moment noch so erschütternd. Bis in ihr Alter war jeder von ihr entzückt, ob Mann ob Frau. Sie hieß Adele, wurde "Puschen" genannt. Sie war auch sehr geschickt und flink. Ich war die mittelste der Kinder, damals in Koblenz. Geboren waren wir noch alle drei in Hannover. Wir zwei Ältesten in der Gneisenaustraße, Richard geboren 1888, ich 1890, und Barbara 1892 in der Baedeckerstraße.
Von Hannover habe ich nur schleierhafte Erinnerung, an die Großmutter und dass ich im Kinderwagen zum zoologischen Garten gefahren wurde. An die Großeltern in Wolfenbüttel erinnere ich nur ein so großes Zimmer!
Zu unserem Haushalt in Koblenz gehörte noch die Köchin und die Kinderfrau. Die Wohnung war groß in der I. oder II. Etage. Jedenfalls gab es eine Treppe. Ich erinnere mich dreier Schlafzimmer mit roten Sonnengardienen, daneben der Elternschlafzimmer, auch das Burschenzimmer lag nach der hinteren Seite. Dort sollten wir eigentlich nicht hineingehen. Es gab einen langen Flur. Dort auf dem Fensterbrett stand der wunderschöne Christengel. Aber wir durften nicht dableiben, bis er hinausflog!
Von den Vorderzimmern sehe ich noch das Esszimmer vor mir. Nebenan war das Wohnzimmer mit einem "Twist", eine erhöhte Fußbodenstufe mit meiner Mutter Nähtisch am Fenster und davor ein Balkon. An dem großen Tisch in der Sofaecke spielten wir oft mit unserem Vater Würfelspiele und ähnliches. Neben diesem Zimmer war der Salon in hellrötlicher Seide, in dem wir Kinder wohl nur Weihnachten spielten. Dann kam unser Spielzimmer, Bärbchen und ich hatten jeder unsere Spielecke, ich hatte für meine Puppen zu Weihnachten einen geräumigen Schrank bekommen. Außer der Puppengarderobe passte auch mein rosagoldenes Teegeschirr hinein. Auch auf einen mit Veilchen bemalten, zweiwandigen kleinen Wandschirm war ich sehr stolz. Wir Schwestern spielten gern mit unseren Puppenkindern. Bärbchen war meist die Köchin und fragte mich "Nege(r)frau" ("Gnädige Frau") was sie einkaufen solle. Dann fuhren wir hintereinander unentwegt im Kreis herum, ganz in unsere Rollen vertieft. Manchmal musste auch unser Dackel schön warm im Wagen spazieren gefahren werden - er ließ sich das gern gefallen.
Zwei Sachen waren unser Kummer: Mittagessen - wir mochten nie aufessen und dann nicht nach Tisch ins Bett. Einmal haben wir uns ganz leise angezogen und sind aus der Wohnung geschlüpft, erst mit Herzklopfen. Waren wir doch nie allein ausgegangen.
Und dann sehr stolz und unternehmend. Ich sehe uns vor einem kleinen Verkaufsstand stehen und sehnlich wünschen, etwas kaufen zu können- wie die Großen - aber wir hatten ja kein Geld. Sonst war da nur ein grüner Platz mit einem grünen Zaun.
Wir waren kaum um die Ecke, als sie uns heim holten - wir waren drei und vier Jahre alt. Heute wäre das ganz natürlich, dass so kleine Kinder allein auf der Straße sind, aber damals war es für so behütete Kinder ein großes Abenteuer.
Am Rheinufer gab es einen Garten mit einer Pergola voll Weintrauben, dorthin wurden wir fast jeden Nachmittag geführt. Dort kamen oft Kinder zum Spielen. Ihre Eltern wohnten dort ganz nah. Sie waren mit meinen Eltern befreundet. Sie hießen von Hillern. Dort waren lauter Häuser, die in Gärten lagen.
Oft sahen wir auch zu, wenn die Pontonbrücke - aus ineinander geschobenen Holzbooten mit einer Planke daran - geöffnet wurde, wenn Schiffe weiterfahren wollten. Sie führte hinüber nach Ehrenbreitenstein.
Oft auch wurden wir oder einer von uns Kindern im Wagen mitgenommen, zur Fahrt am Rhein oder der Mosel entlang. Mein Vater kutschierte selbst und die Pferde waren jung und feurig. Ich weiß, meine Mutter hatte oft Angst. Aber die Pferde mussten ja immer bewegt werden, die Schimmel "Max und Moritz" und die Braunen "Liese und Lehne". Es war eine sehr fröhliche, sorglose Zeit. Alles schien gesichert und ohne Unterbrechung immer so zu bleiben.
Das Reich stand gefestigt, trotzdem unser Kaiser Friedrich nicht gesund schien, aber sein Sohn war ja auch schon erwachsen und schon Enkel da. Unser geliebtes Kaiserhaus blühte. Die Nachbarländer achteten uns, es war überall Friede.
Die Bürger waren zufrieden, und doch bescheiden und einfach. Keiner wollte Gleichheit für alle. So wie es war, war es von Gott gegeben. Jeder tat die ihm auferlegte oder ererbte Beschäftigung genau und nach bestem Können. Natürlich gab es Faule und Nichtsnutze, die in große Armut gerieten, aber nicht die Sucht, es so zu haben wie die wohlsituierten Bürger oder die Rittergutsbesitzer. Ein jeder Stand hatte sein Standesbewußtsein und wurde auch darin geachtet. "Schuster bleib bei deinem Leisten". Sie waren zufrieden und wollten gar keinen Luxus. Ein jeder Handwerker war stolz auf seiner Hände Arbeit und ein strenger Meister seiner Lehrlinge, die ihm nicht seine Ehre und Anerkennung vermurksen durften. Wie überall verlangte man Ehrerbietung und Höflichkeit von der Jugend, besonders von denen, die im Leben eine Stellung ausfüllten oder ererbten. Wie schön waren die Möbel, die so individuell und sorgsam und zweckmäßig gearbeitet waren. Es wurde damals liebevoll und mit eigenen Gedanken die Arbeit aufgenommen und so solide gearbeitet, dass sie für viele Generationen verwendbar waren.
Es gab in meiner Kinderzeit nur Petroleumlampen und Kerzen, es war solch trauliches Licht - beschien ja nur einen kleinen Kreis - aber gerade das regte die Phantasie an, dieses lebende Flammenlicht. Wie schön war ein Festsaal, nur mit Kerzen beleuchtet! Licht und Schatten spielte in den Augen und den seidenen Kleidern und der schimmernden Festtafel und trug zu der festlichen Stimmung bei und verschönte alles.
Die Familien, die einen gewissen Wohlstand hatten, hielten sich "Personal". Im kleinen die Magd und den Burschen und wie bei uns, die Köchin (das Hausmädchen oder die Zofe), die Kinderfrau und vom Hauptmann an außer der Hausburschen den Stallburschen. Zumeist brachten sie der Herrschaft allen guten Willen und Treue entgegen. Oft blieben sie mehrere Generationen in derselben Familie. Es war alles so verlässlich, es gab so viel ehrliche Leute - so selten Mord und Totschlag. Das junge, endlich wieder erstandene Kaiserreich gab Rückhalt und gute Zuversicht.
Doch ging es auch damals manchmal aus aller Sicherheit in eine ungewisse Tiefstimmung. Eines Tages wurde mein Vater ins Wohnzimmer getragen und auf das Sofa gelegt. Mein sonst so großer, kräftiger lebensvoller Vater lag blass und stöhnend, unsere Mami weinte und viele Leute standen im Zimmer. Es wurde viel geflüstert und immer sahen wir Tränen in den Augen unserer Mutter. Es war ein Herzanfall - ein Herzfehler, der wohl schon durch schweren Gelenkrheumatismus, den er als Schüler hatte, verursacht wurde. Meinem Vater wurde empfohlen in den Süden zu gehen.
Nervi
Er wurde beurlaubt und wir reisten nach Nervi, Riviera. Uns Kindern gefiel das sehr. Allein die vielen flinken grünen Eidechsen, die wir immer auf dem Weg ans Meer neben der Felswand sahen, waren ein schönes Erlebnis. Einmal kam ein deutsches Schiff. An Bord war der todkranke Kaiser Friederich. Er schickte seine Grüße seinem Offizier, unserem Vater einen weißen Rosenstrauß. Die Eltern waren viel mit Deutschen zusammen, Kinskis und Comptesse Bellagarde - fröhlich, wie meine Eltern beide gern waren. Es kam auch Vaters Schwester Anna und sein Bruder Hans.
Onkel Hans hielt am letzten Morgen Vaters Hand, wir wurden früh aus den Betten geholt und Vater segnete uns und sah uns so ernst an und unsere Mutter saß so weinend am Fenster. Wir wurden kaum wieder ins Schlafzimmer gebracht, wo wir drei Kinder zusammen schliefen. Richard fing gleich an mit der Eisenbahn zu spielen. Ich verstand das nicht. Es war doch alles so unheimlich und unser Vater starb doch. Ich sehe dann noch Vaters Bett und er ganz mit einem Türvorhang zugedeckt. Wir durften ihn aber noch einmal sehen. Ich verstand nicht, warum man ihm das Gesicht zudeckte, das musste ihn doch stören - es war wohl wegen der Fliegen, die nicht dahin sollten. Von unserer Abreise erinnere ich nichts.
Wolfenbüttel
Ich weiß uns nur wieder in Deutschland, in Wolfenbüttel, im großelterlichen "kleinen Schloss" neben dem großen Schloss im Park an der Ocker. Dort wurde unsere Schwester Jutta geboren. Das Schloss gehörte damals schon Tante Anna, Mutters Schwester. Im Park auf dem anderen Ufer der Ocker gab es einen Hügel mit einem Gartenhaus, das bunte Glasfenster hatte. Darunter gab es durch den Berg einen Gang, der uns verboten war zu durchkriechen - wegen Baufälligkeit - aber gerade das reizte uns und unsere Vettern, es zu erkunden.
Mit diesen Vettern, Karl-Ludwig und Werner waren wir doppelt verwandt. Ihr Vater war der älteste Bruder unseres Vaters - er hatte die Bank geerbt und das Parkgrundstück über der Ocker. Die Mutter war die Schwester unserer Mutter.
Mit den Vettern war es sehr lustig. Sie waren zwischen uns Älteren im Alter. Sie waren recht verzogen und erlaubten sich alles. Gestraft wurde nur der jüngere Werner. Der Älteste war der Verzug der Mutter. Unsere Mütter vertrugen sich nicht gut.
Die unsere wurde von allen geliebt und Tante Emma war neidisch. Sie ließ sich gern "Marquise" nennen und herrschte gern. Onkel Luis tat uns oft leid - aber recht hatte wohl Tante Emma, die flinkere und gescheitere von beiden. Sie hatte an Stelle unseres geliebten Gartenhauses eine große Villa - wir fanden sie protzig und ungemütlich.
Braunschweig und Blankenburg
Nach Koblenz wollte meine Mutter nicht zurück und sie suchte Wohnung in Braunschweig. Dort wohnte ihre älteste Schwester Helena. Ihr Mann war dort Regimentskommandeur von Brauchitsch. Wir sahen sie wenig. Die ältesten Cousinen waren erwachsen und hatten solch schönes, gepflegtes Zimmer. Man durfte nichts berühren und das verdross uns.
Auch Kusine Carla Wegner wohnte in Braunschweig. Eine sehr schöne, aber kühle Natur. Sie hatte ein schönes Haus zum bewohnen in der Wilhelmsallee. Es waren drei Söhne dort, mit denen wir nur wenig spielten. Carla war die älteste von Tante Lilly, die zweitälteste Schwester meiner Mutter. Ihr Mann war Kreisdirektor (Landrat) in Blankenburg Harz. In Blankenburg lebte auch meine Großmutter mütterlicherseits, Lina Breithaupt, eine liebe alte Dame. Sie trug immer ein Spitzenhäubchen auf dem Scheitel, werktags schwarz mit Veilchen, sonntags und festtags war es aus Goldspitzen, auch mit Veilchen. Sie war noch schön und geschmackvoll gekleidet, aber recht wunderlich geworden. Sie schenkte mir immer etwas. Ich erbte von ihr einen entzückenden eingelegten Nähtisch, halb rokoko - halb empire. Bei ihr bekam ich den ersten Unterricht, es kam eine Lehrerin dazu in ihren Salon. Aber das Lernen gefiel mir gar nicht, ermüdetete mich nur gräßich. Es war so heiß in Blankenburg.
Im Herbst zogen wir dann nach Braunschweig in die Adolfstraße, in eine Villa. Souterrain und Erdgeschoss. Unten waren die Wirtschaftsräume und Zimmer der Köchin und der Amme Alma. Oben war ein großes Esszimmer, meiner Mutter Salon. Ihr Schlafzimmer, unser Kinderzimmer, unser Mädelschlafzimmer - Richard hatte ein kleines Zimmer für sich. Es kam doch noch ein Kinderfräulein, Fräulein Bauch.
Ich sehe uns erwartungsvoll am Fenster stehen und ihre Ankunft erwarten. Wir nahmen uns vor sie zu ärgern, wir wollten kein Fräulein haben! Wir habe es ihr bestimmt nicht leicht gemacht. Sie war auch so höflich und mit ihrer langen Nase. Sie soll gesagt haben, als sie uns sah: "Das sind ja lauter Engelchen mit diesen blonden Löckchen." Sie musste mich zur Schule bringen, aber meist vergaß einer von uns beiden den Schulranzen. Einmal mussten wir, so will es Jutta aus dem Fenster beobachtet haben, meinen Puppenwagen mitnehmen - somit brüllte sie, dass Alma uns beschimpfte.
Ich bekam Klavierstunden und fand es unmöglich 3/4 oder 16/4 Takt zu begreifen, während ich gern mit den Tönen spielte.
Unser nächstes Fräulein war Fräulein Schrader. Sie liebten wir alle. Mit ihr spielte ich gerne Klavierstücke. Richard und Bärbchen brachten sie von ihrer Reise nach Gotha, zu Tante Marie, die Schwester meiner Mutter, die dort verheiratet war. Ihr Mann war Major, dort im Regiment von Beesen. Sehr unglaubwürdig kam mir vor, dass es in Gotha Licht gäbe, ohne Gas und Kerzen und Wagen, die auf Schienen liefen, aber ohne von Pferden gezogen zu werden! Es hieß "elektrisch"! In Braunschweig hatten wir in den Schlafzimmern Petroleumlampen, und eventuell Nachtlichter, in den Wohnzimmern Gasbeleuchtung. Ich sehe das wohlige, fröhliche Licht der kleinen Petroleumlampe, wenn sie Alma mit herunternahm in das große feuchtwarme Badezimmer. Sonnabends bekamen wir im Bad die Haare mit geschlagenem Eigelb gewaschen.
Unser Garten ging hinten bis an die Oker. Der Garten war herrlich zum Spielen. Richard bastelte dort viel zurecht. Mit Carl von Mausfeld setzten sie eine kleine Dampflokomotive in Gang - uns war das immer unheimlich. Carl war Bärbchens erster ernsthafter Verehrer.
Richard baute eine schöne Holzhütte mit Feuerstelle. Der Schornstein war aus Blechbüchsen zusammengesetzt und ging bis oben zur Mauer. Es wurden hauptsächlich Kastanienblätter verbrannt. Das qualmte fürchterlich, besonders in das Neubaugrundstück, worauf dann eine Beschwerde von dort kam. Der Kaffeeklatsch dort war zu stark gestört worden.
Richard war zart, besonders hatte er immer gleich Bronchialkatarrh.
Wir waren immer noch schlechte Esser. Heutzutage findet man unsere damaligen Portionen sicher groß genug. Meine Mutter bekam jede Woche einen Schock Eier (60 Stück) vom Land gebracht. Wenn wir im Garten waren, gingen wir zum Küchenfenster und die Köchin gab uns dann geschlagene Buttereier. Das schmeckte uns herrlich.
Jeden Tag nach dem Mittagessen mussten wir mit "Fräulein" eine Stunde spazieren gehen. Ich hasste es, es machte mich so schlapp. Braunschweig hat so dünne Luft. Erträglich war es nur, wenn wir durch Dinge die Zeit verkürzten. Wir sangen laut und mit vielen Versen alle Lieder, die wir wussten, mit Begeisterung: " Es braust ein Ruf wie Donnerhall (Deutsche Wacht am Rhein)", "Heil dir im Siegerkranz"
(1. Vers: Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands!
Heil, Kaiser, dir!
Fühl in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling des Volks zu sein!
Heil Kaiser, dir!)
wobei uns die „Wonnegans“ immer etwas "spanisch" vorkam. Weiter viele Volkslieder und Soldatenlieder.
Unsere Mutter war viel eingeladen. "Bei Hof" - so nannte man den Herzog und seine Umgebung im Schloss - gab es Marzipanplätzchen mit Emblem darauf. Die brachte Mutter uns mit und sie schmeckten beinahe wie etwas aus dem Himmel!
San Remo
Aber all das fröhliche Leben wurde abgelöst durch die Sorge um Richards ewige Husterei. Deshalb reiste meine Mutter wieder mit uns im Winter nach Italien, San Remo. Sehr interessant war die Eisenbahnfahrt durch die Schweiz. Die hohen Berge, die vielen Marterln und Heiligenbilder. Wir versuchten sie zu zählen und die Tunnels, das gab nach all der Sonne Nacht und dann dicken Rauch, so dass man kaum noch etwas sehen konnte. Auch die Tunnels versuchten wir zu zählen.
Der lange Winter in San Remo war herrlich. Schon allein das große Hotel. Allein dort die Warmluftheizung. Sie kam aus runden Gittern, die im Fußboden eingelassen waren. Wir trugen damals plissierte Hängerkleidchen. Wenn man sich nun auf die Löcher stellte, wurden sie wie ein Vorhang aufgebläht. Diese Vorführung machten wir gern, wenn neue Gäste kamen.
Auch hörten wir den italienischen Straßensängern, die oft vor dem Hotel spielen durften, ihre Lieder ab und ließen sie dann geschickt mit den buntseidenen Zipfelmützen, die sie hatten uns damit hören. Das brachte uns viel Schokolade ein. Aber besser noch schmeckte die Mandarinen frisch vom Baum und die Feigen, wenn sie dunkelblau und innen ganz rot waren. Wie viel Narzissen- und Veilchensträuße brachten wir von den Spaziergängen mit! Es war so interessant, in die am Berg liegenden Dörfer zu gehen. Dort gab es immer verlassene halb verfallene Winkel, aber mit Blüten überzogen. Wie stark rochen da die Geranien und Rosen! Herrlich am Strand zu spielen mit den vielen interessanten Steinen und Muscheln.
Dann gab es eine große Weihnachtsschau auf der Bühne im Saal und später den Karneval. Meine Mutter hatte solch blumengeschmückte Droschke gemietet und wir durften in unseren schönsten Kleidern und Spitzenhütchen auf dem offenen Verdeck sitzen und mit Schlangen werfen und empfangen. Und wie bunt geschmückt waren alle Straßen, hauptsächlich alles mit Blumen.
Fräulein Schrader gab uns etwas Schulunterricht und Richard musste für Latein zum deutschen Pfarrer gehen. Doch auch diese sonnige, frohe Zeit ging vorüber und unsere Wirtin, Frau Wülfing, lud uns zum Abschiedskaffee ein. Wir mussten ihr noch einmal vorsingen und bekamen dafür Schokoladengeld in Silber- und Goldpapier. Auch vorguckende Veilchen gab es.
Friedrich Rhoda
Nach Braunschweig gingen wir nicht zurück. Wir fuhren nach Thüringen, Friedrich Rhoda. Dort hatten wir zusammen mit Tante Marie und Tante Frieda, die schon Witwe war, und ihrer Tochter Ellen eine Villa Kade gemietet.
Die Waldspaziergänge gefielen uns. Tante Marie konnte so schon dabei von all den Sagen erzählen, besonders vom "Gottlob" so der Ritter sagte als er die Prinzessin aus dem steilen Berg gerettet hatte "Gottlob"!
Herzlich schmeckte das dort gebackene, dunkle Landbrot und der fette Thüringer Katenschinken.
Gotha
Dann zog meine Mutter nach Gotha, Gartenstraße 19 in ein schönes Haus. Dort mietete sie die I. und II. Etage. Dass Gotha so viele Jahre mein Domizil sein sollte, ahnte man damals noch nicht.
Sehr liebten wir "Onkel Helmuth". Er kam so oft mit seinem leichten Sportwagen und rassigen Pferden und nahm uns mit zum ausfahren. Auch konnte er mir so viel in unserem Rauke Geschichtsbuch so anschaulich erklären.
Aber dann sollte er unser Vater werden und das ging mir gegen das Gefühl. Warum? Wir hatten doch unseren Vater gehabt! Nur Richard sagte gleich „ja“, obwohl meine Mutter sich scheute es gerade uns beizubringen.
Verlobung und Hochzeit war ja dann schön aufregend. Aber warum meine Mutter nicht wenigstens einen von uns auf die Hochzeitsreise mitnahm, konnten wir nicht begreifen. Wir waren "pikiert". Da halfen auch die wunderschönen Mitbringsel aus Paris nichts!
Aber unseren neuen Vater liebten wir trotzdem richtig innig.